Kitabı oxu: «Aufgreifen, begreifen, angreifen - Band 2», səhifə 2

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2 Nachruf auf Totgeburten: Bindestrich-Gesellschaften

Als die Baronin Thatcher noch regierte, konnte man regelmäßig hören, dass es Individuen und Staaten gebe und sonst nichts: »Ich kenne keine Gesellschaft.« Der digital konditionierte Verstand der gelernten Chemikerin duldete nur Eindeutiges, das heißt Zweipoliges: organisch oder anorganisch, basisch oder sauer. Politisch gewendet: privat oder staatlich. Nichts war ihr deshalb so suspekt wie die Zone des Dazwischen, zum Beispiel die gesellschaftliche Macht von Gewerkschaften. Die gesellschaftliche Macht von Privateigentümern an Grund und Boden, Produktionsmittel – kurz Kapital – entging ihr freilich.

Die Verachtung der Gesellschaft teilt Baronin Thatcher mit den deutschen Rechten, denen die Gesellschaft notorisch als Ausgeburt der Französischen Revolution galt und deshalb von Adam Müller bis Carl Schmitt gar nicht oder herablassend behandelt wurde. In den Köpfen der zeitgenössischen Publizisten und Wissenschaftler hat die Gesellschaft dagegen einen Stammplatz. Allerdings geht es heute nicht mehr um die Gesellschaft telle quelle, mit der sich die Theoretiker seit Comte, Hegel und Marx herumschlugen. Den heutigen Autoren hat es die Gesellschaft mit dem kleinen Unterschied angetan – die Gesellschaft als Kompositum.

Nach der Konjunktur der Bindestrich-Soziologien in den sechziger Jahren begegnet uns nun eine Inflation von Titeln, die zusammengesetzte Wörter mit Gesellschaft wie eine Flagge gehisst haben. Komposita zu bilden, ist ein Legospiel mit Begriffen: Erlebnis-, Auto-, Männer-, Konsum-, Zweidrittel-, Surfer-, Industrie-, Versöhnungsoder Kommunikationsgesellschaft. Die Gesellschaften-Inflation ist umso erstaunlicher, als substantielle gesellschaftliche Verbindungen zwischen Individuen in Vereinigungen, Vereinen, Clubs und so weiter überall von der Übermacht der herrschenden Verhältnisse bedroht sind. Staatliche, wirtschaftliche und mediale Großagenturen walzen gesellschaftliche Beziehungen platt oder unterwerfen sie von oben oder von außen, diktieren Spielregeln und Zwecke. Die Pointe: Die Konjunktur der Bindestrich-Gesellschaften läuft parallel mit der »Entgesellschaftung« der Realität und Vereinsamung vieler Menschen.

Weil das Ganze der Gesellschaft diffus geworden ist, greift sich jeder einen Teil und erklärt diesen im Handstreich zum Ganzen. Das ist zwar wissenschaftlich gesehen grobianisch, gereicht aber den Autoren zur Ehre, gemessen an der Zahl ihrer Veröffentlichungen. So erfahren wir von Saison zu Saison neu, in welcher Gesellschaft wir leben. Und weil es die marktwirtschaftliche Konkurrenz so will, existieren wir gleichzeitig in mehreren, sich nach Preis und Niveau gegenseitig über- und vor allem unterbietenden Komposita-Gesellschaften. Wo die einen noch auf die Arbeitsgesellschaft schwören, tummeln sich andere bereits in der Erlebnisgesellschaft; Ökologen beklagen noch die Wegwerfgesellschaft, während ein Professor schon in den Zug Richtung Reparaturgesellschaft umgestiegen ist.

Das Planungsdezernat einer Stadt schwärmt für die Vorturner der Dienstleistungsgesellschaft, aber im Kulturdezernat projektiert man lieber nach den Imperativen der Kulturgesellschaft. Oder auch umgekehrt. Ganz vorne marschiert wie immer die Harvard Business Review. Sie proklamiert die »post-capitalist society«. Die Grammatik erlaubt die Konstruktion beliebiger Komposita und – als deutsche Spezialität – deren fugenlose Verleimung. Womit das Wort Gesellschaft zusammengelegt wird, ist ebenso sekundär wie gleichgültig. Kein noch so dünner Gedanke nistet zwischen den Bestandteilen. Bis hin zum dreifach aufgepeppten Weißest-Schimmel der »zivilen Gesellschaftsgesellschaft« ist noch allerlei drin an product-design. Wir warten einstweilen auf Ulrich Becks »Na-und-Gesellschaft« als Ersatz für die angestaubte »Risikogesellschaft«. Ein paar akademische Prachtblüten sind im Folgenden zu besichtigen.

Was schlüsselte uns die »Informationsgesellschaft« besser auf als deren Verkleidung als »keyboard society«? Damit wissen wir zwar immer noch nicht, was das Getriebe zusammenhält und wovon wir Keyboarder leben, aber der Society-Designer Norbert Bolz hat den Durchblick: »Man trifft nur noch auf Benutzeroberflächen«. Die aufklärerische Warnung, Menschen niemals als Mittel zu betrachten, ist vom Tisch. In der »keyboard society« sind wir uns selbst und allen anderen gegenüber gleichberechtigte »Tasten« oder »Benutzeroberflächen«. Das Zeitalter »reflexiver Modernisierung«, das man uns ausmalt, fordert seinen Eintrittspreis. Offenbacher Professoren der Hochschule für Gestaltung trieben es bunter beim Fischen im Trüben. Sie angelten die Idee der »Schnittstellengesellschaft« von der Festplatte. Allerdings ist diese Gesellschaft vorerst mehr Wunsch denn Realität; der »Schnittstellengesellschafter« soll »schräg denken und handeln«. Warum hat man sie nicht gleich »Gesellschaft« oder »backslash society« genannt – kürzer, prägnanter und weniger deutsch, international verwertbar? Hinreißend fanden wir auf Anhieb die »ruderale Trittgesellschaft«, aber die Rückfrage bei einer kundigen Biologin klärte uns darüber auf, dass es sich dabei nicht um ein Pflänzchen aus dem Soziologengarten handelt, sondern um einen wissenschaftlichen Terminus aus dem Bereich der Geobotanik. Schade.

Besonderer Beliebtheit erfreute sich die »Zivilgesellschaft«. Die unbegriffene Gegenwart sollte gebannt werden im begriffslosen Wort. Kritisch gesehen war die »Zivilgesellschaft« eine Totgeburt, nur die Hebammen und Geburtshelfer wollten es nicht glauben und versuchten verzweifelt, dem Konzept Leben einzuhauchen.

Zur Herkunft: Mit einer Hand schöpfte man aus der amerikanischen Debatte um Autoren wie Charles Taylor, Michael Walzer und anderen über die Rekonstruktion der »civil society« angesichts von zerstörerischen und selbstzerstörerischen Trends in der US-Gesellschaft, Wirtschaft und Politik. Die als »communitarians« / »Gemeinschafter« bezeichneten Autoren erarbeiteten für die von Gesellschaftsauflösung bedrohten amerikanischen Zustände Rezepte, um das demokratische Gemeinwesen wiederzubeleben. Alte und neue normative Begriffe sind ihnen deshalb wichtiger als die Analyse der Gesellschaft. Mit der anderen Hand holte man sich die Argumente aus den Debatten unter Dissidenten im Osten, wo eine offene Gesellschaft erst aufgebaut werden sollte nach dem Untergang von Parteiherrschaft und Staatssozialismus. Die kommunistische Herrschaft akzeptierte – wie die Baronin Thatcher – nur Staat und Individuum. Die beiden Debattenstränge haben nur wenig gemeinsam und orientieren sich an grundsätzlich verschiedenen Verhältnissen, Problemen und Zielen. Die eilfertige Übernahme des Diskurs-Jetons »Zivilgesellschaft« war deshalb von Anfang an höchst problematisch. Obendrein spielten reale Interessengegensätze und wirtschaftlich-kapitalistische Zwänge, auf die jede Demokratisierung aufläuft, in der hochgradig ideologisierten deutschen Debatte praktisch keine Rolle.

Erst recht zum Rohrkrepierer wurden die historischen Anleihen, mit denen die Diskussion aufgepeppt werden sollte. Schon die Übersetzung von »civil society« mit »Zivilgesellschaft« ließ mehr schlechten Geschmack als historische Bildung erkennen. Wer käme auf die Idee, analog dazu, das »bellum civile« / »Bürgerkrieg« mit »Zivilkrieg« wiederzugeben? Drall-Deutschen fiel auch noch das Wort »Zivilheit« ein, obwohl das unübersetzbare italienische »civiltá« von seinem realen Kern »civis« / »Bürger« natürlich nicht abzutrennen, sondern nur im jeweiligen historisch-gesellschaftlichen Kontext einzulösen ist.

Alle Versuche, der »Zivilgesellschaft« mit dem Hinweis auf den alten Begriff »societas civilis« / »bürgerliche Gesellschaft« höhere Weihen anzudienen, scheitern an dem schlichten Tatbestand, dass die alte »societas civilis« bzw. »politiké koinonía« von Aristoteles bis zur Französischen Revolution mit der modernen Gesellschaft gar nicht, mit den zwischen Antike und Ancien Regime entstandenen diversen Staatsformen jedoch sehr eng zusammenhängt. Vereinfacht gesagt: Bis dahin war die »bürgerliche Gesellschaft« die Vereinigung der rechts- und politikfähigen Männer, virtuell der »Staat«. Soweit »Zivilgesellschaft« also auf die vorrevolutionäre »societas civilis« / »bürgerliche Gesellschaft« zielt und dort staatsfreie Räume ausmachen möchte, ist das Konzept nichts weiter als eine Projektion. Da taugt auch der Hinweis auf Adam Fergusons »Essay on the History of Civil Society« (1767) nichts, weil »civil society« dort fast durchweg den Staat meint und nur ganz selten auch das, was heute bürgerliche Gesellschaft heißt.

Mit der historischen Situation, in der die Debatte hier begann, hängen ihre politischen Implikationen zusammen. Der Chip »Zivilgesellschaft« diente Protagonisten mit unterschiedlichen, ja gegensätzlichen theoretischen Vorstellungen als Krücke. Die einen brauchten diese, um sich von ihren ehedem sozialistischen Vorstellungen ins Post-Stübchen westlicher Gemütlichkeit verabschieden zu können, weil sie nach 1989 mit jenen Vorstellungen nichts mehr zu tun haben wollten. Andere benützten die Krücke, um ihre überkommenen Vorstellungen kundenfreundlich aufzupolieren und sprachen vom »zivilgesellschaftlichen Sozialismus«, der nun an die Stelle des abgehalfterten zu treten habe.

Die gesellschaftlichen Realitäten und die ihnen täglich entweichende Gewalt haben das Konzept »Zivilgesellschaft« nun in den Orkus befördert.

3 Kriegs- und Bürgerkriegspropaganda

Dass wir als Tote Gleiche sind, darf nicht verlängert werden zur Vorstellung, dass jeder Tod gleich sei. Ein Skandal ist, wie Elias Canetti meint, jeder Tod. Aber das setzt Hingeschlachtete noch lange nicht gleich mit den – wie es heißt – »im Krieg Gefallenen«, und sei es als »Verteidiger« Gefallene. Für die meisten Kriege und für alle Bürgerkriege ist die Unterscheidung von – militärisch verstandenen – Angreifern und Verteidigern so ideologisch borniert wie jene zwischen guten und schlechten Nationalisten, guten und schlechten Faschisten, guten und schlechten Stalinisten oder guten und schlechten Nationalsozialisten. Es mag der zum Kriegsdienst eingezogene Landser so schuldlos sein wie nur denkbar, sein Tod ist nicht identisch mit jenem von generalstabsmäßig oder durch marodierende Soldatenhaufen ermordeten Zivili sten.

Und dass ein Gewehr ein Gewehr bleibt, unabhängig davon, wozu es gebraucht wird, darf nicht zur Vorstellung werden, dass jede Gewaltanwendung gleich sei. Pazifismus bedeutet nicht Gewaltlosigkeit à tout prix. Konsequenter Pazifismus muss Gewalt in Kauf nehmen – allerdings in klar bestimmten Relationen von politischen Zielen und Mitteln, in kalkulierbarer militärisch-politischer und humaner Verhältnismäßigkeit.

In welcher Relation politische Ziele, verwendbare Mittelarsenale und humane Verhältnismäßigkeit in der Konstellation des Bürgerkriegs auf dem Balkan stehen, hat bislang niemand klar dargelegt – weder von politischer noch von militärischer Seite. Von alldem unberührt zeigen sich berufsmäßig Alarmierte. Politiker und Talker mit Flair fürs notorisch Falsche (»jetzt oder nie«) sowie fürs historisch Schiefe wie dem Vergleich der Belagerung bosnischer Städte durch die serbische Soldateska mit der nationalsozialistischen Vernichtung des Warschauer Ghettos. Selbst wenn der alternde Marek Edelmann solche Vergleiche anstellt, werden sie nicht stichhaltiger.

Die vom Krieg und Bürgerkrieg heimgesuchten Menschen benötigen vieles. Am entbehrlichsten sind Aufrufe. Den bedrängten und bedrohten Menschen hilft man nicht mit Aufrufen, sondern mit der Organisation von Hilfe, mit der Aufnahme von Flüchtlingen und mit der Mobilisierung der hiesigen Bevölkerung gegen die Regierungspolitik (zunächst des forschen Anerkennens, dann des allzu langen Abwartens). Rechtzeitige militärische Ultimaten, kombiniert mit einer intelligenten Einbindung der Medien, wie sie der französische General Morillon auf dem Balkan pflegte, haben den Menschen mehr und wirksamer geholfen als die Entrüstungsrituale hierzulande. Dagegen stumpfen die dramatisierenden, brutale Bilder des Fernsehens noch überbietenden Parolen in der Presse (»Völkermord«, »Genozid«, »Warschauer Ghetto«) nur ab und bieten keinerlei Aufklärung über Krieg und Bürgerkrieg.

Was für ein Bild der Zustände haben in den letzten Wochen die Medien vermittelt? Aus trüben, restlos unüberprüfbaren Quellen kam die Meldung von Tausenden von Ermordeten in Gorazde (»von Leichen bedeckte Straßen, wohin man sieht«; »Blutbad in den Straßen«); ein verständlicherweise dramatischer Hilferuf des Bürgermeisters von Gorazde und ein paar andere Funksprüche wurden medial verstärkt. Als die Blauhelme endlich in die Stadt gelangen konnten, korrigierten sie die Opferzahlen zuerst auf 715 (Frankfurter Rundschau vom 26.4.94), dann auf 250 (Süddeutsche Zeitung vom 27.4.94). Das macht das Verbrechen der serbischen Soldateska zwar geringer, aber nicht tolerierbarer. Von höherer Warte erschallen die rechtfertigenden Gesänge: »Der britische UNO-General Rose ärgert sich über die bosnischen Muslime in Gorazde: Sie hätten die Zahl ihrer Toten und Verwundeten übertrieben ... In einer umzingelten Stadt breitet sich eine Psychose aus, die nach einer Weile auch zu verkehrten Vorstellungen über die Opfer in den eigenen Reihen führt; anders kann es nicht sein« (FAZ vom 29.4.93).

Statt aufklärender und gegenüber allen Quellen kritischer Information boten die Medien Bürgerkriegs- beziehungsweise Kriegspropaganda. Sie lieferten damit der serbischen Seite das Rohmaterial für die Durchhalteparolen und die Behauptung frei Haus, die westlichen Medien hätten sich gegen Serbien zu einer mit allen Mitteln kämpfenden Front verschworen. Und beim hiesigen Leser und TV-Zuschauer erzeugt man mit solcher Nachrichtenzurüstung keine Solidarisierung und Mobilisierung, sondern allenfalls Ohnmacht und Resignation. Übertriebene Schreckensmeldungen sensibilisieren das Publikum nicht für das, was passiert ist, und das, was dagegen getan werden müsste – also forcierte Hilfe, Flüchtlingsaufnahme, Verhandlungen und kalkulierte Androhung militärischer Gewalt –, sondern entmutigen es. Erst recht seltsam berührt in diesem Zusammenhang die Tatsache, dass die weit größeren Zahlen an Opfern in den Kriegen und Bürgerkriegen im Sudan, in Ruanda und anderswo nur kurzfristig in unsere Medien gelangen. Hängt dies damit zusammen, dass diese Schauplätze fernab Europas liegen, oder sollte für jene Opfer gar gelten, dass sie uns doch nur schwarze, ungleiche Tote sind?

4 »Volkstrauertag«: Normalisierung im Geist nationaler Verlogenheit

Geschichte ereignet sich zweimal – einmal als Tragödie, dann als Farce. Wird dieselbe Geschichte mehrfach erzählt, darf man sich wundern oder nach den Motiven fragen. Mit der Eröffnung der Neuen Wache als zentraler Gedenkstätte (»mies, medioker und provinziell«, Reinhart Koselleck) und einer Rede von B. Seebacher-B. zum Volkstrauertag werden die Bemühungen zur Begradigung der deutschen Geschichte erneut aufgenommen. So viel zum unausgesprochenen Teil der Motive. Der Rest spricht für sich selbst.

E. Nolte schrieb 1986 einen Artikel (FAZ 6.6.86), der zusammen mit Arbeiten von A. Hillgruber, K. Hildebrand und M. Stürmer den Historikerstreit auslöste. Dass es dazu kam, ist allein das Verdienst von Jürgen Habermas, der schnell und entschieden auf »die apologetischen Tendenzen in der deutschen Zeitgeschichtsschreibung« reagierte (»Eine Art Schadensabwicklung«, Die Zeit 11.7.86). Nolte hatte mit dem Titel seines Beitrags die Marschrichtung angegeben: »Vergangenheit, die nicht vergehen will«. Im Klartext: Wer verhindert, dass die Geschichte deutscher Verbrechen endlich mit der Geschichte und den Verbrechen anderer Staaten verrechnet werden kann? Ein historisches Clearing-Verfahren zwischen den nationalsozialistischen Verbrechen und jenen Stalins, Pol Pots etc. war angesagt. So frontal freilich stieg Nolte nicht ein, sondern wählte den aparten Weg über die Notwehr: Vor Auschwitz war der GULag, und deshalb handelten Hitler und seine Wehrmacht aus berechtigter Angst vor der »asiatischen Tat« präventiv, als die Sowjetunion überfallen und an und hinter der Front Millionen von Menschen umgebracht wurden; Stalin als Lehrmeister Hitlers, dem Nolte in einer die neudeutsche Ideologie präzis charakterisierenden Bemerkung nur nachträgt, dem Repertoire des Terrors den »technischen Vorgang der Vergasung« (FAZ 6.6.86) hinzugefügt zu haben. Auschwitz – ein Problem von Technik und Chemie. Die Debatte schlief bald ein, weil Nolte wissenschaftlich fundierte Einwände ignoriert und seine Thesen zum Holocaust so feinsinnig weiterspinnt, dass sie von einer Rechtfertigung nur noch mit einer Lupe zu unterscheiden sind.

B. Seebacher-B. sprach jüngst zum staatlich gehegten Volkstrauertag in der Frankfurter Paulskirche und wiederholte fast wörtlich Noltes Kernthese: »Dass nicht aufhören kann, was nicht aufhören darf, kann und darf nicht das Maß unserer Erinnerung sein« (FAZ 15.11.93). Es geht erneut darum, Risse und Gräben in der jüngsten deutschen Geschichte zu planieren, Opfer nationalsozialistischer Herrschaft zu allen übrigen Toten zu legen. 1989 »stellt alles auf den Kopf, was zuvor gültig gewesen ist und was nicht«. Das betrifft auch die neue allgemeine deutsche Friedhofsordnung: Tod ist Tod und tot sowieso. Dieses Mal regiert nicht ein chronologisches Mätzchen die Revision: nach dem alten Muster post hoc, ergo propter hoc, d. h. dem historistischen Trick der Verzauberung einer zeitlichen Abfolge in ein Kausalverhältnis, hatte es Nolte versucht; und auch nicht die notorisch alles mit allem verwechselnden und damit alles verniedlichenden Vergleiche, die seit dem Golfkrieg so beliebt sind, treiben die Autorin an, sondern die Gier nach »Normalität«. »Normalität heißt, ein Deutschland wollen, das seine Kraft aus der Gegenwart bezieht.« Eine ebenso geschmackssichere wie steinerne Dummheit gegenüber Toten, die wer weiß wo sind, aber nicht in der Gegenwart.

Zum Tod und zu Toten hat B. Seebacher-B. ein exquisites Verhältnis, das sie in den Augen der Organisatoren zur richtigen Festrednerin macht. Als vor einigen Monaten im Westteil der Republik Häuser angesteckt und Menschen verbrannten, fielen ihr dazu Sätze ein, die ihresgleichen suchen: Demnach hat man sich zu merken, »dass das Recht der Lebenden durch die Erinnerung an die Toten nicht aufgehoben und nicht einmal eingeschränkt wird. Im Leben eines Volkes ist es wie im Leben des einzelnen: Man muss sich selber achten, um andere zu achten und von anderen geachtet zu werden« (FAZ 28.1.93). Die Asche der verbrannten Türken war gerade erst erkaltet.

Den geraden Weg zur »Normalität« versperrten bislang ein paar Millionen Vergaste, in wissenschaftlichen Experimenten Ermordete, in der Haft Erschlagene, durch Zwangsarbeit Vernichtete, von Einsatzgruppen und Wehrmacht Ermordete, von furchtbaren Juristen in den Tod Geschickte. Diese sperrige Last sollte weggeschafft werden – dauerhaft und im Namen des »Volkstrauertags«. Das ist ein durch und durch verlogenes, in keine europäische Sprache übersetzbares Wort, das seine Entstehung (1923) dem Geist von Dolchstoßlegenden und seine Wiederbelebung (1952) dem bigotten Adenauer-Regime verdankt. Seine einzig stimmige und mögliche Übersetzung erhielt es 1934 von den Nazis, die aus dem heuchlerischen »Volkstrauertag« den »Heldengedenktag« machten. Sie sollen ihren Tag wiederhaben, jene, die nach der Rede von B. Seebacher-B. in der Paulskirche »Ich hatt’ einen Kameraden« anstimmten (FR 15.11.93).

Anderes als Ballast wegräumen wollte auch Nolte 1986 nicht, aber bevor ich auf die bemerkenswerte Reprise im Geiste der »Ideen von 1989« eingehe, lohnt sich ein Blick zurück.

Der Zeithistoriker M. Broszat forderte schon 1985 eine »Historisierung« des Nationalsozialismus. Er redete damit allerdings nicht einer verharmlosenden Einordnung der Nazi-Zeit und der Nazi-Verbrechen ins Kontinuum der Geschichte das Wort (wie neuerdings R. Zittelmann, K. Weissmann, G. Schöllgen u. a.). Im Gegenteil: Gerade wer auf der Einmaligkeit des Verbrechens industrieller Menschenvernichtung besteht, muss zwingend – um die Einmaligkeit begreifen zu können – historische Vergleiche anstellen, um das Geschehen im historischen Kontext zu verstehen. Dieses aufklärerische Unternehmen, kritisch verstanden und nicht apologetisch im Sinne jener, die das Ganze endlich vergessen machen wollen, richtete sich auch gegen die nur noch mit beschwörenden Chiffren und pathetischen Formeln operierende Redeweise über die Nazi-Verbrechen. Dazu gehören das raunende Herzitieren von »Auschwitz« bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit ebenso wie das immunisierende Gerede über »Singularität« oder »Zivilisationsbruch« (Dan Diner), das sich jedem rationalen Verstehen und Begreifen entziehe und entziehen solle.

Die im Historikerstreit kulminierende Debatte hat ihren Ursprung in der »geistig-moralischen Wende«, die Kohl 1981 programmatisch verkündete. Konservative Historiker und Publizisten entdeckten daraufhin, woran es den Deutschen angeblich besonders mangelte – an »Identität«, die einige bald »nationale Identität« nannten, womit dann jeder wusste, wohin die Reise gehen sollte. Sinn- und Identitätsbastler hatten von nun an Konjunktur.

Zum 30.1.1983, d. h. zur fünfzigsten Wiederkehr des Tages, an dem die bürgerliche Elite in Deutschland die Macht den Nationalsozialisten übergab, hielt H. Lübbe eine Rede im Berliner Reichstagsgebäude (FAZ 24.1.1983). Diese Rede markiert die konservative Trendwende mit dem Anspruch, die Nation wiederzubeleben, was freilich nur funktioniert, wenn gleichzeitig die Verbrechen, die in deren Namen begangen wurden, »normalisiert« werden. »Identität« und »Normalität« sind die Parolen, unter denen Ideologieproduzenten seither zum Halali blasen, weil Nation pur vielen noch zu schrill klang. Nach 1989 ist »Verantwortung« als Passepartout fürs Weltpolitische hinzugekommen. Im Namen der populistischen Dreifaltigkeit von »Identität«, »Normalität« und »Verantwortung« legen sie nun los, seit wir wieder »ein« Volk sind – von ganz rechts bis post-links.

Zwar gestand Lübbe ein, dass bis 1968 »im Schutz öffentlich wiederhergestellter normativer Normalität« von den Nazi-Verbrechen außerhalb wissenschaftlicher Zirkel kaum die Rede war. Geschichte und Erinnerung (gar solche an Verbrechen, an denen Hunderttausende deutscher Männer beteiligt waren) hätten Wiederaufbau und Wirtschaftswunder nur behindert. Flächendeckende Verdrängung bestimmte die politische Kultur, bis die Studentenbewegung das »kollektive Beschweigen« (Lübbe) nationalsozialistischer Verbrechen am Nierentisch ziemlich abrupt beendete. Lübbe plädierte 1983 für eine »gemeinsinnsfähige moralische und politische Normalität« als Sicherung für »die Immunität einer politischen Kultur gegen die totalisierende Machtergreifung ideologischer Heilsgläubigkeit«. Praktisch lief die Beschwörung solcher »Normalität« auf die Empfehlung hinaus, die Verbrechen gemeinsinnsfördernd Verbrechen sein zu lassen und sich im Übrigen »so einzurichten, dass, wenn auch diese Gegenwart schließlich Vergangenheit geworden ist, sie dem zustimmungsfähigen Teil der Vergangenheit zuzurechnen sein wird«.

Normalisierte Geschichte hat eine ziemlich späte Geburt. Die Normalisierung der Vergangenheit wurde gleichzeitig regierungsamtlich vorangetrieben. Kohl traf sich am 8.5.1985 mit Reagan im Konzentrationslager Bergen-Belsen und am gleichen Tag auf dem Soldatenfriedhof in Bitburg. Gewaltsamer wurde nie versucht, Täter – und dazu gehörten auch Wehrmacht, Reichsbahn und Verwaltungen, ohne die das System der Lager nicht funktioniert hätte – und Opfer symbolisch zusammenzuzwingen. Dazu passte, dass der damalige Fraktionschef der CDU/CSU, Alfred Dregger, der Öffentlichkeit seine Sicht des Zweiten Weltkriegs verriet: Er präsentierte sich als ein Ehrenmann, der am 8.5.1945 in Marklissa (Schlesien) nichts anderes als den Westen gegen den Bolschewismus verteidigt habe. Schneidig. Ins Deutsche übersetzt: Die alliierten Truppen, die Europa von Westen her von der Barbarei befreiten, fielen Dregger und seinesgleichen in den Rücken – mitten im Kampf gegen den Bolschewismus. Notorisch waren in jener Zeit die Zurufe des Vernunft-Atlantikers und Herz-Jesu-Nationalisten F. J. Strauß, endlich die »Büßerhemden« auszuziehen, um aus dem »Schatten der Vergangenheit« herauszutreten.

Stil und intellektuelles Niveau des übrigen Bonner Personals verschaffen dem Bundespräsidenten Weizsäcker einen Bonus, worüber er auch immer redet. Diesen Heimvorteil nutzte er trefflich mit seiner Rede zum 8.5.1985 und erhielt dafür viel Lob. Es gab jedoch in Weizsäckers Rede auch bedenkliche Stellen, etwa jene, in der er sich dazu verstieg zu behaupten, Hitler habe »das ganze Volk zum Werkzeug« seines Judenhasses gemacht und die industrielle Menschenvernichtung habe »in der Hand weniger« gelegen. Eine restlos trübe Passage war geeignet, den Revisionseifer der Historiker zu beflügeln: »Während des Krieges hat das nationalsozialistische Regime viele Völker gequält und geschändet. Am Ende blieb nur noch ein Volk übrig, um gequält, geknechtet und geschändet zu werden: das eigene, das deutsche Volk«. Die Deutschen als Opfer ihres eigenen Krieges? Wenn dem so wäre, gäbe es hierzulande nur noch Opfer. Weizsäckers abgründigen Satz verrät ein Webfehler: Die anderen Völker erscheinen gleichsam als Komparativ (»gequält und geschändet«), wir aber sind der Superlativ (»gequält, geknechtet und geschändet«). Die anständig zelebrierte präsidiale Trauer hat ein vermeintliches Super-Opfer im Hinterkopf, um das sie vor allem trauert – und demaskiert sich allein damit als verlogen.

Von Gustav Heinemann wissen wir, dass er seine Frau liebte, seine Kinder und seine Freunde, aber nicht den Staat, das Land oder gar die nation introuvable. Nach 1989 und speziell bei B. Seebacher-B. ist das natürlich ganz anders. Nichts findet sie süßer als den Traum, auch hier wieder einmal mit »Trauer« und Horaz’ obligatem »Stolz« vor einem jener meist grässlichen Kriegerdenkmale stehen zu dürfen, die man tatsächlich in jedem französischen Nest antrifft und auf denen für 1870/71, 1914/18, 1939/45, 1946/54, 1958/62 unentwegt »pour la patrie« gestorben wird. »Die« Franzosen brauchen den Firlefanz nicht. Aber die französischen Regierungen jeder Couleur beherrschen die Klaviatur des nationalistischen Pathos, mit dem man je nach Lage der Dinge gegen Einwanderer aus dem Maghreb, »boches«, Maastricht oder die deutsche Bundesbank mobil macht, um von der hausgemachten Misere abzulenken. B. Seebacher-B. nimmt den versteinerten Schwachsinn (mort pour la patrie) als Vaterlandsliebe ernst, »ohne die nichts oder nicht viel gelingen und kein noch so großer Geldtransfer Wirkung zeigen kann«. Als Frau hat sie eine etwas größere Chance, sich an Heldengedenktagen vom süßen Traum an tote, aber virile Kerle durchschütteln lassen, während man als Mann aller historischen Erfahrung nach halt nur zu jenen gehören dürfte, die im »Ernstfall« bereits von unten her zuschauen, wie die oben wieder einmal auf »Volkstrauertag« machen.

Aber wir sind dankbar: Seit uns K. H. Bohrer während des Falklandkrieges der Baronin Thatcher daran erinnerte, woran es uns Schlappschwänzen gebricht (»höheres Ethos, letzte causa und brinkmanship«), haben wir derlei nicht mehr gelesen, nicht einmal in der FAZ, die uns anlässlich des Golfkriegs »härtere Zeiten« (16.2.91) androhte.

Aber das ist nur der harmlose Anfang des Volkstrauerspiels. B. Seebacher-B. rückt den Toten und den Lebenden direkt auf den Leib, vor allem aber dem Volk, das seine »innere Einheit, die zeitlos ist und anderes bedeutet als die Angleichung von Lebensverhältnissen«, einfach vergessen hat. Kaum aus der Volksgemeinschaft der Nazis und der Zwangskommune DDR entkommen, verleugnet doch dieses deutsche Volk (nebenbei: eine sehr zeitgebundene Erfindung von 1813), unter der »geistigen Herrschaft« des Antifaschismus (Globke, Oberländer, Filbinger, Kiesinger e tutti quanti?) die »innere Einheit«, die vor allem deshalb den Stempel »zeitlos« verdient, weil es sie gar nie gegeben hat. Mit der Verabschiedung vom Trugbild Nation und Volksgemeinschaft sind die BRD-Deutschen nicht etwa normal geworden nach ihrem Horror-Trip seit 1871, sondern haben sich ein »Ausnahmebewusstsein« zugelegt, »das uns noch heute wie Blei auf der Seele liegt und nicht nur die Selbstvergewisserung nach außen behindert, sondern auch nach innen«.

Spätestens mit dem Blei wird die Sache ernst, denn dabei denken wir eher an die Millionen Toten, denen das Blei vielleicht auch »auf der Seele liegt«, aber mit Sicherheit vorher den Körper zerfetzt hat. Die Normalität, die B.Seebacher-B. beschwört, ist ganz anders: »Stolz«, »Vaterland«, »Härte« und – mit »Blei« und der Logistik von Verteidigungsminister Rühe – »Selbstvergewisserung nach außen«. Von der wilhelminischen Parole vom »Platz an der Sonne«, mit der man Bürger und Proletarier nach 1900 verblendete und zu Hurra-Patrioten machte, steigen wir jetzt um ins Kanonenboot »Seebacher-Rühe« und brechen auf zur »Selbstvergewisserung nach außen«.

Der Antifaschismus, der nicht illegitim wurde, weil ihn die SED als Herrschaftsmittel und Staatsideologie instrumentalisierte, verleitete nach B. Seebacher-B. die westlichen Sonderweg-Deutschen zum Grübeln über die Vergangenheit und obendrein dazu, »sich am eigenen Unglück zu weiden«. Statt forsch loszumarschieren und »sich auf Sinn und Zweck des Ganzen zu verständigen«, um nach innen und außen »Selbstvergewisserung« zu betreiben, »klammert man sich« hausbacken an Antifaschismus. Die Antifaschisten verhindern also direkt, dass es mit der Finanzierung der Einheit vorangeht; sie sind verantwortlich dafür, dass »nicht gelingen kann, was nicht gelingen darf«, wie sie noch einmal – in direkter Anlehnung an Nolte – formuliert.

Über einen zwanzigzeiligen Abschnitt, in dem B. Seebacher-B. sechs Mal mit dem Begriff »Normalität« herumfuchtelt, kann ich gar nichts sagen, außer dass ich ziemlich froh bin, nicht zu den Normalen zu gehören, denen der syntaktisch vertrackte und total-normale Rat gegeben wird: »Wer sich nicht als Deutscher fühlt, wird nie lernen, ein Europäer zu sein und der Welt zugewandt«. Albaner, Finnen und Portugiesen sollen bereits wie verrückt Deutsch lernen, Le Monde, Times und der Corriere della Sera erscheinen ob dieser Drohung ab sofort in deutscher Sprache, damit deren Leser nicht ausgebürgert werden aus dem Seebacher-B.-Europa.

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