Glaube Liebe Stigmata

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KAPITEL 11

Chiara und Silveria saßen in einer sonnigen Nische hinter der Kirche und lasen. Die Steine der Mauern waren warm, das Gras war weich, es duftete nach Thymian, Grillen zirpten. Silveria hatte eine Zeitungsseite mitgebracht, wie so oft, wenn ihre Mutter Reste von den Festlichkeiten des Conte De Luca und der Contessa mitnehmen durfte, auf deren Gut sie arbeitete. Gestern war so ein Fest gewesen, und heute hatte Silveria ein Stückchen Fleischpastete aus dem Zeitungspapier gewickelt und unten auf der Rückseite eine Liebesgeschichte entdeckt. Schnell hatte sie das Stück Papier in ihrer Rocktasche verschwinden lassen.

Chiara lehnte sich zurück. Über ihr breitete sich der azurblaue Himmel aus. Schwalben hatten unter dem Dach der Kirche ihre Nester gebaut und flogen unermüdlich hin und her. Leise fiepten die Jungen, wenn die Eltern Würmer und Käfer brachten. Während Silveria mit sanfter Stimme vorlas, sah Chiara eine Prinzessin, einen geizigen Vater, böse Entführer und einen mutigen Grafen vor sich. Der Held schlich durch einen düsteren Park, hinter jedem Baum lauerte Unheil, Schlosswachen patrouillierten nur wenige Meter entfernt an ihm vorbei, ein Hund schlug an, Türen quietschten. Chiara hielt die Luft an, als sich Schritte in den dunklen Gängen näherten. Silveria flüsterte, wisperte, las lauter. Stimmen hallten, verklangen wieder und an die Wand gedrückt schlich der Graf ins Verließ hinunter. Dort war seine Geliebte gefangen, er musste sie befreien. Er stieß die Tür zu ihrem Verließ auf, und Silveria sagte: »Fortsetzung folgt.« Zeitungspapier raschelte.

Chiara setzte sich auf. »Was ist? Lies doch weiter.«

»Hier steht nichts mehr.«

»Aber die Geschichte ist doch noch gar nicht zu Ende. Er hat die Prinzessin doch noch nicht befreit. Soll das schon das Ende sein?«

»Ich weiß nicht.« Silveria drehte die Seite hin und her.

»Was heißt denn ›Fortsetzung folgt‹?«

Silveria runzelte die Stirn, während sie den Zeitungsausschnitt auf den Knien glatt strich. »Hm … dass die Geschichte noch weitergeht?«

»Ja, aber wann denn?« Chiara hätte am liebsten laut geflucht.

»Wahrscheinlich in der nächsten Ausgabe der Zeitung. Aber das muss ich Mamma fragen.« Silveria stand auf, faltete das Blatt zusammen und steckte es in ihre Rocktasche. »Komm mit.«

»Aber deine Mutter arbeitet doch gerade,« sagte Chiara, während sie vor Wut ein paar Grashalme abrupfte.

»Ja, na und? Dann gehen wir eben zum Gut. So weit ist das nicht. Mamma läuft da jeden Tag hin. Und ich war schon mal mit.«

Der Weg zum Landsitz des Conte De Luca schlängelte sich über Hügel und durch Felder. Das Korn war fast überall geerntet. Nur selten spendeten Pinien Schatten, die Sonne brannte an diesem Nachmittag heiß vom Himmel. Verschwitzt und grau vom Staub standen Chiara und Silveria eine Stunde später vor den Toren des Gutes. Von dem lang gezogenen Bau blätterte gelber Putz. Oben auf dem Dach reihten sich Putten aus Gips aneinander, denen hier und da einige Gliedmaßen fehlten. Auf der Dachterrasse war ein Sonnenschirm aufgespannt, darunter standen Tisch und Stühle mit weißen Sitzkissen. Vor der geschwungenen Haupttreppe des Gutes säumten Terrakottatöpfe mit Palmen die Auffahrt. Kein Mensch war zu sehen.

Chiara folgte Silveria um das Gebäude herum zum Hintereingang, der ein Stockwerk tiefer lag, als die Wohnräume des Conte. In ihrem Bauch kribbelte es. Die Tür stand offen, Geklapper drang aus den Hauswirtschaftsräumen. Sie traten in einen breiten Flur, von dem Küche, Lagerräume und Waschküche abgingen. Silveria lief ohne zu Zögern in die Küche. Dort knetete ihre Mutter mit hochrotem Kopf Teig für die Nudeln. In der einen Ecke polierte ein Küchenmädchen die Kupfertöpfe und summte ein Lied. An einem großen Arbeitstisch in der Mitte des Raumes standen vier weitere Mädchen mit Hauben und Schürzen. Sie schälten Zwiebeln, putzten Pilze, schnitten Tomaten in kleine Würfel, eine raspelte ein großes Stück Käse. Bratenduft stieg aus einem der Öfen auf. Es war heiß.

»Mama, was heißt ›Fortsetzung folgt‹?«, fragte Silveria, die an allen vorbeiging und sich hinter sie stellte.

Ihre Mutter zuckte zusammen und ließ den Teigklumpen fallen.

»Kind, was tust du hier?« Sie strich sich die kräftigen Hände an der gestreiften Schürze ab und blickte erst zu Silveria, dann zu Chiara. Schließlich hob sie den Teig vom Boden auf. »Jetzt hast du mich so erschreckt, dass ich die Pasta noch mal machen kann.« Sie strich über den Klumpen, klatschte ihn zurück auf die bemehlte Marmorplatte und knetete weiter. »Du hast hier nichts zu suchen, das weißt du doch. Und deine Freundin auch nicht.«

Hitze stieg in Chiara auf. Das Küchenmädchen polierte weiter. Alles strahlte blitzblank, sie wagte kaum, sich zwischen den vielen Arbeitsplatten, Regalen, Schränken und Spülen zu bewegen. Die anderen Mädchen kümmerten sich nur um ihr Gemüse und unterhielten sich leise. Sachte klopfte sich Chiara den Staub aus dem Leinenkleid.

»Mama, wir wollen doch nur wissen, was ›Fortsetzung folgt‹ heißt. Dann gehen wir auch gleich wieder«, sagte Silveria, während sie sich mit beiden Armen auf die Arbeitsplatte stützte.

»Komm, steh hier nicht im Weg. Ich muss mich ranhalten. Die Contessa kann jeden Moment kontrollieren, ob für das Abendessen alles fertig ist.« Silverias Mutter streute Mehl auf die Platte.

»Bitte, Signora Lidia, wir müssen das wirklich wissen.« Chiara trat neben sie. »Die Geschichte ist so aufregend, aber sie kann noch nicht zu Ende sein. Deshalb müssen wir das Ende finden.«

»Na, ihr seid mir ja zwei Nervensägen.« Signora Lidia nahm ein Nudelholz vom Regal über der Arbeitsplatte und drückte es mit Schwung in den Teig. »Das weiß ich doch nicht. Ich kann ja nicht mal lesen, woher soll ich so etwas wissen?«

Silveria ging um den Arbeitstisch herum, griff zwischen den Küchenmädchen hindurch und schnappte sich ein Stückchen Käse. Blitzschnell steckte sie es sich in den Mund. »Und wer kann das denn wissen?«, fragte sie kauend.

»Silveria! Lass das«, rief eins der Mädchen. »Das ist für das Abendessen der Gäste.«

Chiara machte einen Schritt zur Tür, am liebsten wäre sie sofort wieder verschwunden.

»Von uns weiß das keiner«, sagte Signora Lidia und deutete mit dem Kopf in Richtung der Küchenmädchen. »Nur die Contessa weiß das. Immerhin ist das ihre Zeitung gewesen.«

»Was kann nur ich wissen?«, sagte eine scharfe Stimme auf der anderen Seite der Küche.

Eine junge Frau trat ein. Chiara sog die Luft ein. Die Contessa war schlank, hatte die brünetten Haare kunstvoll hochgesteckt. Sie trug ein dunkelblaues, bodenlanges Satinkleid mit weißen Paspeln, die vorn und hinten v-förmig zusammenliefen. Am Hals rahmte weiße Spitze den dezenten Ausschnitt. Es war kein Festtag, trotzdem trug die Contessa ein feines Kleid. Vermutlich zog sie jeden Tag so ein Kleid an, immerhin war sie eine Adlige aus Neapel. Unter ihrem linken Ohr hatte sie ein Muttermal, ein kleines Herz. Nur mühsam konnte Chiara den Blick losreißen. Sie war wunderschön.

»Ist für heute Abend alles in Ordnung?«, fuhr die Contessa fort, während sie die Küche musterte. »Was machen denn die Kinder hier?«

Alle Mädchen unterbrachen die Arbeiten und knicksten.

Auch Silveria knickste. Chiara tat es ihr schnell nach. Sie war noch nie einer Contessa begegnet und mit einem Mal kam sie sich in ihrem staubigen Leinenkleid noch schmutziger vor. Es war vielleicht doch keine so gute Idee gewesen herzukommen.

»Contessa, bitte verzeiht«, sagte Signora Lidia, »die beiden sind einfach aufgetaucht, ohne meine Erlaubnis. Das wird nie wieder vorkommen. Für heute Abend haben wir alles im Griff. Das Kaninchen schmort im Ofen, die Pasta ist so gut wie fertig, das Dessert ist bereits kalt gestellt. Die …«

»Schon gut, Lidia, ich sehe, es fehlt an nichts. Der Conte kümmert sich nachher persönlich um den Wein.« Sie ging um den Arbeitstisch herum und blieb vor Chiara stehen. »Und wer bist du? Silveria kenne ich ja, aber dich habe ich hier noch nie gesehen.«

Chiara knickste noch einmal. »Ich bin Chiara Forgione«, sagte sie leise und blickte auf ihre nackten Füßen.

»Schön, Chiara, also. Aber was kann nur ich wissen?« Sie runzelte die Stirn.

Chiara und Silveria sahen sich an. Die Contessa war also wirklich so streng, wie die Leute im Dorf immer erzählten. Über die Geschichte in der Zeitung hatte Chiara das völlig vergessen. Sonst wäre sie nicht mit Silveria hergekommen. Jetzt machten sie sich lächerlich und brachten Signora Lidia in Schwierigkeiten.

Chiara schwieg, auch Silveria sagte kein Wort.

»Nun? Red schon, ich habe noch anderes zu tun.«

Silveria zog den Zeitungsausriss aus ihrer Rocktasche und hielt ihn der Contessa hin. »Wir haben die Geschichte hier gelesen, aber sie ist noch nicht zu Ende. Und da wollten wir wissen, was ›Fortsetzung folgt‹ heißt.«

Die Contessa nahm das Zeitungsstück, drehte es hin und her, las eine Weile. »Das ist der Fortsetzungsroman im Feuilleton. Wie kommt ihr daran?«

Rasch berichtete Signora Lidia von den eingewickelten Speiseresten und den alten Zeitungen.

»Ah, na dann. Und was habe ich damit nun zu tun?« Sie ließ das Stück Papier auf die Arbeitplatte gleiten.

»Wir müssen wissen, wie es weitergeht«, sagte Chiara. Sofort schlug sie sich die Hand vor den Mund. Warum musste sie immer so vorlaut sein?

Die Contessa hob die linke Braue hoch. »Ihr lest Romane? Na, das ist ja mal was in dieser Einöde.« Sie spitzte die Lippen. Schließlich fuhr sie fort: »Also, wenn es euch glücklich macht, gebe ich Signora Lidia die Seite mit der Fortsetzungsgeschichte für euch mit, sobald ich das Feuilleton ausgelesen habe. Ich brauche sie dann eh nicht mehr.«

 

Chiara und Silveria sahen sich an. Chiara spürte ein Flattern im Bauch. »Das wäre so schön.« Sie strahlte die Contessa an.

»Von wann ist eurer Kapitel?« Die Contessa überflog noch einmal die Überschrift und die ersten Zeilen. »Hm, das müsste der Teil von vor drei Tagen gewesen sein. Kommt mit, wir schauen uns einmal die Zeitungen von gestern und vorgestern an, ob das passt.«

Chiara und Silveria folgten der Contessa durch einen breiten Flur mit rotem Terrakottafußboden die Treppen hinauf und durch einen langen Gang mit einem hohen, bemalten Gewölbe. Düstere Portraits von blassen Adligen mit hellen Augen und langen Nasen hingen an den Wänden. Manche Männer trugen glänzende Brustpanzer, die Frauen weite Reifröcke und weiße Perücken. Chiaras Blick huschte von einem Gemälde zum nächsten.

»Sieh mal, da«, flüsterte Silveria und zupfte sie am Ärmel. In der einen Ecke stand eine Ritterrüstung mit Lanze und Schild.

Als die Contessa durch eine hohe Tür eilte, blieben Chiara und Silveria im Gang stehen und lugten in den großen Salon. Durch die offenen Fenster wehte die warme Herbstluft und bewegte sanft die weißen Gardinen. Auf der weiten Terrasse dahinter standen zierliche Stühle und Tische. Die Contessa trat an einen Tisch mit verschnörkelten Beinen, auf dem ein Stapel Papier lag. Sie wühlte darin herum und warf achtlos Teile der Zeitungen auf den Boden. Dann wandte sie sich zu einer der Anrichten mit Steinintarsien, auf denen bauchige Porzellanvasen mit üppigen Blumensträußen standen. Auch zwischen den Vasen lagen Zeitungen.

»Da ist sie ja«, brummte sie, während sie eine Ausgabe unter einem Damenjournal hervorzog. Sie sah zu Chiara und Silveria. »Kommt ruhig rein. Hier, das ist die Zeitung von vorgestern, und das ist die Fortsetzung von eurem Kapitel. Die könnt ihr schon mal haben. Die Zeitungen von gestern und heute habe ich noch nicht ausgelesen. Ich gebe sie morgen Signora Lidia mit.« Sie ging zum Schreibtisch, bei jedem Schritt auf den dicken Teppichen raschelte der Satin ihres Kleides. Sie holte eine kleine silberne Schere aus einer Schublade, schnitt den Artikel aus und reichte ihn Silveria.

»Danke, Contessa«, sagte Silveria und machte einen Knicks.

»Vielen Dank, Contessa«, sagte Chiara und knickste ebenfalls. »Das ist sehr nett von Ihnen.« Ihr Blick fiel auf die Gemälde an den Wänden. Sie zeigten Bauersfrauen in Leinenkleidern und Schürzen, die Wasserkrüge in den Händen hielten oder Weidenkörbe auf dem Rücken trugen. »So etwas hat noch nie jemand für mich gemacht«, fügte sie hinzu.

»Schon gut, Chiara. Wenn zwei aufgeweckte Mädchen vom Land wie ihr mal etwas anderes lesen als die Bibel, muss ich das unterstützen. Etwas Abwechslung kann ja nicht schaden, oder?« Sie zwinkerte. »Sonst bleibt die Landbevölkerung ja weiter dumm.«

Chiara klatschte in die Hände, und Silveria nickte. »Vielen Dank, Contessa.« Sie faltete den Zeitungsausschnitt vorsichtig zusammen. »Auf Wiedersehen.«

»Auf Wiedersehen, Kinder.« Die Contessa griff nach der neuesten Zeitung und schmunzelte leicht.

Lachend rannten Chiara und Silveria zurück in die Küche. Ihr Mut hatte sich ausgezahlt. Nun würden sie erfahren, wie die Geschichte ausging.

Und tatsächlich brachte Signora Lidia nun jeden Abend einen neuen Zeitungsausschnitt mit. Chiara traf sich mit Silveria nachmittags hinter der Kirche, und gemeinsam lasen sie die Abenteuer von Adelsdamen, Musketieren, Grafen, Elenden, einfachen Mädchen, Geschichten von verlorener Ehre, ungewollten Kindern, von Krankheit, Tod und echter, wahrhaftiger Liebe. Für Chiara war es der schönste Moment des Tages. Auf einmal waren der stinkende Vico Storto und Mammas Gemecker, weil sie angeblich so faul war, ganz weit weg. Nach ein paar Sätzen trug sie keine zerschlissenen Kleider mehr und musste nicht mehr mit ihren widerspenstigen Haaren kämpfen, sondern verwandelte sich in eine grazile Prinzessin, der die hohen Herren den Hof machten. Signor Caccavo würde diese Geschichten bestimmt nicht gutheißen, und ob Francesco sie billigen würde, da war sie sich auch nicht sicher. Aber Chiara schob diese Gedanken beiseite und träumte von ihrem Prinzen, der sie eines Tages aus diesem trostlosen Dorf retten würde. Er würde sie mitnehmen nach Neapel, würde Bälle für sie veranstalten, ihr schöne Satinkleider und elegante Schuhe kaufen und sie jeden Tag mit einem neuen Geschenk überraschen.

Und sie müsste nicht in das düstere Kloster.


KAPITEL 12

Es war an der Zeit, nach dem Jungen zu sehen. Die Jahre waren im Handumdrehen vergangen, aber Padre Carmelo hatte das Versprechen, das er Francesco gegeben hatte, nicht vergessen. Nun dürfte der Junge fünfzehn sein, bereit für das Noviziat. Und wenn er dem Unterricht des Kaplans gefolgt war, sollte er ordentlich lesen und schreiben können. Aber genau das musste Padre Carmelo vor Ort überprüfen.

Er trat aus dem Kloster. Vom Abt hatte er die Erlaubnis für seinen Gang nach Pietrelcina eingeholt und sich abgemeldet. Es war ein kalter Januartag, als er sich auf den Weg machte, der ihm kürzer vorkam als beim ersten Mal. Schon stand Francesco vor ihm. Er war gewachsen, auf seiner Oberlippe und am Kinn entdeckte Padre Carmelo den ersten zarten Bartwuchs. Der Junge war so weit. Der Vater war noch immer in Amerika, die Mutter ließ den Sohn ziehen. Padre Carmelo blieb eine Nacht.

Am nächsten Morgen verabschiedete sich Francesco von seiner Familie. Padre Carmelo stand schweigend daneben. Zum ersten Mal in seinem Leben verließ der Junge sein Zuhause. Seine Wangen färbten sich mal rot, mal wurden sie leichenblass. Deutlich fiel auf, dass sein rechtes Ohr etwas weiter abstand als das linke. Francesco überragte seine Mutter um ein paar Zentimeter, seine großen dunklen Augen blickten ernst, die hohe Stirn war leicht gerunzelt. Seine Hosenbeine endeten an den Knöcheln, auch die Ärmel seiner Jacke waren zu kurz. Verloren stand er in der Küche, kratzte sich immer wieder den linken Handrücken. Matteo schüttelte ihm stumm die Hand, Flora und Pasqualina kicherten nur und liefen nach einer kurzen Umarmung aus der Küche. Die Mutter drückte ihn fest an sich und wollte ihn nicht loslassen. Schließlich knöpfte sie seine abgewetzte Jacke zu, zog sein Halstuch zurecht und reichte ihm einen Proviantbeutel.

»Pass auf dich auf, Francì. Trag immer deine lange Unterhose, damit du dich nicht verkühlst. Padre Carmelo, könnt Ihr bitte darauf achten, dass der Junge sich auch immer warm genug anzieht? Er ist so kränklich.«

Padre Carmelo nickte.

»Mamma, bitte. Ich bin kein kleines Kind mehr.« Er hängte sich den Beutel über die Schulter. »Ich pass schon auf.«

»Und mach mir keine Schande, Francì. Folge immer brav Padre Carmelo. Hast du verstanden? Der erste Francesco hätte es auch so gemacht.« Sie strich ihm eine Strähne aus der Stirn, setzte ihm eine Kappe auf. »Nimm das.« Sie drückte ihm einen Rosenkranz in die Hand. »Damit du dich immer an mich erinnerst.«

Francesco starrte auf das Kettchen mit den Holzperlen. Langsam lies er es in seine Jackentasche gleiten und schniefte leise. In seinen Augen glitzerte es. Er zitterte, versuchte aber, es sich nicht anmerken zu lassen und drückte die Brust heraus.

»Komm uns bald besuchen, ja? So Gott will, wird alles gut.« Die Mutter fuhr sich mit der Hand über die Augen und wandte sich ab.

»Francì, du wirst mir ganz schrecklich fehlen. Ich vermisse dich jetzt schon«, sagte Chiara und schlang ihm die Arme um den Hals. »Wirst du mich auch nicht vergessen?« Das Mädchen musste sich etwas recken, um Francesco zu umarmen. Wäre sie größer, hätte sie als seine Zwillingsschwester durchgehen können. Auch ihre Kleider waren zu kurz, die heruntergerutschten grünen Strümpfe waren an mehreren Stellen mit rotem Garn gestopft.

Francesco schüttelte den Kopf. »Ich werde dich nie im Leben vergessen«, flüsterte er mit erstickter Stimme. Eine Träne rann ihm über die Wange. Rasch wischte er sie weg. »Und ich werde immer für dich beten. Versprochen.«

»Wehe, du vergisst mich. Dann werde ich böse und komm dich aus dem Kloster holen. Damit du es nur weißt.« Chiara drückte ihm einen Kuss auf die Wange, drehte sich um und rannte aus dem Haus.

»Komm, Francesco, wir sollten jetzt gehen«, sagte Padre Carmelo und trat zur Tür, die Chiara offen gelassen hatte.

Francesco drehte sich noch einmal langsam in der Wohnküche um und ließ den Blick über die wenigen Dinge schweifen. Noch einmal sah er seine Mutter mit tränenverhangenen Augen an. Noch einmal fiel sie ihm um den Hals und drückte ihn wortlos. Sanft machte er sich los, ging an Padre Carmelo vorbei aus dem Haus und sah sich nicht mehr um.

Den größten Teil des Weges schwiegen sie. Wolken hatten sich zusammengezogen. Als Pietrelcina schon lange hinter ihnen lag und der Weg anstieg, fielen Schneeflocken herab. Erst nur wenige zarte, die auf dem Boden sofort schmolzen, bald immer mehr. Der Schneefall wurde dichter, sie konnten nur wenige Meter weit sehen. Padre Carmelo schob die Hände in die Ärmel seiner Kutte. Die Landschaft färbte sich weiß, der Schnee blieb liegen und tilgte den steilen Weg vor ihnen. Doch Padre Carmelo marschierte mit sicherem Schritt weiter. Unzählige Male war er den Weg gegangen, kannte jede Mauer, jeden Fels, jeden Baum. Francesco neben ihm zitterte, trotz Jacke, Halstuch und Kappe. Seine Pantinen rutschten immer wieder weg.

Padre Carmelo fing mit halblauter Stimme an zu beten: »Höchster, allmächtiger, guter Herr, dein sind der Lobpreis, die Herrlichkeit und Ehre und jeglicher Segen. Dir allein, Höchster, gebühren sie, und kein Mensch ist würdig, dich zu nennen.«

Francesco hob den Kopf, sagte aber nichts. Er stimmte nicht in das Gebet ein. Die Arme hatte er vor der Brust verschränkt.

»Gelobt seist du, mein Herr, mit allen deinen Geschöpfen, zumal dem Herrn Bruder Sonne. Er ist der Tag, und du spendest uns das Licht durch ihn.« Padre Carmelo blieb stehen und sah Francesco an. »Kennst du den Sonnengesang?«

»Nein.« Der Junge schüttelte den Kopf. »Davon hat Signor Caccavo uns nie etwas erzählt.« Er zitterte immer noch.

»Das ist schade«, sagte Padre Carmelo. »Der Sonnengesang stammt von unserem verehrten Bruder Franz. Er ist die Hymne, die er auf Gott und die Schöpfung geschrieben hat. Hör gut zu: Gelobt seist du, mein Herr, durch Schwester Mond und die Sterne. Am Himmel hast du sie gebildet, hell leuchtend und kostbar und schön.«

Francesco rückte dichter an Padre Carmelo heran. Er nahm die Arme herunter, sein Tritt wurde sicherer, die Kummerfalten verschwanden von seiner Stirn, sein Blick hellte sich auf.

»Gelobt seist du, mein Herr.« Padre Carmelo sagte alle zehn Strophen des Gesanges auf. Danach fing er von vorn an. Beim dritten Mal stimmte Francesco mit leiser Stimme in das Gebet ein. Der Schnee knirschte unter ihren Schuhen. Es hatte aufgehört zu schneien. Die Sonne brach durch die Wolken, und die weißen Hügel und Felder um sie herum strahlten. Die Äste der Bäume waren wie in ein jungfräuliches Gewand gehüllt und funkelten im Sonnenlicht.

Francesco, dessen Wangen eine frische Röte angenommen hatten, hielt etwas in der Hand und drehte es in den Fingern. Immer und immer wieder drehte er es. Padre Carmelo erkannte das Medaillon, das er dem Jungen einst geschenkt hatte.

»Es freut mich, dass du es noch hast«, unterbrach er das Gebet, wobei er auf das Medaillon zeigte.

»Ja«, sagte Francesco und hielt in der Bewegung inne. »Ich habe es immer in der Tasche. Es hilft mir, wenn ich …«

»Du brauchst keine Angst zu haben«, sagte Padre Carmelo. »Die Brüder im Kloster freuen sich auf dich. Ich habe ihnen von dir erzählt. Denn ich habe noch nie so einen Jungen wie dich getroffen, der so früh schon wusste, was er will, und der unserem heiligen Franz so verbunden ist wie du. Du wirst dich bei uns wohlfühlen.«

Die Mönche waren in der kleinen Kirche des Kapuzinerklosters Morcone versammelt. Als Francesco durch den Mittelgang zum Altar schritt, verschwammen die weißen Wände mit den grauen Stuckleisten. Nur mit Mühe erkannte er den Altar und die drei Statuen, die dahinter in Wandnischen eingelassen waren. Das Gewölbe über ihm wankte leicht. Seine Knie zitterten. Er kniff kurz die Augen zusammen. Nun war der Terrakottaboden fest, seine Beine trugen ihn. Die mittlere Statue war das Kruzifix. Jesus breitete die Arme aus, trotz der Schmerzen und der Blutstropfen, die ihm unter der Dornenkrone hervor über die Stirn liefen, blickte er vertrauensvoll. Er empfing ihn. Rechts vom Heiland kniete die Muttergottes, in dunkelrotem Kleid, einem blauen Mantel und weißem Schleier. Sie lächelte. Links sah der heilige Franz auf ihn nieder, die Hände mit den Stigmata hatte er vor der Brust gekreuzt. Sie begrüßten Francesco. Mit erhobenem Kopf schritt er zu seiner Einkleidung. Gleich würde er Mönch werden. Gleich würde er die Kutte anlegen und den Gürtel mit den drei Knoten umbinden. Seine neue Familie erwartete ihn schon.

 

Vorn am Altar mit der weißen Spitzendecke und den drei fast heruntergebrannten Kerzen stand Padre Carmelo. Auch er lächelte. Neben ihm wartete der Padre Superiore mit gefalteten Händen.

Francesco blieb vor dem Altar stehen. Seine Handflächen juckten.

Ein Bruder mit einem enormen Bauch und einem Doppelkinn, das seinen Hals vollständig verbarg, kam von links auf ihn zu. Er hielt eine Kutte in den Händen. Während er ein paar lateinische Sätze murmelte, trat er zu Francesco und half ihm, das braune Gewand über den Kopf zu streifen. Der Stoff roch nach Gallseife, Weihrauch und Mottenpulver. Fast verhakte er sich mit den Armen in den vielen Falten, doch der Bruder zupfte an Ärmeln und Schultern und richtete die Kutte. Die spitze Kapuze, die gegen das Böse schützen sollte, fiel Francesco über den Rücken. Der Mönch band ihm den Gürtel um, eng schmiegte die Kordel sich um seine Hüfte.

»Francesco Forgione, nun, da du den Habit und das Zingulum der Kapuziner trägst, bist du bereit, dein weltliches Leben hinter dir zu lassen?«, fragte der Padre Superiore. Er stand gebeugt vor Francesco, die wenigen Haare auf dem Kopf waren schneeweiß, seine rechte Hand zitterte.

»Ja«, sagte Francesco. Der schwere Stoff legte sich wie ein Mantel über ihn. Die Kutte schlackerte ihm um die Beine.

»Bist du bereit, dafür deinen Namen abzulegen und den Ordensnamen anzunehmen, den wir dir geben?«

»Ja.« Hinter ihm blätterte einer der Brüder in dem Gebetbuch, als suchte er die richtige Stelle in der Zeremonie.

»So heißt du von heute an nicht mehr Francesco Forgione, sondern sollst dich Fra Pio von Pietrelcina nennen«, sagte Padre Superiore und segnete ihn mit zitternder Hand.

In Francescos Ohren fiepte es, sein Mund war trocken, seine Knie zitterten wieder. Er machte ein paar vorsichtige Schritte den Gang zwischen den Bänken hinunter. Der viele Stoff zwischen den Beinen war nur auf den ersten Metern ungewohnt. Er spürte den Boden unter den Füßen nicht mehr, alles wurde leicht. Er schwebte aus der Kirche. Er war Mönch. Fra Pio. Bruder Pius. Der Fromme. Der Barmherzige. Der Geweihte. Der Heilige. Das ist ein Zeichen, flüsterte die Stimme in ihm. Du bist auserwählt.