Kitabı oxu: «Was Menschlich Ist»
Sebastian Kalkuhl
Was Menschlich Ist
Sebastian Kalkuhl wurde im September 1996 geboren und macht ungefähr seitdem kreative Dinge. Als Jugendlicher legte er sich aufs Schreiben fest und arbeitet seit 2011 am #engelcontent-Universum. Wenn er sich nicht mit widerspenstigen Charakteren herumschlägt, studiert er hauptberuflich Gehirne und baut in seiner Werkstatt Schwerter.
Sebastian lebt und arbeitet zusammen mit zwei Hunden und mehreren Dutzend Plüschtieren am Rande des Ruhrgebiets.
Vom Autor erschien bislang auch im Selbstverlag:
Was Richtig Ist
- Das erste Buch im engelcontent-Universum -
Sebastian Kalkuhl
Was Menschlich Ist
Epubli Selfpublishing
Impressum
Texte:
© Copyright by Sebastian Kalkuhl
1. Auflage 2021
ISBN
Umschlaggestaltung und Grafiken:
© Copyright Raphael Vaerkhaos
vaerkhaos.art
Layout und Satz:
Sebastian Kalkuhl
mit freundlicher Unterstützung von:
Raphael Vaerkhaos
Verlag:
Sebastian Kalkuhl
Unnaer Straße 7
59439 Holzwickede
sebastian.kalkuhl@storage42.de
Druck: epubli – ein Service der neopubli GmbH, Berlin
Für alle,
die noch auf der Suche nach sich sind
Teil 1
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1
Chris
25. Oktober
Erde
Die Straße stand unter Wasser. Tapfer kämpfte sich der Bus durch den Sturzregen, während die Scheibenwischer auf Hochtouren arbeiteten und trotzdem nur gerade genug Sicht zum Fahren ermöglichten.
Von seinem Sitzplatz aus konnte Chris kaum mehr als eine monotone Wasserwand erkennen, hinter der sowohl Asphalt als auch Häuserfassen zu gräulichen Flecken verschwammen. Zwar mochte er sowohl Herbst als auch Winter, aber der Übergang dazwischen war mit Abstand die schlimmste Jahreszeit. Zusammen mit dem Regenwetter schlug ihm die farblose Welt zuverlässig aufs Gemüt.
Der Bus hielt. Mit einem Seufzen standen eine Handvoll Leute auf, darunter dem Anschein nach ein paar Schülerinnen. Chris wünschte ihnen Glück, dass sie halbwegs trocken nach Hause kamen, aber weder er noch sie machten sich da wohl groß Hoffnung.
Erneut warf er einen Blick auf sein Handy, gab sich einen Ruck und wählte bestimmt zum fünften Mal. Nichts, nicht einmal der Anrufbeantworter. Seinem Vater sah das gar nicht ähnlich.
›Glaub mir, ich will das heute auch nicht‹, dachte Chris grummelnd. ›Aber du könntest wenigstens rangehen, damit ich weiß, dass du mich nicht vergessen hast und ich gleich nicht ewig vor der Tür stehe.‹
Idealerweise dauerte das Treffen nicht einmal lange, denn Chris wollte lediglich die letzten paar Umzugskartons aus seinem alten Kinderzimmer holen. Sein Vater hatte ihm versprochen, beim Tragen zu helfen und die Kartons danach zu seiner WG zu fahren. Alles in allem eine Sache von vielleicht zwei Stunden unangenehmen Schweigens gemischt mit unbeholfenem Smalltalk, und dann mussten sie sich frühestens zu Weihnachten wieder sehen.
›Wir haben seit der OP nicht mehr gesprochen.‹ Der Gedanke spukte unablässig durch Chris’ Kopf. Die Narben auf seiner Brust heilten zwar gut, und seit einer Woche musste er die verdammte Kompressionsweste nicht mehr tragen, aber schwere Kartons sollte er wenn möglich noch nicht heben. Deswegen hatte er mit dieser Sache eigentlich noch warten wollen, aber sein Vater war Manager mit einem Terminkalender, der förmlich nach einem Burn-Out verlangte, und gönnte sich in den kommenden zwei Monaten anscheinend keinen einzigen freien Nachmittag. ›Der Stimmbruch hat ihm ja schon nicht wirklich gefallen. Aber gut. Wenn er immer noch ein Problem mit mir hat, soll er selbst damit zurechtkommen.‹
Der Bus bremste abrupt ab, die Türen öffneten sich wieder und signalisierten Chris, dass er sich dem Draußen stellen musste. Am liebsten würde er sitzen bleiben und behaupten, er hätte verschlafen, die Zeit vergessen, oder spontan etwas Wichtigeres zu erledigen gehabt, aber davon bewegten sich die Kartons auch nicht durch die halbe Stadt.
Innerhalb von zwei Schritten durchnässte ihn der Regen fast bis auf die Unterhose. Missmutig zog sich Chris die Kapuze seines Hoodies über den Kopf, als würde das etwas bringen, und versuchte, in so wenig Pfützen wie möglich zu treten, damit er nicht in einem der zahlreichen Schlaglöcher ertrank.
Auf dem Weg wandelten sich die Mehr- langsam zu Einfamilienhäusern, die Fassaden von Grau zu Weiß und wild wachsende Büsche zu sorgfältig gepflegten Schlammlandschaften, die einmal Vorgärten gewesen waren. Statt am Straßenrand parkten die gehobenen Mittelklassewagen nun in geräumigen Garagen – nicht dass den teuren Fahrzeugen noch etwas zustieß. In den Fenstern hingen bereits Halloweendekorationen, Kürbisse, Spinnennetze, Skelette und Geister überall. Chris wettete, dass es in mindestens einer dieser Vorstadtvillen wirklich spukte. Jede gutbürgerliche Nachbarschaft brauchte einen Poltergeist.
Immer, wenn er hier war, fühlte er sich von ungefähr einem Dutzend Leuten hinter Küchenfenstern beobachtet. Chris gehörte so offensichtlich nicht in diese Gegend – er war zu trans, nicht hetero genug, hörte die falsche Musik und hatte sein Studium nach zwei Semestern abgebrochen, nur um eine Ausbildung mit »irgendwas mit Medien« anzufangen. Aber etwa seit seinem zehnten Geburtstag redeten die Nachbarn ohnehin konstant über seine Familie. Klassischer Autounfall, wenn es so etwas gab, seine Mutter war sofort tot gewesen. Ihr Ehemann hatte sich in seiner Rolle als alleinerziehender Vater zwar gut genug angestellt, um Chris erwachsen und aus dem Haus zu bekommen, aber zu mehr hatte es nicht gereicht.
Er bog in eine Einfahrt und vergewisserte sich, die richtige Hausnummer erwischt zu haben. Die Häuser sahen sich zum Verwechseln ähnlich.
›Ich könnte auch einfach wieder gehen‹, dachte Chris und diskutierte mit sich, wie sehr er diese Umzugskartons wirklich bei sich haben wollte. Mit jedem Schritt wurde ihm schlechter und eine unterschwellige Angst machte sich in seiner Brust breit, die ihm unmissverständlich nahelegte, nach einer Ausrede zu suchen. Zu Schulzeiten war ihm ständig so zumute gewesen, doch diese Intensität kannte er nicht.
Vor der Haustür blieb Chris stehen und zögerte. Der Drang zu rennen ließ sich nun nicht mehr ignorieren, ebenso wie das Bedürfnis, sich neben den Briefkasten zu übergeben. Instinktiv tastete er nach dem silbernen Anhänger um seinen Hals – das einzige Erbstück seiner Mutter, das er immer noch besaß –, sammelte Mut, und blieb am Ende doch wieder still stehen. Das konnte doch nicht wahr sein.
›Komm schon. Wenn du dich an Weihnachten krank stellst, bist du dieses Jahr zum letzten Mal hier. Einmal musst du dich noch zusammenreißen und dann ist gut.‹
Chris klingelte mit unterwältigendem Ergebnis, denn nichts passierte. Mit zitternden Fingern kramte er seinen alten Haustürschlüssel aus der Hosentasche und trat ein. Innen herrschte eine so drückende Stille, dass sie selbst den Regen draußen übertönte.
Der Eingangsbereich bestand aus kalkweiß tapezierten Wänden, einem minimalistischen Schuhregal, einem leeren Garderobenständer und einer stereotyp grauen Fußmatte, auf der Chris wie angewurzelt stand und es nicht einmal wagte, sich die nassen Haare aus der Stirn zu streichen. Es kam ihm vor, als sollte er einem strengen Protokoll folgen, von dem er noch nie gehört hatte.
Er räusperte sich so geräuschvoll, dass er fast einen Hustenanfall bekam. »Jemand zuhause?«
Zuerst passierte nichts. Dann bewegte sich eine dunkle Gestalt schleichend langsam aus dem Wohnzimmer in den Flur. Sie sah aus wie ein Mensch, aber Chris spürte instinktiv, dass es keiner war. Rubinrote Augen starrten ihm entgegen, ein glänzender Blutfleck zierte die rechte Wange, zwei staubig blonde Haarsträhnen rahmten das wie aus Marmor gemeißelte Gesicht. Ein surrealer Glimmer machte es übernatürlich schön.
Der Fremde trug einen langen schwarzen Mantel, der den Rest seines Körpers scheinbar verschluckte, zwei Schatten ragten aus seinem Rücken. Als sein Blick auf Chris fiel, fror er mitten in der Bewegung ein.
›Du hättest rennen sollen‹, dachte Chris sofort. Alles Andere begriff er kaum, aber diese Tatsache konnte klarer nicht sein. ›Du hättest nicht zurückkommen dürfen. Nicht heute. Nicht jetzt.‹
Ohne den Blickkontakt zu brechen, wagte er sich einen Schritt rückwärts. Gerade, als er mit dem Rücken an die Haustür stieß, löste sich der Fremde aus seiner Starre, erreichte Chris innerhalb eines Augenblicks und presste ihn gegen die Tür, ihre Gesichter nur eine Handbreit voneinander entfernt. Der Fremde verzog keine Miene. Ein winziges Rinnsal Blut lief ihm die Wange herunter.
Chris hielt die Luft an. Der Griff um seine Schultern war so fest, dass er fürchtete, mit einem falschen Atemzug seine eigenen Schlüsselbeine zu brechen. Schmerz pochte unter den Fingern des Fremden, fraß sich gleichzeitig in sein Hirn, weil er den Blick nicht abwenden konnte, weil er nicht verstand, während sich die Sekunden zu einer quälend langen Ewigkeit ausdehnten.
Chris wollte nach dem Warum fragen, aber die Welt kippte, noch ehe er ein Wort herausbekam. Zuerst blitzte es gleißend auf, dann wurde ihm schwarz vor Augen, und dann gab sein Bewusstsein auf.
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2
Chris
25. Oktober
Hölle
Ohnmacht an sich war nie das Problem, sondern das Aufwachen danach. Eine beißende, sengende Hitze kroch Chris schon beim ersten Atemzug tief in die Lungen und schien ihn von innen heraus einäschern zu wollen. Er spürte sich auf rauem Fels liegen, der seine Haut bei der kleinsten Bewegung blutig schürfte. Wie achtlos weggeworfen. Seine Kehle fühlte sich an wie Schleifpapier, sein Hirn wie trockengelegt und er sich insgesamt, als wachte er aus dem längsten und schlimmsten Mittagsschlaf aller Zeiten auf.
›Wie lange war ich weg?‹ Mit Sicherheit eine der unwichtigeren Fragen, aber die erste, die Chris in den Sinn kam. ›Eine Stunde, einen Tag? Wie lange kann ein Mensch noch mal ohne Wasser überleben?‹
Mit größter Mühe überredete er sich, zumindest die Augen zu öffnen. Die Welt um ihn herum blieb schwarz. Erst nach mehrfachem Blinzeln gewöhnte er sich genug an die Dunkelheit, um wenigstens Graustufen zu erkennen.
Nichts an seiner näheren Umgebung kam Chris auch nur ansatzweise bekannt vor. Er lag mit dem Gesicht zu einer steinernen Wand, die von dunklen, gläsernen Strukturen durchzogen wurde. Links von ihm befand sich eine verschlossene Tür, entweder aus anderem Stein oder mattem Metall. Es gab weder Schlüsselloch noch Türklinke, noch irgendeinen Anhaltspunkt, ob sie sich überhaupt öffnen ließ, aber Chris fühlte sich in jedem Fall zu schwach, um es zu versuchen. Sein Körper verwendete alle Energie darauf, wach und so etwas wie am Leben zu bleiben.
›Kann ich bitte aufwachen?‹, dachte er. Die Hitze fraß sich unterdessen weiter durch seinen Körper.
Chris sammelte genug Energie, um sich aufzusetzen. Der Stein schürfte seine Handflächen blutig und er wollte vor Schmerzen schreien, brachte aber nur ein heiseres Krächzen heraus. Wenn er wenigstens etwas zu trinken hätte…
Er lehnte sich gegen die Felswand. Allein der Kontakt zum Stein zerriss den Stoff seines Hoodies fast vollständig, aber immerhin konnte er von hier aus besser sehen. Gegenüber von der Wand ging es nach ein paar Metern so steil bergab, dass der Boden scheinbar abrupt aufhörte. Dahinter befand sich eine weitläufige, einsame Ebene, die erst zu einer monotonen Fläche und dann mit dem Horizont verschwamm. Winzige Lichtpunkte flackerten dort unten, es mussten Feuer sein, aber Chris konnte weder Brennstoff erkennen noch sich erklären, wie sie allein für diese beißende Hitze sorgen sollten.
Das Land sah verlassen aus, tot, ausgedörrt. Eine Feindseligkeit ging von ihm aus, die Chris nicht verstand, dafür aber sehr wohl die Nachricht, dass er nicht hier hingehörte.
Etwas bewegte sich am Rand seines Gesichtsfelds. Chris fuhr zusammen, schürfte sich den Rücken noch weiter auf, und erkannte den Fremden jetzt erst neben sich. Der wiederum schenkte ihm keinerlei Beachtung, sondern ging wie automatisiert mit geräuschlosen Schritten stetig auf und ab. In der Dunkelheit glühten seine Augen wie Kohlen, erhellten seine Wangen und machten die schiere Anspannung hinter dem Glimmer sichtbar.
Chris wollte wütend werden, oder zumindest fragen, wo zur Hölle er gelandet war, aber er brachte die Kraft nicht auf. Stattdessen versuchte er, so unauffällig wie möglich zu bleiben, beobachtete den Fremden weiter und hoffte, nicht bemerkt zu werden.
›Warum macht ihm die Hitze nichts?‹, dachte Chris. Wieder nicht sein größtes Problem, aber wieder das Erste, an dem sich sein Hirn festbiss. ›Wie kann er hier herumlaufen, ohne dass er-‹
Der Gedankengang hörte mitten im Satz auf, als Chris’ Blick erneut auf die Umrissgestalten zwischen den Schultern des Fremden fiel. Flügel. Zwei mächtige, mit schwarzen Federn besetzte Flügel sprossen ihm aus dem Rücken.
›Engel.‹ Der Gedanke kam ihm so absurd vor wie die Umgebung. Sein Verstand hielt nur daran fest, weil ihm selbst mit Traumlogik nichts Besseres einfiel.
Ein kaum merklicher Ruck ging plötzlich durch den Stein und der Engel blieb wie versteinert stehen. Die Tür neben Chris öffnete sich ohne einen Laut von selbst und gab den Blick auf einen gleißend hellen Raum im Stein frei. Im Kontrast mit der Dunkelheit schien das Licht schmerzhaft intensiv.
Ein Teil von Chris hoffte auf Hilfe, während ein anderer, realistischerer längst akzeptiert hatte, dass die nicht kommen würde. Was auch immer hinter der Tür wartete, sein Hass war bis hierhin spürbar.
Jemand packte ihn am Kragen und zog ihn unsanft auf die Füße. Chris erkannte den Engel vor sich, der ihn mit beinahe angeekelter Miene festhielt und kaum eines Blickes würdigte. Im Lichtschein wandelte sich seine Anspannung nun zusehends zu Angst. Er schleifte Chris über die Türschwelle, ließ ihn zu Boden fallen und kniete im Anschluss nieder. Die Flügel pressten sich eng an seinen Körper, als versuchte er, sich so klein wie möglich zu machen.
Das Licht drang durch Chris’ ganzen Körper, seine Seele und sein Selbst, vereinnahmte seine Aufmerksamkeit, hielt seine Augen offen, obwohl es mit jeder Sekunde tausend Löcher in seine Netzhaut brannte. Etwas, jemand war mit ihnen hier, ein allumfassender goldener Schein, wunderschön und anziehend, abstoßend und verzerrt.
Auch wenn der Schmerz in seinem Körper nicht mehr relevant schien, wollte Chris ihn herausschreien und brachte keinen hörbaren Laut heraus. Erst vergaß er, dass er fliehen wollte, dann das Konzept der Flucht an sich. Seine Gedanken lösten sich auf, er spürte sich nicht mehr. Überall Licht, nur noch Licht, nichts als Licht und Abscheu und endlich Erleichterung, als ihn die Ohnmacht erneut holte.
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3
Dorian
25. Oktober
Hölle
Der Mensch sackte zu Boden, wahrscheinlich war er tot. Am Ende waren Menschen nicht dafür gemacht, die Präsenz eines Engels zu verstehen oder gar auszuhalten. Selbst Dorian fiel es manchmal schwer, die vollkommene Gestalt seines Meisters zu ertragen.
Das Licht dimmte auf ein erträgliches Maß herab und Luzifers Form wurde hinter dem Licht sichtbar. Sein Blick ruhte auf Dorian, hielt ihn zu Boden gedrückt und legte ihn offen wie ein Buch. Seine Stimme hallte Dorian mit seinen eigenen Gedanken durch den Kopf. »Du kannst gehen.«
Er nickte und beeilte sich, auf die Beine zu kommen, auch wenn Luzifers Aura ihm weiterhin das Knien befahl. Kaum, dass er stand, verfing er sich in seinem Mantel, stolperte rückwärts und prallte rücklings gegen die geschlossene Tür. Mit Mühe verkniff er sich eine gemurmelte Entschuldigung, schließlich sollte er längst nicht mehr hier sein, aber…
Die gesamte Szene zog seinen Blick wie magnetisch an. Bis jetzt hatte Dorian seinem Meister noch nie einen Menschen bringen müssen und hätte es auch heute nicht, wenn er nicht so verflucht unvorsichtig gewesen wäre. Anstelle zur Tür zu gehen hätte er einfach nur in die Hölle verschwinden müssen. Stattdessen hatte die Neugier gewonnen und flüsterte ihm nun erneut ins Ohr, wie sehr er insgeheim herausfinden wollte, was als nächstes geschah.
Von einem flimmernden Licht umhüllt hielt Luzifer den leblosen Körper des Menschen im Arm, murmelte unverständliche Worte vor sich hin. Dorian wollte sich damit zufriedengeben und endlich verschwinden, als sein Meister erneut die Augen öffnete. Ein goldenes, heißkaltes Glühen ging von ihnen aus, wie alles an ihm. Dämonen nannten ihn den Lichtbringer.
Die Neugier setzte sich durch. Dorian verharrte in seiner Position und schaute zu, wie Luzifer dem Menschen buchstäblich in den hintersten Winkel seiner Seele schaute, bis sich Schweißtropfen auf der Stirn des Engels bildeten. Nie hatte er auch nur ansatzweise so angestrengt ausgesehen.
›Was tut Ihr?‹, fragten Dorians Gedanken. Er wollte sich schlagen dafür. Hätte er das wissen müssen, wäre es ihm gesagt worden. Was war los mit ihm, warum stand er immer noch hier?
Ein Flügelschlag, das Licht zuckte flackernd durch den Raum. Dorian fuhr zusammen und stolperte rückwärts, als ihn eine Schockwelle erfasste und erneut an die Wand drückte. Seine Flügelspitzen schürften über den steinernen Boden, die empfindliche Haut riss auf und so sehr Dorian sich auch beherrschen wollte, er musste einen erstickten Schrei von sich geben.
Zwischen Tränen in den Augen schaute er wieder in den Raum hinein, obwohl er das schon längst nicht mehr wollte, und dieses Mal blieb ihm beinahe das Herz stehen.
Der Mensch in den Armen seines Meisters trug Flügel. Ungelenk und zitternd spreizte er sie in einem schmerzhaft anmutenden Winkel vom Körper ab, als könnte er kaum mit ihnen umgehen. Schwarze Federn umgaben ihn, die Dorian nur zu gut kannte, denn es könnten seine sein.
Mit einem erstickten Atemzug schlug der Mensch die Augen auf, blutrot statt braun. Die Haut sah blasser und glatter aus als gerade noch, wie sorgfältig aus Stein gemeißelt.
»Nein.« Dorian bemerkte nicht, wie er das Wort laut sagte und zuckte zusammen, als seine Stimme aus dem Nichts zu ihm sprach. Luzifers Präsenz wog immer schwerer auf ihm. Warum war er noch hier?
Mit dem Rücken zu Wand richtete sich Dorian auf, ging einen zaghaften Schritt Richtung Tür, sie öffnete sich von allein. ›Sieh nicht hin‹, versuchte er sich zu sagen, während sein Blick wieder und wieder an der Person, die doch ein Mensch sein sollte, hängenblieb. Flügel wie er. Augen wie Luzifer.
›Verschwinde endlich von hier!‹
Dorian spürte eine aufkeimende Wut um sich herum, die nicht seine war. Er erwischte sich bei der Hoffnung, dass Luzifer ihn im Affekt umbrachte, dann müsste er nicht mehr nachdenken. Aber ein schneller Tod wäre gnädig, und so eine Strafe wartete mit Sicherheit nicht auf ihn.
Mit aller Kraft riss er sich von dem Anblick los, drehte sich um und rannte. Er vergaß den Abhang draußen, rutschte an der Felskante ab und fiel mehrere Meter tief, bevor er sich in der Luft fing und einigermaßen sanft am Fuß des Gebirges landete. Kaum, dass er auf festem Boden stand, gaben seine Knie nach und er sackte in sich zusammen, schürfte sich Hände, Ellbogen und Knie auf. Der Schmerz holte ihn zurück in die Gegenwart, raus aus diesem Raum, in dem Luzifers Licht noch immer bis nach draußen schien.
›Wie kann ein Mensch Flügel haben?‹
Der Gedanke setzte sich fest, ehe Dorian es verhindern konnte. In seiner Verzweiflung holte er aus und schlug sich selbst mit der flachen Hand ins Gesicht, doch das förderte nur noch mehr Fragen zutage. Je mehr er sie zu verdrängen und vergessen versuchte, desto höher türmten sie sich auf und begruben ihn unter sich, bis er zusammengekrümmt auf dem kochend heißen Boden lag. ›Wie kann ein Mensch aussehen wie ich? Was hat Luzifer mit ihm gemacht, dass… Was macht er jetzt noch mit ihm?‹
Dorian schlug sich noch einmal, als ein furchtbarer Verdacht in seinen Verstand kroch, doch es half nicht. Ihm wurde nur schwindelig und kurz darauf übel. ›Und wer bin ich dann?‹
Allein der Gedanke fühlte sich wie Verrat an seinem Meister an. Dorian zwang sich, ruhig zu atmen.
›Luzifer lügt mich nicht an‹, dachte er, wischte sich die Tränen weg und suchte Trost in dieser Tatsache. ›Er sagt mir, was ich wissen muss. Er vertraut mir. Er liebt mich. Wenn das anders wäre, hätte er mich nicht nach meinem Fall gerettet.‹
Das waren die unerschütterlichen Wahrheiten dieser Welt. Seine Augen konnten lügen, und er sich das alles in seiner Panik eingebildet haben. Luzifer wusste, was er tat. Das alles hatte seine Gründe und einen Sinn, den Dorian nur nicht verstand.
Dorian schloss die Augen und sah schwarze Federn vor sich, seine Federn. Er war hier der Gefallene und der Mensch ein Mensch. Er würde hierbleiben und warten, bis Luzifer nach ihm verlangte. Was aus dem Menschen wurde, musste ihn nicht kümmern.