Der Mensch und seine Grammatik

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2.5 Eigenstrukturen undÜbersetzung ÜbersetzungstechnikenÜbersetzungstechnik

Nach christlicher Überzeugung enthält die Bibel das geoffenbarte Wort Gottes. Die Offenbarung erfolgte in den heiligen Sprachen Hebräisch, Griechisch und Latein, nicht aber in ostfränkischem AlthochdeutschAlthochdeutsch oder westsächsischem AltenglischAltenglisch. Nach katholischer Überzeugung obliegt der Kirche die Auslegung der geoffenbarten Schrift, denn da diese göttlich inspiriert ist, ist sie selbst ein Mysterium. Nicht nur übersteigt jedes einzelne Wort die Verstehensfähigkeitenverstehen des Menschen, dasselbe gilt sogar für die WortreihenfolgeReihenfolge.1 Biblischer Text muss daher auch verschiedenen Sinnebenen entsprechend interpretiert werden. Die wörtliche Bedeutung unterrichtet darüber, was womit in welcher Beziehung steht. Sie ist uns allen zugänglich. Daneben enthält derselbe Text aber noch drei weitere Sinnebenen, die die Fragen betreffen, was wir glauben sollen, was wir tun sollen und worauf wir hoffen können. Vor diesem Hintergrund wird deutlich, was eine mittelalterliche Übersetzung leisten konnte und sollte, und was nicht. Sie konnte nicht und sollte nicht das Original mit seinem vierfachen Schriftsinn wiedergeben, sondern nur einen „ersten grundlegenden sprachlichen Zugang“ zu ihm gewähren, ohne aber Autonomie beanspruchen zu können beziehungsweise zu dürfen.2 Die Zielsprache der Übersetzung konnte nur etwas zum Sinnverständnis des Bibeltextes beitragen, wie er sich in den heiligen Sprachen darbot, aber auch nur dann, wenn der heilige Charakter jedes einzelnen Ausdrucks und sogar der Reihenfolge der Ausdrücke berücksichtigt wurde. Die Idee eines autonomen volkssprachlichen Bibeltextes musste die Verleugnung der Heiligkeit des Originaltextes bedeuten und in den Augen des Sinnverwalters Kirche zu gefährlichem Wildwuchs an Laieninterpretationen führen, die ihr spirituelles, moralisches und eschatologisches Heil nach eigenem Gutdünken und außerhalb der vorgedachten Wege suchten.3 Man erinnere sich des Schicksals Tyndales und der Bewertung des Luther’schen Wirkens durch die Katholische Kirche. Reformation und Humanismus waren es dann, die gegen das lateinische Mittelalter das Hebräische und Griechische, die biblischen Ursprachen, wiederentdeckten. Dadurch stellten diese kulturgeschichtlichen Bewegungen die Autorität der Vulgata in Frage und mit ihr auch gleich den vierfachen Schriftsinn samt Deutungsmonopol durch die Katholische Kirche. Die Schrift selbst enthalte alles, was zu ihrer Deutung nötig sei. Um sie den Menschen zugänglich zu machen, müsse sie „nur“ richtig übersetzt werden, aber nun mit zielsprachlicher Ausrichtung, während die mittelalterlichen Übersetzungen eine quellsprachliche Ausrichtung hatten. Weil er sich vom Wort-für-Wort-Übersetzen lösen wollte, waren daher „für LutherBiblia (1545) Wortstellungsänderungen gegenüber dem Grundtext überhaupt kein Hindernis mehr, deshalb ist er in der Wortwahl viel freier auf einen neuen dt. Gesamtsinn aus […].“4 Dadurch wurde die Bibelübersetzung Luthers viel weniger abhängig von den Vorlagen und „kommunikativ autark“.5

Angesichts der Bedeutung, die nach mittelalterlicher Auffassung dem einzelnen Wort und sogar der Reihenfolge der Wörter im Urtext zukam, kann es nicht erstaunen, dass jede seriöse Grammatiktheoretikerin uns davor warnen muss, Erkenntnisse über Eigenstrukturen deutscher oder englischer Sprach(stuf)en aus mittelalterlichen Übersetzungstexten gewinnen zu wollen. Viel zu groß ist die Wahrscheinlichkeit, eigenstrukturelle Aspekte der Quellsprache, also der Sprache, aus der übersetzt wurde, im lexikalischen Gewand der Zielsprache zu analysieren, anstatt Aspekte der Zielsprache, in die übersetzt wurde und die ja eigentlich untersucht werden soll. Dies gilt ausschließlich für die kommunikativ quelltextlich bestimmten Übersetzungen des Mittelalters.6 Speziell dem althochdeutschenAlthochdeutsch „TatianTatianalthochdeutscher“ ist vorgeworfen worden, er folge dem lateinischen Text „in sklavisch undeutscher Weise“7 –, womit er sehr genau den oben genannten theologischen Prinzipien entspricht – und er sei nur an wenigen Stellen freier übersetzt, nämlich dort, wo ein geschickterer Übersetzer am Werk gewesen sei.8 Genuin althochdeutsche positionale und ReihenfolgeregelungenReihenfolge seien nur dort sicher anzunehmen, wo von der lateinischen Vorlage abgewichen wurde. Solche Abweichungen verliefen dann aber nie in „nichtdeutscher Richtung“ und daher könne man sich bei ihnen sicher sein, es mit der Eigenstruktur des Althochdeutschen zu tun zu haben.9 In diversen Studien zur althochdeutschen („Tatian“-)Syntax wurde die Beschränkung auf solche Differenzbelege zur methodischen Maxime erhoben.10

Ähnlich wird der altenglischenAltenglisch Übersetzung bescheinigt, wörtlich, aber relativ idiomatisch (idiomatic) zu sein, sowohl Sinn für Sinn als auch Wort für Wort zu übertragen, mit einigen Auslassungsfehlern, grammatischen Missverständnissen und ungeschickten (awkward) Übersetzungsentscheidungen. Auch hier legten die Übersetzer begrenzte Fähigkeiten und keinen übermäßigen Willen zu Akkuratheit und Raffinesse an den Tag.11 Das Verdikt des „sklavischen“ Festhaltens an der lateinischen Vorlage hinsichtlich der Elementreihenfolge traf zumindest in Teilen auch das mittelhochdeutscheMittelhochdeutsch „EvangelienbuchEvangelienbuch des Matthias von Beheim“, und über die früheren Bibelübersetzung des Teams WycliffeWycliffe-Bibel wird berichtet, schon für ihre Schöpfer nicht ganz zufriedenstellend gewesen zu sein: „extrem wörtlich, bisweilen obskur und manchmal falsch.“12

Wenn wir also etwas darüber ermitteln möchten, wie von uns vorgestellte Leserinnen an den eigenstrukturellen Merkmalen der Zielsprachen und unabhängig vom Vorlagentext erkennen können, was in den einzelnen Äußerungen womit in welcher Beziehung steht, müssen wir dann nicht sicherstellen, dass die Merkmale, die wir identifizieren, tatsächlich solche des Deutschen und Englischen sind, und nicht etwa solche des Lateinischen?mehrdeutiggrammatisch13 Ist das für den „TatianTatianalthochdeutscher“ nicht schon von vornherein ausgeschlossen dadurch, dass das lateinisch-althochdeutsche Zeilenumbruchprinzip eine Übersetzungstechnik erzwingt, die dem Althochdeutschen nicht gerecht werden kann? Und auf die Analysen der „Wessex GospelsWessex Gospels“, der späteren Wycliffe-BibelWycliffe-Bibel und des „EvangelienbuchsEvangelienbuch des Matthias von Beheim“ müssten wir schon allein deshalb ganz verzichten, weil wir die exakten lateinischen Vorlagen nicht kennen und demnach die Differenzbelege erst gar nicht identifizieren können.14

Ich möchte dafür argumentieren, dass die Analyse der mittelalterlichen Texte, die ich anstellen möchte, dennoch sinnvoll ist. Zunächst einmal sind die bisherigen Urteile über die mittelalterlichen Übersetzungen unterschiedlich ausgefallen, je nachdem, welche sprachlichen Phänomene in den Blick genommen wurden.15 Die negativen Urteile betreffen im Wesentlichen syntaktische, also positionale und ReihenfolgephänomeneReihenfolge. Was Phonologie, Morphologie und WortkategorienWortartinstruktive MittelWortart betrifft, ist der althochdeutsche „Tatian“ konstitutiv für das, was als NormalalthochdeutschNormalalthochdeutsch bezeichnet wird. Auf ihm basieren sogar althochdeutsche Grammatiken.16 Da MorphologieMorphologie und Wortkategorien zwei Drittel der eigenstrukturellen Hinweistypen ausmachen, auf die ich mich konzentrieren werde, ist der „TatianTatianalthochdeutscher“ diesbezüglich methodisch unbedenklich. In gleicher Weise unbedenklich in Bezug auf diese linguistischen Ebenen sind auch die „Wessex GospelsWessex Gospels“, die „ein sehr reines, mustergültiges Spätwestsächsisch“17 repräsentieren, die spätere Wycliffe-BibelWycliffe-Bibel, die den typischen (Central) Midland-Dialekt aufweist, der auch für autochthone Texte aus dem Wycliffe-Umkreis bekannt ist, sowie das gewöhnlich mitteldeutsche „Evangelienbuch“. Diese Werke waren in ihrem jeweiligen historisch-geographischen Kontext lediglich nicht in dem gleichen Maße konstitutiv für ihre entsprechenden Varietäten wie der „Tatian“ für die seine.

Sodann treffen die negativen Urteile auch nicht alle syntaktischen Phänomene im gleichen Maß. Mehr oder weniger strenge Wort-für-Wort-Übersetzungen eignen sich natürlich nicht dafür, aus ihnen die positionalen Regelungen der Zielsprache zu isolieren, also die relativen Positionen zwischen allen möglichen syntaktischen Elementen, die in Sätzen auftreten, wie zum Beispiel die Stellung von finiten Verben in Haupt- und Nebensätzen. Dies gilt umso mehr, wenn die Übersetzung dem Zeilenumbruchprinzip unterworfen ist wie im „Tatian“. Ebenso wenig lässt sich etwas über den genuin deutschen oder englischen Partizipiengebrauch herausfinden, wenn lateinische Konstruktionen wie das Participium coniunctum oder der Ablativus absolutus so wörtlich wie möglich übersetzt wurden, etwa als absoluter Dativ im Falle des Letzteren. Die Abschnitte zu den instruktiven Mitteln sollten aber deutlich gemacht haben, dass es mir um einen eng begrenzten Bereich der Syntax geht, nämlich um das dritte mögliche instruktive Mittel: die relativen Positionen zwischen Satzgliedern, die als Subjekte und Objekte fungieren können.18 Das finite Verb spielt zunächst insofern eine Rolle, als es morphologische ÜbereinstimmungsbeziehungenKongruenzMorphologie mit einem (oder mehreren) der Satzgliedern unterhält. Das finite Verb kann überdies syntaktisch relevant sein, wenn seine relative Stellung zu den fraglichen nominalen Satzgliedern instruktiv dafür genutzt wird, diese in Subjekt und Objekt(e) zu unterscheiden. Dies wird für die Analyse des MittelenglischenMittelenglisch wichtig werden.19

Da ich solche (Teil-)Sätze untersuchen möchte, die für grammatische Mehrdeutigkeiten zwischen Subjekt und Objekt(en) anfällig sind, wird sich die Analyse also auf finite (Teil-)Sätze mit mindestens zwei direkt von einem Verb abhängigen, nominalen Satzgliedern beschränken. Damit ist es dann aber gar nicht nötig, dass unsere Bibelübersetzungen in allen Aspekten die originäre Eigenstruktur der jeweiligen Zielsprache enthalten, sondern es genügt, wenn sie es nur in den Aspekten und in den Äußerungstypen tun, die für unsere Fragestellung relevant sind.

 

Falls die relative Position des Verbs relevant für die Identifikation der syntaktischen Funktionen ist, dann würden wir erwarten, dass die relativen Positionen zwischen finitem Verb und Satzgliedern in der Übersetzung auch so gewählt sind, dass sie gemäß der zielsprachlichen Eigenstruktur zur richtigen Lesart instruieren. Um dies umzusetzen, sollten die Übersetzer theoretisch – wir haben ja nur beim „Tatian“ Einsicht in die genaue Vorlage – dabei besonders oft gegen die Vorlage abweichen. Latein weist solche Positionsregelungen nicht auf und Lateinschreiber brauchten sie daher nicht zu berücksichtigen. Wenn wir kurz die Phantasie spielen lassen und der Illustration halber davon ausgehen, die lateinische Vorlage unseres Musterverses Johannes 19, 27 im althochdeutschen „Tatian“ habe auch die Vorlage für den entsprechenden Vers in der mittelenglischen Übersetzung abgegeben, wird dies deutlicher. Dazu wiederhole ich Beispiel (6) und gebe die lateinische Entsprechung des Verses aus dem „Tatian“.20



Offenbar steht in der mittelenglischenMittelenglisch Übersetzung gemäß der mittelenglischen Eigenstruktur das finite Verb an der dritten Stelle – die Konjunktion nicht mitgezählt –, direkt neben dem Subjekt und dann gefolgt von dem Objekt, also X S V O … Hätte die lateinische Version tatsächlich die Vorlage abgegeben, hätten wir es mit einem Differenzbeleg zu tun. Im Lateinischen ist die ReihenfolgeReihenfolge X V O S … Würde im Mittelenglischen nicht davon abgewichen, würden wir zahlreiche missverständliche Äußerungen erwarten: Fro that our took hir the disciple … (X V O S …) könnte zwar aufgrund der morphologischen Form des Objekts hir trotz quellsprachlicher Syntax noch richtig verstanden werden, aber wenn wir ein Objekt mit einem synkretischen KasusKasus hätten, wäre dies eine Einladung zum Falschverstehen: Fro that our took the mother/it the disciple … Hier garantiert erst die Abweichung von der lateinischen Vorlage in den relativen Positionen der drei Elemente die richtige Interpretation. Wenn der mittelenglische Text richtig verstehbarverstehen sein soll – wovon ich in meiner Hypothese ja ausgehe –, dann können wir hier systematische Abweichungen zugunsten der mittelenglischen syntaktischen Eigenstruktur erwarten.

Wenn die relativen Abfolgen, die in unseren Übersetzungen auftreten, also solche sind, die in den untersuchungsrelevanten eigenstrukturellen Aspekten einen Differenzbeleg darstellen oder in der jeweiligen Sprach(stuf)e als nativ gelten, etwa weil sie in autochthonen Texten auftauchen, dann werde ich sie so behandeln, dass sie mit der Eigenstruktur der Zielsprache vereinbar sind.

Ein Beispiel für einen Satz mit originär althochdeutscherAlthochdeutsch syntaktischer Eigenstruktur, der aber keinen Differenzbeleg darstellt, ist unser Mustervers Joh. 19, 27. Die relative Stellung des Verbs zu den Satzgliedern ist dennoch der Entlehnung aus dem Lateinischen unverdächtig, denn sie stellt eine häufige ReihenfolgeReihenfolge im althochdeutschen Hauptsatz dar. Irrelevant ist dagegen, dass die Präpositionalphrase in sina in einem vorlagenunabhängigen Text möglicherweise anders ausgedrückt worden wäre.


In anderen als den untersuchungsrelevanten Aspekten der Eigenstruktur – allen voran lateinischen Partizipialkonstruktionen und Akkusativen mit Infinitiven – darf die Zielsprache durchaus Eigenstrukturen der Quellsprache aufweisen, wie etwa ungelenke Konstruktionen mit nicht finiten Verben. Das kann, möglicherweise mit Ausnahme des Mittelenglischen, sogar für die Position von finiten Verben gelten. Wenn wir davon ausgehen dürfen, dass die relative Position des finiten Verbs keinen instruktiven Wert für die Unterscheidung zwischen Subjekt und Objekt(en) oder zwischen verschiedenen Objekten hat, dann können wir sogar zulassen, dass die Übersetzungen auch hier Eigenstrukturen der Quellsprache aufweisen.23

Sollten sich diese Überlegungen bestätigen, – sollten also die eigenstrukturellen Mittel der mittelalterlichen Zielsprachen hinreichen für die richtige Interpretation ihrer grammatisch eindeutigeneindeutiggrammatisch Äußerungen –, dann müssten wir davon ausgehen, dass sich die Übersetzer bei aller Hörigkeit gegenüber den Eigenstrukturen der Vorlagen gerade bei den grammatischen Mitteln, die instruieren, was womit in welcherWas steht womit in welcher Beziehung? Beziehung stehend vorgestellt werden soll, sehr klar an die Eigenstrukturen der Zielsprache gehalten haben. Dies wiederum würde uns berechtigen, diesen Übersetzungen eine größere interpretative Unabhängigkeit von der Quellsprache zu bescheinigen, als dies gemeinhin unter dem Stichwort „bloße Verständnishilfe für den heiligen Vorlagentext“ getan wird.

2.6 Die vorgestellten generalisierten Leserinnen

Am Ende des ersten Kapitels hatte ich gesagt, dass ich von den vielfältigen variablen Umständen absehen muss, unter denen die BibelübersetzungenÜbersetzung entstanden sind, wenn ich sie im Hinblick auf unsere Fragestellung vergleichen möchte. Neben die kulturhistorischen, theologie- und kirchengeschichtlichen, sprachhistorischen und editionstheoretischen Umstände sind nun auch, wie angekündigt, die übersetzungstechnischen getreten. Ich werde diese aber nicht ausklammern wie die anderen Unterschiede, sondern ich habe im letzten Abschnitt versucht, so etwas wie einen untersuchungsrelevanten kleinsten gemeinsamen Nenner zu kondensieren, der die Übersetzungen für uns vergleichbar macht. Dieser kleinste gemeinsame Nenner besteht letztlich in den vorgestellten generalisierten Leserinnen, die ich nun schon so oft beschworen habe. Sie verfügen über ihr je einzelsprachliches eigenstrukturelles Know-howKnow-how, genauer gesagt, über die Teilaspekte dieses Know-hows, die es ihnen erlauben, beim Lesen der Bibelübersetzung in ihrer jeweiligen Sprache zu verstehenverstehen, was in den Äußerungen womit in welcher Beziehung steht. Sie lesen in der natürlichen Einstellung des (heutigen) Alltagslebens, ohne philologische, theologische, spirituelle oder anderweitige professionelle Ambitionen; sie lesen den Übersetzungstext als (in den untersuchungsrelevanten Aspekten) kommunikativ autarken Text; sie lesen nach dem wörtlichen Schriftsinn; sie lesen für sich; sie lesen problemlos und flüssig im automatischenAutomatismus und RoutinemodusRoutine, Routinisierung wie wir; sie lesen laut oder lautlos.

Je älter die jeweilige Übersetzung ist, desto historisch inakkurater wird die Rolle einer solchen vorgestellten generalisierten Leserin. In der Tat mag oder kann der Zweck der jeweiligen Schrift nicht die Lektüre unter diesen Vorzeichen gewesen sein, aber das schließt ja eine Umfunktionierung der Texte nicht aus, sofern ich ihnen keine Eigenschaften zuschreibe, die ihnen nachweislich nicht zukommen. Wenn die Übersetzungen in den relevanten Punkten akkurat sind, dann spricht auch nichts dagegen, sich diese Akkuratheit für eine Analyse unter veränderten Vorzeichen nutzbar zu machen.

2.7 Der instruktiveinstruktive Leistungen Wert der ProsodieProsodie beim Lesen-für-sich

In früheren Abschnitten dieses Kapitels hatte ich die Prosodie als eigenstrukturelles Mittel mit instruktivem Wert genannt. Dort instruierte sie eine Leserin dazu, wie sie eine Äußerung praktisch verwerten kann.1 Unter dem Vorzeichen, dass ich es in der Untersuchung mit geschriebenen Bibelübersetzungen zu tun haben würde, hatte ich die Prosodie in der Folge aus der Diskussion der instruktiven Mittel ausgeklammert, und zwar zugunsten derer, die eine Leserin in der Schrift erkennt: WortkategorienWortart, KasusKasus- und KongruenzmorphologieKongruenzMorphologie sowie positionale und ReihenfolgeregelungenReihenfolge. Diese Ausklammerung möchte ich hier sachlich begründen, zumal der Prosodie neben der Leistung „Verwerten“ noch etliche andere zukommen.2 Ich klammere die Prosodie nicht aus dem Grund aus, dass (lautloses) Lesen keine messbaren (neuro-)phonetischen Merkmale aufwiese. Dies ist nämlich sehr wahrscheinlich falsch. Selbst beim geräuschlosen Lesen begleiten wir das Gelesene mit einer Art simulierter, stiller Prosodie.3 Ohnehin hatte ich den vorgestellten generalisierten Leserinnen ja zugestanden, laut oder lautlos zu lesen. Überdies war es lesehistorisch so, dass es bis ins späte Mittelalter die Regel und bis ins 19. Jahrhundert immerhin nicht unüblich war, dass auch das Lesen-für-sich nicht lautlos, sondern laut vor sich ging.mehrdeutigsyntaktisch4 Gerade in der Frühzeit darf man sich dieses laute Lesen aber nicht so vorstellen, wie wir heute vorlesen, sondern eher als Gemurmel, bei dem man sich – buchstaben-, silben- oder wortweise artikulierend, oft neu ansetzend und immer weitere Segmente hinzunehmend – an das bedeutungstragende Ganze heranstammelte, in etwa so, wie heute Erstklässlerinnen lesen lernen.5 Ich hatte den vorgestellten Leserinnen aber auch zugestanden, nicht nur laut, sondern auch flüssig, automatischAutomatismus und routiniertRoutine, Routinisierung zu lesen. Der tatsächliche Grund, die Prosodie auszuklammern, muss daher ein anderer sein. Der spezielle Grund ist dieser: Ich gehe davon aus, dass unsere Leserinnen nicht von vornherein wissen, was in den neutestamentlichen Äußerungen womit in welcher Beziehung steht, dass diese Beziehungen für sie zumindest weitgehend neu sind. Nun ist es vorstellbar, dass auch die Übersetzer diese originalsprachlichen Äußerungen so übersetzten, dass sie dabei mindestens eine simulierte, stille, wenn nicht sogar wirkliche, hörbare Prosodie über ihre übersetzen Äußerungen legten. Für den einen oder anderen – vor allem die historisch jüngeren Übersetzer – mag die Aussicht, dass ihre Übersetzungen laut vorgelesen werden würden, durchaus eine Rolle dabei gespielt haben, wie sie übersetzten. Nun ist es wenigstens theoretisch denkbar, dass die Prosodie, die die Übersetzer sich dabei dachten, einen instruktiven Wert für die Frage hatte, was in der Äußerung womit in welcher Beziehung steht. Prosodische Merkmale hätten dann einen Einfluss darauf, welche Äußerungseinheiten als Subjekt und Objekt(e) und, über die syntaktischen Funktionen vermittelt, als AgensAgens, PatiensPatiens etc. zu behandeln wären. Der entscheidende Punkt ist aber, dass diese prosodischen Merkmale, falls es sie gibt (beziehungsweise gab), im graphischen Medium der Schrift verloren gehen und von einer räumlich, zeitlich und bezüglich ihres Wissenstands entfernten Leserin aus den graphischen Hinweisen auch nicht rekonstruiert werden können. Die (wirkliche oder simulierte) Prosodie des Übersetzers braucht keineswegs mit der (wirklichen oder simulierten) Prosodie der Leserin übereinstimmen. Dafür sind die prosodischen Optionen für eine einzige geschriebene Äußerung schon zu zahlreich.mehrdeutigKasusPatiensmehrdeutig6

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