Kitabı oxu: «Die Wiege des Windes», səhifə 5

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»Ihr seid wohl alle verrückt geworden!«, brüllte Rike den alten Mann an, der in seinem Schaukelstuhl saß und mit müden Augen zum Fenster starrte.

»Ich habe nur in die Luft geschossen«, entgegnete Corde. »Ich wollte niemanden verletzen. Aber hier draußen schleichen seit Tagen irgendwelche Kerle herum. Ich habe sie gesehen. Ich bin nicht verrückt.«

Rike dachte an ihren Zahnputzbecher und die Männer im dunklen BMW. Erschöpft fuhr sie sich mit der Hand über ihre nasse Stirn. So aufgelöst hatte sie Corde noch nie gesehen. Er war kein ängstlicher Mensch, sie kannte ihn als lebensfroh und fand ihn manchmal, zumindest auf See, auch waghalsig.

Corde hatte Rike erzählt, dass bei ihm eingebrochen worden war, dass die Täter alles durchwühlt hatten und nichts heil geblieben war.

»Ich glaube dir«, erwiderte sie. »Ich glaube, sie waren auch bei mir in der Wohnung.«

Corde blickte auf. »Sie suchen nach Larsen, stimmt’s? Was hat der Junge bloß angestellt? Du hast mich nie gesehen, hat er zu mir gesagt. Dann ist er verschwunden. Er blieb auf Langeoog. Dort, wo auch das Schiff festgemacht hatte.«

»Meinst du, das Schiff steht damit in Verbindung?«

Corde griff nach der Teetasse. »Es war nicht das erste Mal da draußen. Ich habe es auch schon im letzten Jahr vor der Küste gesehen. Es kreuzte im Roten Sand. Das sind Forscher. Schweden oder Dänen.«

»Forscher?«

Corde stellte die Tasse zurück auf den Tisch. »Das hat Larsen gesagt. Er hat Erkundigungen eingeholt. Aber frag ihn doch selbst. Der ist bestimmt bei diesem nichtsnutzigen Säufer auf der Insel.«

»Bei Töngen?« Rike überlegte. »Hat Larsen sonst noch etwas über das Schiff gesagt?«

Corde schüttelte den Kopf. »Wir legten im Hafen an und kurz darauf kam auch der rote Kutter hereingeschippert. Es sah nach Sturm aus. Dann ist Larsen verschwunden. Mitten in der Nacht kam er wieder und sagte so etwas Ähnliches wie: Er wäre da an einer großen Sache dran. Ich solle sagen, dass ich nichts von ihm weiß und ihn nicht gesehen habe. Er verlangte, dass ich sofort auslaufen sollte. Larsen blieb auf der Insel. Seitdem habe ich ihn nicht mehr gesehen.« Corde ließ sich erschöpft in den Schaukelstuhl sinken. Er schien sichtlich bedrückt. »Ich glaube, er hat sich da in etwas hineingeritten.«

»Was heißt das? Hat er eine Andeutung gemacht?« Rike hätte platzen können vor Wut. »Jetzt erzähl mir schon alles!«

»Er sagte, er habe einige Briefe verschickt«, erwiderte Corde. »Es müsse endlich jemand handeln. Ich glaube, der Junge steckt in ernsten Schwierigkeiten und ist untergetaucht. Bestimmt weiß der Trunkenbold mehr darüber.«

Rike sog die Luft tief in ihre Lungen. Für einen Augenblick schwieg sie. »Was wurde eigentlich bei dem Einbruch gestohlen?«, fragte sie nach einer Weile.

»Das ist es ja gerade«, sagte Corde leise. »Es fehlt nichts.«

»Nicht einmal dein Videorecorder«, murmelte Rike nachdenklich und schaute auf den flachen, schwarzen Kasten, der unter dem Fernseher in der Phonobar stand.

Corde nickte.

*

Nachdem Martin Trevisan zusammen mit Johannes Hagemann die Pathologie verlassen hatte, saßen sie eine Weile schweigend nebeneinander im Wagen.

»Tut es sehr weh?«, fragte Johannes schließlich.

Trevisans Augen wurden feucht, als er nickte.

»Du weißt, du kannst immer zu mir kommen«, versicherte Johannes.

»Es ist komisch«, sagte Trevisan. »Es sind jetzt bald zwei Monate. Als sie damals auszog, nach all dem Gezanke und diesen ewigen Streitereien, da war ich eigentlich ganz froh, endlich Ruhe zu haben. Aber nach ein paar Tagen beginnt sie einem zu fehlen und man stürzt in ein tiefes Loch. Irgendetwas in einem sagt, hol sie wieder zurück, doch immer, wenn man miteinander redet, kommt alles wieder hoch, und so etwas wie Trotz stellt sich ein. Am meisten fehlt mir Paula.«

»Glaubst du, dass ihr wieder zusammenkommt, du und Grit?«

Trevisan schüttelte den Kopf.

»Und wann hast du deine Tochter das letzte Mal gesehen?«

Trevisan fuhr sich durch die Haare. »Ende November. Zweimal war ich bei ihr, dann war das mit meinem Vater und ich konnte nicht mehr. Kiel ist verdammt weit weg.«

»Lässt sie dich deine Tochter sehen?«

»Ja, aber du weißt doch, Bereitschaftsdienst am Wochenende und die Arbeit unter der Woche. Da ist nicht mehr drin als ein-, zweimal im Monat.«

»Wenn du zwischen den Jahren zu ihr willst, dann nimm dir ein paar Tage frei, ich werde es Beck erklären.«

Trevisan schaute Johannes Hagemann dankbar an. Den Rest des Weges fuhren sie schweigend zurück zur Dienststelle.

Dietmar Petermann saß hinter seinem Schreibtisch und telefonierte, als sie sein Büro betraten. Er hob den Arm zum Zeichen, dass er Ruhe brauchte. Trevisan und Hagemann warteten, bis er aufgelegt hatte.

»Die Kollegen in Würzburg waren schnell«, erzählte er. »Nachdem ich ihnen erklärte, dass wir den Büchereiausweis in einem Rucksack neben einem unbekannten Toten aus dem Hafen gefischt haben, haben die tatsächlich jemanden aufgetrieben, der an den Computer der Bibliothek kommt. Aber in Würzburg wohnt kein Peter Luksch. Na ja, zumindest haben wir seinen Namen.«

Trevisan verdrehte die Augen. »Den hatten wir schon, nachdem wir den Rucksack fanden. Gibt es sonst noch etwas?«

»Ich habe mich nicht abspeisen lassen und es hat sich gelohnt. Peter Luksch ist sechsundzwanzig Jahre alt und Student. Er studiert offenbar in Würzburg und wohnt außerhalb. Der Ort heißt Gerchsheim und liegt knapp zehn Kilometer von Würzburg entfernt. Das ist aber schon Baden-Württemberg.«

Trevisan riss der Geduldsfaden. »Wohnt er dort noch, ist er am Leben?« Seine Stimme war lauter geworden.

Dietmar griff nach seinem Notizblock. »Also, die Kollegen aus Würzburg haben die Kollegen aus Tauberbischofsheim benachrichtigt und von dort aus fuhr eine Streife an die Wohnadresse. Das ist ein Mehrfamilienhaus, aber Luksch stand nicht auf den Klingeln. Sie haben dann jemanden aus dem Haus gefragt. Von dort bekamen sie die Auskunft, dass mal bis zum Sommer ein junger Mann unter dem Dach wohnte, doch der ist ausgezogen.«

»Und das war Luksch?«, fragte Johannes Hagemann.

»Vermutlich.«

»Mensch Dietmar, bring mich nicht auf die Palme …«, warnte Trevisan.

»Mehr lässt sich heute nicht feststellen, die Ämter haben zu und die Hauseigentümer sind auf den Kanaren. Ich kann nichts dafür, dass die Baden-Württemberger keinen Zugriff auf die Datenbanken der Einwohnermeldeämter haben. Vom Alter her könnte es passen.«

Trevisan ließ sich auf den Stuhl fallen. »Nur vom Alter oder haben wir eine Beschreibung?«

»Oh, das habe ich vergessen zu fragen«, antwortete Dietmar Petermann kleinlaut.

»Dann wird’s Zeit!« Johannes Hagemann deutete auf das Telefon.

*

Gut zweihundert Kilometer entfernt saß zum gleichen Zeitpunkt Kriminaloberrat Kirner hinter seinem Schreibtisch und spielte geistesabwesend mit einem Bleistift. Seine Mitarbeiter wussten, dass Kirner die Kurzfassung, die reinen Fakten liebte. Er brauchte Zuträger, die funktionierten, sonst fanden sie sich schneller in einer anderen Abteilung, als ihnen lieb war. Die Bewertung ihrer Erkenntnisse war alleine seine Sache. Team­arbeit war nicht sein Metier. Er war der Kopf, der Denker, und genau deswegen saß er nachdenklich auf seinem Stuhl. Die Fahndung nach Friederike van Deeren war angelaufen. Da es in ihrer Akte einen vagen Hinweis auf einen Bekannten in Deventer gab, waren auch die holländischen Behörden informiert. Sie war die Hauptverdächtige, doch den Brief konnte sie nicht selbst überbracht haben. Das Flugzeug mit der Flugnummer AQ 4227 war erst um 15 Uhr in Frankfurt gelandet. Laut Passagierliste hatte sie sich an Bord dieser Maschine befunden.

Inzwischen waren weitere Informationen auf seinem Tisch gelandet. Demnach hatte Friederike van Deeren ab 17. November an einem Training in einem Greenpeace-Aktiv-Camp bei Bremen teilgenommen. Danach war sie drei Wochen in Australien gewesen, um auf der Arctic Sunrise, einem Greenpeace-Schiff, gegen japanische Walfänger zu protestieren. Zumindest hatte sie am 3. Dezember in Frankfurt nach Perth eingecheckt.

Dennoch konnte sie an dem Anschlag beteiligt gewesen sein. Zwei Namen waren in ihrem Strafregister unter der Rubrik Tatgenossen ständig aufgetaucht. Möglicherweise war sie Mitglied einer kleinen Aktivistenzelle, zu der auch Björn Larsen aus Wilhelmshaven und ein gewisser Uwe Töngen gehörten. Larsen schien, so hatten seine Mitarbeiter herausgefunden, untergetaucht zu sein – ein Indiz für seine Beteiligung oder Täterschaft? Uwe Töngen lebte auf Langeoog und hütete Schafe. Ihn würde er sich vornehmen, gleich morgen früh.

Die Ungereimtheiten in dem zunächst so scheinbar klaren Fall raubten ihm die Ruhe. Warum war der Brief an die Behörde und nicht zu Esser nach Hause geschickt worden, und warum ausgerechnet einen Tag vor Weihnachten, wo doch viele in Urlaub waren? Das Risiko eines Fehlschlages war viel zu groß gewesen. Oder hatte der Überbringer gewusst, dass Esser an diesem Tag aus dem Urlaub zurückkehren würde? Woher beziehungsweise von wem?

Kirner schaute auf die Uhr. Es war kurz vor vier. Wind war aufgekommen und verfing sich in den Zweigen der großen Tanne, die vor seinem Fenster als Weihnachtsbaum aufgestellt worden war. Einige der Glühbirnen in den Ästen leuchteten in das triste Grau der anbrechenden Dämmerung, doch die meisten waren längst der Nässe der vergangenen Tage zum Opfer gefallen. Kirner erhob sich und griff nach seinem Mantel.

*

Der dunkle BMW parkte am Ortsende von Greetsiel abseits auf einem Parkplatz. Ein Gebüsch versperrte die Sicht auf den Wagen. Die Männer darin hielten den Feldweg im Auge, der zum Haus des Alten führte.

Als Rike am frühen Morgen in Cordes Auto auf die Straße nach Norddeich einbog, fuhr sie ahnungslos am BMW vorüber. Einen Augenblick später setzte sich der Wagen in Bewegung.

9

Das Boot der Küstenwache wartete wie versprochen um 9 Uhr im Großen Hafen. Die Wasserschutzpolizisten stutzten, als Kirner alleine an Bord kam, doch er erklärte ihnen, dass es nur um eine Routinebefragung ginge und er deswegen keinem Kollegen den zweiten Weihnachtstag vermiesen wollte. Eine Viertelstunde später verließ das Boot den Hafen und fuhr mit halber Kraft den Jadebusen hinauf in Richtung Schillighörn.

Nach all den trüben Tagen schien es heute trocken und schön werden zu wollen. Kirner lehnte an der Reling und schaute in den wolkenlosen Himmel.

Die Kollegen in Aurich hatten ihm den Weg zu Töngens Gehöft beschrieben. Sie hätten auf Langeoog auch für seine Abholung gesorgt, aber als Kirner erfahren hatte, dass Töngens Anwesen kaum einen Kilometer vom Hafen entfernt war und ein Fußweg entlang den Schienen der Inselbahn direkt zu seinem Haus führte, hatte er das Angebot abgelehnt. Ein Fußmarsch nach all den Festtagsbraten würde nicht schaden.

Die Auricher hatten schon öfter mit Töngen zu tun gehabt. Er hatte so manche Nacht in ihrer Ausnüchterungszelle verbracht und wegen seines Rauschgiftkonsums vor kaum einem Vierteljahr seinen Bootsführerschein eingebüßt. Ansonsten schien der Mann eher zu den gemütlichen Typen zu gehören. Seit der Verurteilung war es ruhig um ihn geworden. Vielleicht auch deshalb, weil er wegen eines Rauschgiftvergehens eine Bewährungsstrafe erhalten hatte.

Doch Kirner interessierte sich nur für Friederike van Deeren und Björn Larsen. Er war nach dem Aktenstudium und reiflicher Überlegung zu dem Schluss gelangt, dass Larsen hinter dem Briefbombenanschlag stecken musste. Vielleicht hatte seine Freundin noch nicht einmal davon gewusst.

Als der kleine Kreuzer im Hafen von Langeoog festmachte, vereinbarte Kirner mit dem Kapitän, dass er in drei Stunden wieder abgeholt werden sollte. Dann machte er sich auf den Weg zu dem Anwesen. Der Feldweg entpuppte sich als morastiger Trampelpfad, doch Kirner war gut gerüstet. Das Wandern war eine seiner liebsten Freizeitbeschäftigungen. Er brauchte gerade mal eine halbe Stunde, bis er das einsame Gehöft westlich des Dorfes erreichte. Das Gebäude erschien verwahrlost. Der Lattenzaun davor wies etliche Lücken auf, und der windschiefe Stall links neben dem Hauptgebäude verstärkte den Eindruck, dass Töngen sich wenig um sein Hab und Gut kümmerte. Das braune Gras wucherte im Hof. In der Ferne hörte Kirner das Blöken einiger Schafe, die trotz der Kälte im Freien standen.

Eine Klingel suchte Kirner an der altersschwachen Haustür vergebens, also klopfte er mit der Faust dagegen. Er lauschte, doch außer dem leisen Rauschen des Windes in den dürren Ästen der Pappeln direkt neben dem Haus war nichts zu hören. Noch einmal klopfte Kirner. Er wartete vergeblich. Niemand schien zu Hause zu sein.

Plötzlich sah er eine Bewegung abseits der Scheune. Ein Mann stand neben dem Stall. Das trockene Hämmern von Metall auf Holz drang zu Kirner herüber. Der Mann trug einen langen, olivgrünen Parka, eine blaue Arbeitshose und schwarze Gummistiefel. Seine langen verfilzten Haare schwangen im Rhythmus der Schläge durch die Luft.

»Töngen?«, rief ihm Kirner zu.

Der Schlag des Mannes erfror in der Luft. Er hob den Kopf und blickte den Fremden, der auf ihn zukam, misstrauisch an. »Und wer will das wissen?«

Kirner zeigte seinen Dienstausweis.

»Was ist nun wieder los, wollt ihr noch mal mein Haus durchsuchen?«

Kirner schüttelte den Kopf. »Friederike van Deeren. Wissen Sie, wo ich sie finden kann?«

Argwöhnisch beäugte Töngen den Kriminalbeamten. »Rike? Hab ich schon lange nicht mehr gesehen.«

»Und Larsen?«

»Den auch nicht.«

Kirner lächelte. »Erzählen Sie mir von Friederike.«

»Was soll ich da erzählen«, erwiderte Töngen. »Rike ist anständig. Die tut niemandem was. Was wollt ihr von ihr?«

»War Rike denn nicht auf großer Fahrt?«

»Weiß nichts davon.« Töngen erhob den Hammer und schlug weiter auf den dicken Pfahl ein.

»Sie sind derzeit auf Bewährung?«, rief ihm Kirner zu.

Töngen ließ den Hammer sinken. »Was hat das mit Rike zu tun?«

»Ich kann Sie auch vorladen«, versuchte Kirner Töngens Auskunftsfreudigkeit zu erhöhen. »Also noch einmal: War Rike in letzter Zeit im Ausland?«

Töngen legte seinen Hammer zur Seite und setzte sich auf die Holzbank vor der Scheune. Er kramte seinen Tabak aus der Tasche. Gelassen drehte er sich eine Zigarette. »Hören Sie«, sagte Töngen und fuhr mit der Zunge über den Klebestreifen des Zigarettenpapiers. »Ich habe Bewährung, das ist richtig. Ich habe nichts mehr mit diesen Dingen zu tun. Ich rauche ab und zu ein bisschen Shit, das ist alles. Also spielen wir mit offenen Karten, ich habe nämlich keine Lust mehr auf Ärger.«

Kirner setzte sich neben ihn auf die Bank. »Ich bin vom Landeskriminalamt. Ich ermittle in einem Mordversuch und ich glaube, dass Rike in die Sache verwickelt ist, ohne dass sie etwas dafür kann. Es ist besser, wenn ich mit ihr spreche. Das fällt nicht mehr unter ›grober Unfug‹, so was gibt zehn Jahre und mehr.«

»Ein Bulle, der helfen will«, antwortete Töngen sarkastisch.

Kirner entschloss sich, ihm die ganze Geschichte zu erzählen.

»Vor drei Tagen wurde auf den stellvertretenden Bezirksdirektor Esser ein Briefbombenanschlag verübt. Das Kuvert war beschädigt, deshalb konnte der Anschlag vereitelt werden. Unsere Spurensicherung hat Fingerabdrücke entdeckt. Sie gehören Friederike van Deeren. Außerdem hatte sie ein paar Wochen zuvor ein Dossier an Esser geschickt und die gleiche Art Kuvert verwendet. Würden Sie ihr so was zutrauen?«

Töngen schaute Kirner entgeistert an. »Das ist absoluter Blödsinn. Rike lehnt jede Form von Gewalt ab.«

»So, tut sie das? Vor knapp einem Jahr hat sie einem Kollegen von mir das Nasenbein gebrochen.«

Töngen lächelte. »Sie weiß sich zu wehren und der Bulle hat sie angegrabscht.«

»Und was ist mit dem Brandanschlag auf das Baggerschiff?«

»Sie liebt diese Küste und würde alles dafür tun. Aber Rike würde niemals Menschenleben aufs Spiel setzen.«

»Und Larsen?«

Töngen zog an seiner Zigarette und blies den blauen Rauch in die Luft. »Larsen und Rike waren zusammen«, murmelte er und schnippte die Zigarettenkippe ins Gras. »Aber sie hatten Zoff. Vor Wochen schon. Seitdem habe ich weder von ihm noch von Rike was gehört.«

»Wann haben Sie Rike das letzte Mal gesehen?«

Töngen überlegte. »Das ist mindestens zwei Monate her. Ich hörte nur, sie wäre in irgend so einem Greenpeace-Camp.«

»Von wem haben Sie das gehört?«

Töngen schien um die Antwort verlegen.

»Von Larsen?«, nahm ihm Kirner die Last von der Seele.

Töngen nickte. »Das war vor einem Monat. Er kam mitten in der Nacht zu mir. Er sagte etwas von einem Schiff, dem er draußen begegnet ist.« Töngen wies mit dem Kopf in Richtung Meer. »Er sagte, dass die da draußen was suchen.«

Kirner runzelte die Stirn. »Ein Schiff? Was suchen die denn?«

Töngen druckste unschlüssig herum. »Na ja, er sagte mir nur, dass er an einer großen Sache dran ist.« Er gab sich einen Ruck. »Ich glaube, es ging um Gift.«

»Giftmüll?«

Töngen schüttelte den Kopf. »Shit, Koks, Drugs, Pills oder ›H‹. Rauschgift. Wäre möglich.«

»Wollte Larsen in das Geschäft einsteigen?«, fragte Kirner. Der Fall schien eine andere Wendung zu nehmen als erwartet.

»Larsen ist ein Smoker«, erwiderte Töngen, der sich nicht wohl in seiner Haut fühlte. »Er raucht ab und zu eine, so wie ich. Aber er ist kein Dealer. Überhaupt nicht der Typ dafür.«

»Dann schon eher eine Briefbombe, was?«

Töngen erhob sich. »Ich weiß nichts von Larsen. Wir haben früher mal zusammen für eine bessere Umwelt gekämpft und sind für unsere Überzeugungen eingetreten, auch wenn es aussichtslos schien. Mehr nicht. Ich habe ihn seit einem Monat nicht gesehen. Schäfer ist ein Full-Time-Job. Ich bin raus aus der Szene und ich vermisse niemanden. Und jetzt muss ich wieder an die Arbeit.« Töngen nahm seinen Hammer und ging wieder hinüber zu dem Pfahl, der noch immer weit aus dem Boden ragte.

»Eine letzte Sache noch.« Kirner legte eine Visitenkarte auf die Bank. »Wenn Larsen oder Friederike van Deeren auftauchen, dann rufen Sie mich an.«

»Ich habe kein Telefon«, erwiderte Töngen.

»Dann sagen Sie ihnen, dass sie sich bei mir melden sollen, bevor alles nur noch schlimmer wird. Ein Mordanschlag ist eine böse Sache.«

Kirner wusste, dass Töngen die beiden informieren würde, aber auf einen Anruf von Larsen würde er wohl umsonst warten. Für ihn war die Sache klar: Larsen steckte hinter dem Briefbombenattentat. Trotzdem musste er die Fahndung nach Friederike van Deeren aufrechterhalten, und die Untersuchungshaft würde ihr wohl auch nicht erspart bleiben.

Auf die Sache mit dem Schiff, von der Töngen geredet hatte, konnte Kirner sich keinen Reim machen. Den Gedanken, den Schäfer überwachen zu lassen, verwarf er. Er glaubte dem Mann. Vielleicht, aber auch nur, weil es in dieser Jahreshälfte nicht ganz so einfach war, hinaus auf die Inseln zu kommen.

Er hielt inne und schaute sich um. Der Hafen war in Sicht und das Wasser glitzerte im Sonnenlicht. Eine Frage hatte sich aus seinen Überlegungen ergeben, die ihn nicht mehr losließ. Er schaute auf die Uhr, es war fast eins. Sollte er noch einmal umdrehen und zurück zu Töngen gehen?

Ein schrilles Pfeifen riss ihn aus seinen Gedanken. Eine rot lackierte Lok mit drei kleinen Waggons fuhr in Richtung Dorf an ihm vorbei. Er wunderte sich darüber, doch dann erblickte er im Hafen die kleine Fähre, die abgelegt hatte und sich langsam in Richtung des Hafentors schob.

Damit war seine Frage schon beantwortet.

*

Rike hatte Cordes Wagen auf dem großen Parkplatz vor dem Bahnhof abgestellt und in dem Glasgebäude gewartet, bis ein Bediensteter der Fährgesellschaft erschien. Von ihm erfuhr sie, dass die Versorgungsfähre für Langeoog um die Mittagszeit auslaufen würde. Sie setzte sich auf eine Bank und freute sich über die Sonne, deren Strahlen durch das Glas verstärkt ihren Rücken wärmten. Nach einer Weile war ein verliebtes Pärchen in winterfester Kleidung und mit Rucksack erschienen. Kurz darauf betraten eine Frau und vier Jugendliche das Gebäude. Es gab auch im Winter Passagiere, die eine Überfahrt auf eine der Inseln buchten. Urlauber, Familienangehörige oder auch nur Besucher der Insulaner. Als es schließlich Mittag wurde, hatten sich drei weitere Fahrgäste eingefunden, ein alter Mann und zwei Frauen. Eine davon trug Nonnentracht.

Rike genoss den Tag. Der blaue, wolkenlose Himmel erhellte ihre Stimmung. Trotzdem blickte sie sich ab und zu um und suchte mit wachem Blick den Parkplatz ab. Der dunkle BMW ging ihr nicht mehr aus dem Kopf.

Schließlich ertönte eine grelle Glocke und eine Frauenstimme forderte die Passagiere für Langeoog auf, die Fähre über den Landungssteg 2 aufzusuchen. Rike reihte sich in die Personengruppe ein. Noch einmal schaute sie sich suchend um. Plötzlich lief ihr ein kalter Schauer über den Rücken. Auf der Fähre stand ein Mann an der Reling, ein muskelbepackter Kerl mit Brille. Es war der Mann aus dem BMW, der mitten in der Nacht an ihrer Tür gewesen war. Rike überlegte fieberhaft, was sie tun konnte. Die Menschen gingen an ihr vorbei und strebten auf den gläsernen Steg zu. Sollte sie umkehren?

Wenn der Kerl schon an Bord war, wusste er auch, welche Insel sie ansteuerte. Die Fähren nach Norderney und Baltrum waren längst abgefahren, sie konnte nur nach Langeoog wollen. Aber wusste der Kerl auch von Töngen? Aus den Augenwinkeln musterte sie den Mann. Er hatte eine auffallend bleiche Haut und wirkte ein wenig einfältig, daran änderte auch die viel zu protzige Brille nichts. Er verbarg seine Hände in den Taschen seiner Jacke. Wahrscheinlich steckte darunter sogar eine Waffe.

Zögernd ging Rike an Bord, immer darauf bedacht, dem Fremden keinen allzu auffälligen Blick zu schenken. Offenbar war der Mann sich sicher, dass ihn Rike nicht erkennen würde, denn er blieb direkt neben dem Zugang stehen. Ein lautes Hupen zerriss die Stille. Rike fuhr zusammen. Das Zeichen zum Ablegen. Noch bevor die Landungsbrücke zurückgezogen worden war, kam ein weiterer Passagier an Bord. Ein Mann um die vierzig, groß und mit einem dunklen Kinnbart. Er ging an ihr vorüber und nickte ihr dabei freundlich zu.

Rike wartete noch eine Weile, bevor sie unter Deck ging und inmitten der Sitzbänke einen Platz belegte. Der Mann mit der Brille folgte ihr und setzte sich am Eingang auf eine Holzbank. Einen Augenblick später erschien der Bärtige und ging wortlos an dem Mann mit der Brille vorbei, um sich am anderen Ende auf eine Bank zu setzen. Rike atmete auf. Sie hatte schon befürchtet, die beiden Männer gehörten zusammen.

*

Martin Trevisan stand unter der Dusche, als das Telefon klingelte. Der auf- und abschwellende Ton wollte kein Ende nehmen. Anscheinend war der Anruf dringend. Also drehte er den Wasserhahn zu, trocknete sich notdürftig mit einem Handtuch ab, griff zum Bademantel und spurtete in den Flur. »Trevisan«, krächzte er in den Hörer.

»Hier auch«, vernahm er Grits Stimme. »Du kommst heute wohl gar nicht aus den Federn. Na ja, jetzt bist du zumindest wach.«

»Ich stand unter der Dusche«, antwortete Trevisan entschuldigend, »ich muss noch ins Büro.«

»Das ist typisch. Du und dein Büro. Heute ist Weihnachten.«

Trevisan zerbiss einen Fluch. »Was willst du?«, fragte er verschnupft.

»Paula kommt am Sonntag zu dir«, entgegnete Grit. »Dörte wird sie bringen. Ich muss nach Stockholm und komme erst am 2. Januar zurück. Hol sie um 16.03 Uhr am Bahnhof ab. Sei pünktlich! Dörte muss den Anschlusszug nach Hannover kriegen.«

Trevisan war perplex. »Was ist?!«

»Ich habe einen Job bei der Scan-Line in Aussicht und muss mich dort vorstellen«, antwortete Grit. »Sei froh, dass ich arbeiten gehe. Sonst hättest du noch weniger im Geldbeutel.«

Trevisan trat ans Fenster. Sonnenstrahlen fingen sich im matten Lack des alterschwachen Opel Corsa. Den BMW hatte Grit mitgenommen. Als Ausgleichszahlung und dafür, dass er das Haus behalten konnte, hatte sie gesagt.

»Wie stellst du dir das vor?«, erwiderte Trevisan. »Ich habe einen Job und wir sind mitten in einem Mordfall.«

»Ihr seid immer mitten in irgendwas. Tante Klara ist doch auch noch da. Du bist schließlich Paulas Vater.«

»Aber ich …«

»Immer dieses Hin und Her mit dir«, schnauzte Grit. »Ich bin es leid. Es ist so, wie es ist. Kümmere dich um sie. Ich muss dringend weg.«

Trevisan überlegte. Mit Tante Klaras Hilfe, die ein Haus weiter wohnte, könnte es klappen. Paula war schon früher oft bei ihr und Onkel Hans zu Gast gewesen. »Gut, wann soll ich sie abholen?«

»Schreib es dir auf, sonst vergisst du es wieder, so wie du oft die Sachen vergisst, wenn es um die Familie geht.«

Trevisan riss sich zusammen und unterdrückte seine Wut. »Wie geht es euch?«, fragte er, um die Spannung aus dem Gespräch zu nehmen. Ein Fehler – Grit durchschaute sein Ablenkungsmanöver.

»Wie es uns geht?«, antwortete sie schnippisch. »Das hat dich doch noch nie interessiert. Aber ich kann dich beruhigen, deiner Tochter geht es gut. Und noch etwas: In den nächsten Tagen erhältst du Post von meinem Anwalt. Ich rate dir, ebenfalls schnell einen zu suchen. Ich will es endlich hinter mir haben, verstehst du?«

»Kann ich mit Paula reden?«, fragte Trevisan.

»Du hast bald genug Gelegenheit, mit ihr zu sprechen«, erhielt er zur Antwort. Dann beendete Grit das Gespräch.

Trevisan stand noch einen Augenblick mit dem Telefonhörer am Ohr tropfend und frierend im Flur. Dann legte er den Apparat auf den kleinen Tisch. Ein Kapitel seines Lebens neigte sich dem Ende zu. Seine Augen füllten sich mit Tränen.

Pulsuz fraqment bitdi.

14,63 ₼

Janr və etiketlər

Yaş həddi:
18+
Litresdə buraxılış tarixi:
25 may 2021
Həcm:
362 səh. 5 illustrasiyalar
ISBN:
9783839264225
Naşir:
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