Ungehorsam versus Institutionalismus. Schriften 5

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Klar ist es, daß diese Vorrede die Geschichtsgründe nicht umfassender ausbreiten kann, die dafür sich bestimmen lassen; der Verfasser hat es ausgiebig in früheren Publikationen getan.18 Aber gibt es für genannten Rückschlag selbst nicht auch jene zuversichtliche andere Deutung, auf die wir endlich so zurückkommen können, da der mit ihr supponierte Lernprozeß eben von den Grünen (und den Alternativen, ja der ganzen Friedensbewegung) inzwischen geleistet wird: wir das mindestens hoffen dürfen? Und wie steht es um das – alte und neue – Verhältnis fraglicher Einübung überhaupt (um die es also immer noch geht) zu dem so betitelten Buch hier?

›Die Einübung des Ungehorsams in Deutschland‹ erschien 1964. Sie folgte einer kritischen Betrachtung nachkriegsdeutscher Merkwürdigkeiten im Jahre zuvor. Daß ›Das Land der unbegrenzten Zumutbarkeiten. Deutsche Reflexionen‹, das noch klar aus der Perspektive eines heimgekehrten Exilierten geschrieben war, unter die bundesdeutschen Bestseller geraten, ein ganzes Jahr auf deren Liste verblieben war, konnte seinem Augenabstand geschuldet, ebensogut aber auch ein Mißverständnis eben seiner kontemplativen Distanz sein: zu sporadisch nur brach es Tabus, hatte auch es schon den Streitschriftcharakter, den die heimischen Dinge herausforderten: steigend, nach meiner Erinnerung, im Jahr darauf, das mit der ›Spiegel‹-Affäre begonnen hatte. Produkt dieser Erfahrung war das Buch; seine Wirkung verstörender. Außer den Geistern, die sich an ihm schieden, gab es Verlegene, Zögernde, Schwankende, unvermutet Betretene; im ganzen viel Abwehr, wenn auch, das war ärgerlich, keine, die nicht zu erwarten gewesen war.

Daß es trotzdem sein Publikum fand, verdankte es außer sich selber der verständnisvollen Ausführlichkeit einer Rezension Ekkehart Krippendorffs in der ›Zeit‹19; und nach manchen Bezeugungen, die ich dann empfangen habe, hat es vorarbeitend auf Entwicklungen eingewirkt, die zwar drei Jahre später in den Anfang der Studentenbewegung gemündet sind, sich aber nicht in ihr durchsetzten: für eine rechtzeitige Kurskorrektur reichten die Nachwirkungen einer Broschüre aus einer ›aktuell‹ betitelten Taschenbuchreihe nicht aus. Auf der Höhe der Bewegung sagte Helmut Gollwitzer, das Buch sei zu früh erschienen20; welchen Hinweis ich mit einem Versuch beherzigte, der in Herstellung zeitlicher Symmetrie zwar zu spät kam, aber diese Wahrscheinlichkeit war in Kauf genommen: wichtiger, daß die Erkennbarkeit eines Fehlgangs, der statt aus seinem angeblichen Radikalismus aus seiner Gleichgültigkeit für Radices einer geworden war, schon zu seiner eigenen Stunde so notorisch wurde, daß es einer möglichen künftigen nützte. ›Institutionalismus und studentische Opposition‹, das unter Aufnahme von Teilen des älteren Bandes gegen Ende 1968 in den Suhrkamp Editionen erschienen ist, hatte Resonanz (auch studentische), als ein unzeitgemäßer Eingriff ins Zeitgeschehen aber durchaus keine Chance.

Aber die Antizipation seines Schlußsatzes »Das deutsche Volk kann Revolution machen nur noch gegen sich selbst« schien der Eventualität ihrer Verwirklichung um einen unauffälligen Abstand näher gebracht als vor ein paar Monaten Joschka Fischer im Bundestag – der türkische Asylsucher Altun war gerade aus dem Fenster eines deutschen Gerichts in den Tod gesprungen – das in den Ohren dieses Parlaments, dessen Sprachlosigkeit eine sprachgeregelte ist, Unerhörte aussprach: er schäme sich, Deutscher zu sein21. Das Etablissement schwieg betreten. Diese Grünen: so etwas sagt man doch nicht. Kein ganzes Vierteljahr danach verbrannten in einem Berliner Gefängnis sechs in Abschiebehaft befindliche Ausländer: die Beamten hatten ihre Zellentüren nach Ausbruch des Brandes geschlossen.22

Einer hatte gar kein Asylgesuch gestellt, nicht einmal so das deutsche Kriterium dafür, verdientermaßen eingekerkert zu werden, erfüllt. Er war Tourist auf Berlinbesuch, aber, bei permanentem Wohnsitz in Frankreich, eben Tunesier. Mehr, er hatte (wenn das nicht genügt) seinen Paß verloren! Die Gefahren, die in einem zu sorglosen Deutschland-Tourismus verborgen liegen, werden an dem Fall evident: was hätte diesem Gast, dessen sämtliche Rechte im freien Berlin, und zwar risikolos (wie sich erweisen wird) man mit Füßen trat, im Campuchea Pol Pots23 oder in Idi Amins Uganda24 noch Schlimmeres zustoßen können, um vom Ostteil der gleichen Stadt, die in der Geschichte deutscher Zivilisationsversuche doch einst eine bedeutende Rolle spielte, völlig zu schweigen? Daß diese Versuche gescheitert sind: die Barbarei, die die Nazis möglich machte, sie in so grauenhafter Greifbarkeit überlebt hat, daß eine Remedur gar nicht denkbar ist, deren erster Schritt nicht das Eingeständnis ohne Wenn und Aber dieser Tatsächlichkeit selbst wäre, ist eins der Plädoyers dieses Buches, und es heißt nicht, daß das ohne Wenn und Aber pauschalisierenden Ungenauigkeiten, ihrer Affektbetonung, die sie vom Zorn unterscheidet, das Wort redete, geschweige selbst eine wäre. Ungenau etwa wäre es, zu sagen, daß dieses ganze ja dem deutschen Weltansehen sicher nicht besonders dienliche Mißgeschick (auch im Fall der fünf andern, hatte man doch keineswegs so weit gehen wollen: ihr Verbrennungstod war nicht planmäßig) in Berlin und ganz Deutschland nicht, wenn auch nur für ein paar Tage, bestürzt hätte. Diese Bestürzung – also die des deutschen Bewußtseins – war im Gegenteil so tief, daß das deutsche Unbewußte ebenfalls alarmiert war; welcher Alarm ihm denn sogleich auch die Verteilungen jenes Rollenspiels aufzwang, das nach den Prozeßgesetzen der heimischen Psychohistorie dann bevorzugt in dem außenweltlichen separater öffentlicher Einrichtungen in Erscheinung tritt. Was konnte die Staatsanwaltschaft dafür, als sie pflichtgemäß an die Aufklärung eines Falls ging, in dem doppelte Freiheitsberaubung mit unterlassener Hilfeleistung verkettet war, daß ihre wichtigsten Zeugen, die die Haft mit den Verbrannten geteilt hatten, von der Ausländerbehörde inzwischen abgeschoben worden waren, also in sicherer Entwertung ihrer zuvor protokollierten Aussagen nicht mehr für ein Kreuzverhör zur Verfügung standen? Gar nichts. Die Kompetenzen sind klar verteilt. Ein Fall für Amtshilfe, wo es schließlich um eine Sache zwischen lästigen Ausländern und Berliner Beamten ging, nicht einmal um ministerielle Diffamierung eines unbequemen Generals, lag nicht vor.

So erhält sich die deutsche Unschuld; und weil sich nie etwas an ihr ändert, die Fälle von 1964 daher in ihrem ausschlaggebenden Aspekt, der ihr menschlicher ist, unveraltet sind, sind es auch die Analysen, Urteile und Kommentare des Buches. Desto entschiedener, als die ans Licht gebrachte Unmenschlichkeit mit einer Bewegung des Ausgrenzens immer anfängt, grenzt dieser menschliche Aspekt sie nicht wiederum aus, sondern mit der Konsequenz – die das Buch selbst noch nicht zieht – gerade ein, daß besagtes chronisches Ausgrenzenmüssen, das in Ermangelung der nicht mehr verfügbaren Juden nach einem jeweils gelegen kommenden nächsten Objekt immer Ausschau hält, selbst zum Schlüsselproblem avanciert: nämlich für eine spezielle Kritische Theorie, die als Kulturpathologie genügend Augenabstand gewonnen hätte, daß ihr das Verhältnis deutscher politischer Geschichte zu ihren psychohistorischen Konstanten thematisch wird25.

Das führt dann in theoretisches Neuland. Was sich einer solchen Perspektive Zug um Zug aufdeckt, ist die Mittelosigkeit des Landes der Mitte, eine Zentrifugalität deutschen Wesens und Werdens, die uns vor das Dilemma stellt, sie weder hier ausführen noch auf den Themenpunkt verzichten zu können, denn wie wäre je aus ihr herauszugelangen, wenn sie nicht wenigstens ansatzweise zunächst einmal in das gleiche Bewußtsein steigt, das ihrem Gesetz unterliegt? Selbst nur ansatzweise daher, zitatweise, kann dieser Themenpunkt im gegenwärtigen Rahmen umrissen werden; der fragliche Passus26 setzt bei dem Paradoxon der preußisch- »kleindeutschen« Ausgrenzung Österreichs ein, die dem vermeintlichen Nationalstaat 1866 vorausging, also »dem Herausschmiß ausgerechnet des eigenen Volksteils, an den über Jahrhunderte die Zentralgewalt des alten Reiches gebunden war […].« Er fährt fort: »Daß ein Land fortwährend auseinanderfällt, ohne daß seine Menschen es gleichfalls täten, hat gar keine Wahrscheinlichkeit, und so spaltet der deutsche Nationalismus, der so ideenleer, wie schon Nietzsche sah27, die nur gerade so leere Blut- und Eisen-Demonstration echot, nicht nur den deutschen Untertan, jetzt als Hurraschreier, von dem gleichen Subjekt als musizierendem Bildungsbürger, sondern mit einer irren Beschleunigung auch alle Identifizierungen ab, die ihn mit französischer Selbstverständlichkeit legitimieren könnten, jede mit jeglicher Menschlichkeit, jeglicher Produktivität deutschen Wesens, die im Gedächtnis der Völker blieb. Er verengt sich in dem Maße, wie er nach der Herrschaft über Europa greift, aber sein Ausgrenzendes, Abspaltendes ist von vornherein da, und es hat sein relatives Hinschwinden überdauert. Eine kritische Jugend kann hier nur ausgegrenzt, mit kriminalisierenden Etikettbeschriftungen abgespalten werden, nachträglich möchten die Unionsparteien, da es leidigerweise zugleich sich um Wahlvolk handelt, sie als psychologisches Objekt doch ans Ganze des Volks wieder anschließen […], da aber ihre Abspaltung von der Gesellschaft inzwischen an eine unübersteigbare Grenze stieß, wächst die Chance, daß mit dieser Grenze ihr die Konstanz des Spaltenmüssens selbst in den Blick gerät, das sich durch die deutsche Geschichte zieht. Wo es in seiner Axiomatik gewaltet hat, konnte es keine Öffentlichkeit, keine Hauptstadt geben, die durch diese Geschichte gedauert, eine Kontinuität kritischer Rechenschaften und das Menschentum, das sie voraussetzt, gestattet hätte, vom mittelalterlichen Herumirren der kaiserlichen Gewalt zwischen ihren Pfalzen bis zum Auseinanderfall des damaligen Landesgebiets in drei Einzelstaaten blieb Mittelosigkeit so das Kennzeichen des Landes der Mitte wie der in ihm bestimmenden Menschen. Die staatliche Aufspaltung brauchte kein Problem zu ergeben, nicht (zwischen zweien der drei) die Gefahr einer finalen Kriegskatastrophe latent zu halten, wenn die Zentrifugalität, der sie sich verdankt, selbst schon aus den Menschen gewichen wäre, diese Zentrifugalität, welfisch-waiblingerisch, römisch-wittenbergisch, preußisch-österreichisch, gegenwärtig west-östlich. Meine These ist, daß davon keine Rede sein kann; und daß, ehe nicht die Menschen dieses Landes in dieser konstant verkorksten Geschichte sich so erkennen, daß sie schließlich selbst sich als das begreifen, was da ebenso spaltet: aufspaltet, abspaltet, auseinanderspaltet, wie es als deren Opfer und Objekt dann auch selber dieser blinden Mechanik unterworfen ist, sich nichts daran ändern wird.«

 

Wenn es sich ändern soll, ist der einzuübende Ungehorsam also zunächst und sehr deutlich auch einer gegen die Herrschaft des bisherigen deutschen Geschichtsgesetzes in der jeweils eigenen Seele; was nicht heißt, daß nicht auch gerade dies nicht weit chancenreicher schon in praktischer Auseinandersetzung mit öffentlichen Mißständen sich vollzieht als in vermeintlicher Vorbereitung solcher Praxis in jener Innerlichkeit, die es effektiv doch wieder von ihr abspaltete. Eben unter dem Gesichtspunkt dieser schwierigen Einheit wird nach aller Kritik eine Rehabilitierung der Studentenbewegung fällig, die der genannten zuversichtlicheren Deutung entspricht: emanzipatorische Vorstöße können nur erreichen, was dem jeweils letzten als fernere Aussicht, von ihm selbst noch nicht realisierbare, schon gedämmert hatte. Wie die Studentenbewegung Walter Benjamins Thesen zum Begriff der Geschichte28 entdeckte, nur ihre Rückanwendung auf die eigene noch nicht zu vollziehen imstande war, hat ihr Interesse an der Psychoanalyse zwar nicht ausgereicht, das deutsche Geschichtsgesetz in sich selbst zu brechen, diese Problemdimension aber offenbar ahnungsweise, in Überschreitung ihres marxstischen Horizonts, schon entdeckt.

Wenn es in der Psychohistorie jeder Gesellschaft mitten durch ihre Teilhabe an noch so rasanten Veränderungen hindurch – eigenen oder allgemeineren – Züge gibt, in denen ihre Eigenart sich behauptet, in jeder Situation wieder aufersteht, in jeder noch in ihren Abwandlungen, ja gerade in deren Element, wiedererkennbar wird, können das höchst produktive sein. Ihr Unproduktives im deutschen Fall liegt an keinem Konfliktcharakter der festgestellten Zentrifugaltendenz, sondern gerade daran, daß diese jede artikuliert offene Austragung von Konflikten vereitelt. Denn die jeweiligen Spaltprodukte wenden von einander sich ab wie die Antlitze der Medusa. Sie sind einander nicht konfrontiert, haben wie jene nur gleichsam an den Hinterköpfen miteinander Berührung, und so können sie das Argument des anderen zwar ad libitum, nach deutscher Glaubenskriegertradition, mit diffamierenden Etiketten bekleben, stehen ihnen aber so wenig Antwort wie sich in der Sprachpraxis unserer Strafgerichte und der Debattenkultur des Deutschen Bundestags zeigt und die Angst der etablierten Gesellschaft schon vor der Fragerichtung, die Freud begründete, sehr begreiflich macht. Einschlägig hier ist ihr Projektionsbegriff29. Die Antwortlosigkeit könnte nicht bestehen bleiben, zöge die Spaltung, der sie sich verdankt, sich zunächst nicht so nachweisbar durch den jeweils nicht Antwortenden selber, daß er auch sich schon so wenig Antwort wie Martin Luther steht, der kein Dekalog-Gebot dringlicher einschärfte als jenes Achte30, das da verbietet, falsch Zeugnis gegen den Nächsten zu reden; was den Reformator nicht nur nicht hinderte, die Bauern31, die Juden32 und Thomas Müntzer samt Anhängerschaft33 zu verleumden, sondern seine Emphase so dem verdrängten Wissen verdankt haben muß, daß er dies tat, wie sie umgekehrt diesem Tun die für es benötigte Gewissensruhe des Bekenntnisses schuf, das die Zentrifugalität erst vervollständigt, da es konfliktlos eine ihm entgegengerichtete Praxis nicht nur verdeckt, sondern für sie zum Ersatz wird. Erstaunlich trat diese Konstellation an jenem Radikalenerlaß der frühen Siebziger wieder zutage, der den zwanzig Jahren seit der Erstausgabe der ›Einübung‹ den sozialliberalen Akzent setzte, da er vier Grundgesetzartikel: 3, 5, 21 und 33 auf einmal brach und Willy Brandt, der ihn unterschrieb, ihn zwar später angesichts von Folgen, die durchaus voraussehbar gewesen waren, bedauerte, aber mit Begründungen, die so auffällig an der bloßen expediency dieser duckmäuserischen Konsequenzen haftete wie ihm zuvor für die Unterschrift der Schein einer andern genügt hatte34: die tradierte Gemeinsamkeit eines Unverständnisses dafür, daß gerade das Formalste am Recht und Rechtsbruch die denkbar inhaltlichste Bedeutung politisch hat, verband kurios den SPD-Chef mit einigen unter den Betroffenen des Erlasses. Inwiefern aber kam mit diesem selber das Schizoide am Glaubenskriegertum neu hervor? »Schon die schnüffelnde Klebrigkeit seines Bekenntnisgebots«, war ihm 1977 nicht nur im Rückblick auf ihn, auch im Hinblick auf den Umstand, daß er in einigen Bundesländern nach wie vor in Geltung ist, zu bescheinigen, »ruft in Paris einen Schauder, ein Gelächter oder beides zugleich auf den Plan, dieses ununterdrückbare Unbehagen normal Gebildeter, die normal reizbare Nerven haben, das einem falschen Ton dort gewiß ist. Da die Höflichkeit es aber ebenfalls ist, unterstellen dennoch die Schaudernden es als selbstverständlich für die Bekennenden, wieviel fragloser noch für die Machtträger, die ihnen solche Bekenntnisse abfordern, daß sie vorerst und allerwenigstens die Bestimmungen des Dokuments selber einhalten, dem sie so feierlich sich geweiht haben. Mit dieser nüchtern schlichten Erwartung sind die Pariser aber dann total auf dem Holzweg, verpflichtet doch ein deutsches Bekenntnis zum Grundgesetz den so Eingeschworenen im Gegenteil gerade zur Begehung, Begünstigung, allermindestens Bemäntelung von Verfassungsbruch, und wie gefährlich es dann in der Tat ist, in zweiundzwanzig Dienstjahren keinen begangen zu haben, ist dem Postbeamten Hans Peter ja gerade erst durch einen bundesverwaltungsgerichtlichen Spruch notifiziert worden, der in Treue zu dem beschriebenen Prinzip sich schon seinesteils auf einen Verfassungsbruch von kyklopischer Solidität stützt35. Es ist derjenige, den im Mai 1975 das Bundesverfassungsgericht selbst verübte, als es legale Parteien zweierlei Rechts schuf, seine eigene Prärogative zugunsten der Exekutivgewalt über den Haufen warf und durch Wiedereinführung, gegen Artikel 3, eines unappetitlichen nazistischen Rechtsbegriffs, der auf eine Feindlichkeit, eine behauptete, also auf Gesinnung, nicht reales Verhalten zielt, seinen traditionsreichen Eidbruch vor den Augenklappen des Volkes vollendete36; also in öffentlichster Öffentlichkeit doch klammheimlich, welcher in einer authentischen westlichen Demokratie schon den Schulkindern unbegreifliche Widerspruch uns bereits an die Erkenntnisschwelle des Syndroms bringt, das von München bis Sylt auf die Couch müßte.«37

Während die letztere nicht buchstäblich zu nehmen ist, ist das Gemeinsame an ihr und an ihren möglichen sozialklinischen Äquivalenten der Gewinn einer produktiven Rechenschaft über den eigenen Lebensweg. Unter diesem Gesichtspunkt fällt das Gleichgebliebene an den deutschen forensischen Zuständen jetzt und damals auf. Ebenso als Slogan, der auf stentorische Brusttöne immer rechnen kann, wie als stetig weiterverfallener Slum, der ihn aufs erbärmlichste Lügen straft, hat die Wirklichkeit des Rechtsstaates von ihrem 1964 registrierten Zynismus nichts eingebüßt. Dessen Ruchlosigkeit scheint eher gewachsen, nach wie vor wurde kein Mörder, wenn er nur die Richterrobe trug, von den Kollegen verurteilt, nach wie vor sind die Pensionsberechtigungen der fraglichen Staatsdiener oder auch ihrer Hinterbliebenen ein Vielfaches der Ansprüche ihrer Opfer wert, und nach wie vor, nach einer sagenhaften Bilanz des Justizmords, ist im bundesdeutschen Strafrecht eine zweite Tatsacheninstanz mit der schäbigen Begründung nicht eingeführt, daß sie (das reichste unter den größeren Völkern Europas) zu teuer komme. Daher sitzt der Hilfsarbeiter Otto Fischer weiter in der Justizvollzugsanstalt Rheinbach ein, nach brüchigster Beweisaufnahme, windigster Urteilsbegründung, lebenslänglich wegen eines Raubmords, dessen Verübung inzwischen nach Zeugenaussagen sein Schwiegersohn unter Alkohol eingesteht38, das ist peinlich, gewiß, aber man bedenke doch gefälligst, wie es für einen Richter auch lästig ist, der ja die Rechtskraft auf seiner Seite hat, die ein so patenter deutscher Ersatz für die Wahrheit ist; daher aber auch für einen andern Richter, wenn er zeitraubenderweise einen Wiederaufnahmeantrag zu prüfen hat, der über das Prestige des Kollegen hinaus das des Rechtsstaates selbst in Gefahr bringt; weswegen dieser denn auch solchen Anträgen Riegel vorschob, die zwar ohnehin schwer sich öffnen lassen; benetzt aber erst von dem Schweiß, den das Begründen einer Ablehnung meistens kostet, die deutsche Rechtssicherheit einfach dadurch verstärken, daß sie nicht rostfrei sind. An alledem – es ist einschneidend, das unverblaßt in der Erinnerung zu bewahren – hat im Zeichen von Sozialliberalität sich nicht nur nicht das geringste geändert: sondern »vor dem Spektakel einiger desparater Straftaten, die nach Jahrzehnten restaurativer Grundgesetzbrüche sich auf deren gewaltseliges Gelände verirrt hatten, aber um astronomische numerische Abstände hinter dem deutschen Europarekord an Kindesmißhandlungen und der Terrorrate von Autobahnen zurückblieben, auf denen das Mörderische ihres Begründers noch posthum an jedem Sommerwochenende sich tummeln darf: in Harmonie mit einer unionschristlichen Bestimmung freier Entfaltung (die Geschwindigkeitsbeschränkungen ausschließe) der Persönlichkeit 39, schwanden die Rechtsstaatsschwüre der Politiker, statt souverän sich gerade an dieser Herausforderung zu bewähren, wie Schnee an der Sonne.«40

Darum kann die Einübung gar nicht in Gang kommen, wenn sie sich nicht auf den Rechtsstaatsbereich zumal konzentriert. »Dazu gehört die Zerstörung des Nimbus der atavistischen deutschen Jurisprudenz, der ihr spätestens nicht mehr zusteht, seit die Mehrheit der deutschen Richter und Staatsanwälte ihre Gleichschaltbarkeit – der sie offenbar nicht im Wege stand – zu Beginn einer Gewaltherrschaft von notorisch vorangekündigter Kriminalität unter Beweis stellte«41. Die Schutzbehauptung dieses Standes – auf dessen Generationswechsel es nach aller Geschichtserfahrung nicht ankommt, da eine solche Vorstellungswelt und ihre Verfahrensweisen sich auf dem Weg institutioneller und gesellschaftlicher Traditionen erhalten –, man habe 1933 ja nicht wissen können, wohin der Weg gehe, ist schlichter Schwindel, längst war nicht nur ›Mein Kampf‹ veröffentlicht, auch das Glückwunschtelegramm von Potempa bekanntgeworden, in dem Hitler sich mit den Meuchelmördern eines polnischen Landarbeiters identifiziert hatte. Gerade nach damaligem Recht, das nur schon damals, wenn es jenem Stand paßte, gebrochen wurde, war er so disqualifiziert, in Braunschweig Beamter zu werden (und damit Bürger des Reiches) wie noch seine angebliche Qualifiziertheit dazu herhielt, den Radikalenerlaß zu begründen: ein solcher würde den Vorgang (»Bonn ist nicht Weimar«42) verhindert haben. Was ergibt sich aus einer solchen Klitterungsbereitschaft und -leidenschaft dort, wo nach den Anforderungen des Berufs die penibelste Wahrhaftigkeit zu verlangen wäre? Da die deutsche Rechtstradition sich nicht nur historisch blamiert hat, auch weder fähig ist, es wenigstens einzugestehen, noch erst recht, aus ihren diskreditierten Verhältnissen auszubrechen, kann man sich auch auf sie und ihr von westlichen Normen Abweichendes nicht berufen: was dann die einfache Forderung zeitigt, die der Justizpolitik der Grünen hier zur passenden Verwendung empfohlen wird, Differenzen über Menschen- und Bürgerrechte künftig dem Schiedsspruch von Rechtsexperten aus den politischen Kulturen anheim zu stellen, denen diese Freiheitsnormen entstammen.

 

Da noch in Fällen, in denen sich diese Diskreditierung erneuert, mag auch das jeweils verfügte Unrecht zum Himmel stinken, nichts Konsequenzen hat, konnte dem unbereinigt gebliebenen Fall Altun, in dem zwei Ministerien das grundgesetzliche Asylrecht gebrochen haben, die Sache der sechs verbrannten Abschiebehäftlinge binnen einem Vierteljahr folgen. Aber wie kann (in diesem Sinn) in einem Volke eigentlich nichts Konsequenzen haben: weder Grauen noch Lächerlichkeit töten, ja es noch immer so wenig tun, wie schon Wilhelm 1908 zwar das Gespött sogar der eigenen Gesellschaft geworden war43, sie aber trotzdem sechs Jahre später in seinen dummen nibelungischen Krieg führte, und wie erträgt sie heute Parlamentarier, die so marionettenhaft in Untersuchungsausschüssen nach ihrer jeweiligen Parteizugehörigkeit abstimmen, daß eine bundesdeutsche Aufdeckung von Watergate-Art den Horizont jeglicher Vorstellung übersteigt: schon den deutscher Kinder? Offenbar läuft die Zentrifugalität, deren geschichtliche Macht hier vermerkt wurde, durch die Menschen auch selbst: Unrecht bereitet Angst, da sie diese nach deutschen Sozialisationszwängen aber nicht haben dürfen, deshalb Angst vor der Angst – und dann wiederum welche vor jener – haben, sind sie mit diesem infiniten Regreß viel zu beschäftigt, um in öffentliche Mißstände einzugreifen.

Mit der ersten der besagten Ängste wird jede deutsche Herausforderung abgespalten: wie könnte da republikanisches Wesen, wie eine Praxis zustande kommen, die ihr entspräche? Und wie könnten beide auf die Dauer ausbleiben – andererseits –, wo man dem beschriebenen Verdrängungszwang den Gehorsam kündigt: vor der Angst keine mehr hat, sondern sie sich, wie auch den Mitmenschen, so ermutigend eingesteht, daß es sie zu Gleichem bewegt? Mit den wachsenden und sich vernetzenden Gruppen sich so verhaltender junger Leute, der Resonanz ihrer Stimmungen bei den Grünen, denen noch das Voraussagbare widerfährt, daß ein Etablissement sich als ihr Zensor, sprüche- und schulterklopfender Schulmeister aufspielt, das mit seiner selbstbescheinigten Realpolitik sich in allem, im Unterschied zu ihren Voraussagen, bloß geirrt hat, ist mitten in Kohls Wende, die überwältigend, da sie geistig-politisch ist, über unent-flick-bare Korruptionsmysterien hin zur schummrigen Strichjungenpräokkupation der Landesverteidigung jetzt die Kurve kriegt, etwas eventuell Entwicklungsfähiges aufgekeimt, das der Resignation widerrät.

Zu seiner Orientierung in dieser Wende-Landschaft, die etwas Sumpfiges hat, täte es gut daran, so erratend in den Köpfen des Gegners zu denken44, daß es ihn seiner Widersprüche sinnfällig schlagender überführen kann als bisher deutsche Regel war. Etwa den Nationalen, jeglicher Parteicouleur, wäre einfach im Bundestag, wenn er wieder einmal die Einheit der Nation beschwört, dabei auf Einmütigkeit bisher zählen konnte, Goethes Distichon samt der Geschichte entgegenzuhalten, die es seither furchtbar bestätigt hat, zur Nation sich zu bilden hofften die Deutschen vergebens45. Über die atmosphärische Wandlung hinaus, die das, man bedenke doch! mit sich brächte, da das Unglaubliche damit geschähe, daß die deutsche Literatur in einem deutschen Parlament nicht mehr ausschließlich von fremden Präsidenten, die als Besucher vor ihm reden, zitiert würde, leitete es zu dem Hinweis über, auf den die Phantasielosigkeit, die sich für die deutsche Linke hielt, nie gekommen ist, daß sich sämtliche Katastrophen der deutschen Geschichte unter Regierungen der Rechten vollzogen haben; und als Resultat dieser Borniertheit, die aus einer Erschleichung des westeuropäischen Nation-Begriffs, die dessen Freiheitsmoment abspaltete, national hieß, die europäischen Gebiete deutscher Sprache inzwischen auf eine traurige Hälfte ihrer Ausdehnung um 1800 geschrumpft sind.

Was solche Themen jetzt (und es gibt mehr davon) aktuell macht, ist das seit der Pershing-Krise offenbarer gewordene Souveränitätsproblem der bundesdeutschen Gesellschaft. Zum ersten Mal ist es sehr greifbar (was in Frankreich etwa gar nicht auffiele) eins der Linken. Indem wir uns ihm nähern, fällt der Blick auf die neueste, klinischste Morbiditätsform des perennischen Abspaltungsdrangs deutscher Seelen, die wir ihren Onkelkomplex nennen wollen.