Anaconda 0.2

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3



Die folgenden Tage verbrachten wir unter türkisblauem Herbsthimmel. Die Kastanienbäume verfärbten sich gelb, die Pappeln vor dem Wohnzimmerfenster leuchteten orange und rot, und die kleine Topfrebe, die den Sommer über das Geländer des Balkons überwuchert hatte, verlor bereits die Blätter.



Die ersten drei Tage waren wir alle vier zu Hause geblieben, schweigsam in der Stille, jeder mit seinen Gedanken und seiner Traurigkeit. Nicht nur die kleine Selma, auch Nadine mit ihren fünfzehn Jahren und bereits größer als Mona, kroch zu uns ins Bett zum Schlafen, zwischen uns beide, zwischen Mama und Papa, klammerte sich an meinen Arm, schmiegte sich an Monas Rücken.



Erst nach Leos Beerdigung spülte der Regen das Gesicht der Stadt und unsere Gefühle auf. Wir ließen die Traurigkeit in die feuchte Atmosphäre entweichen, sich unter die Wolken mischen. Ich nahm die Arbeit wieder auf und war froh, dass niemand kam, um mit mir zu reden. Die administrative Prozedur der Beerdigung hatte mich erschöpft, die Todesan­zeige und die Formulare, die Beileidskarten und Anrufe, die Wünsche und Ratschläge der Freunde, die freundliche Anteilnahme von so vielen Leuten, die weder ich noch Mona aufnehmen konnten. Und dann: wie ein Kind beerdigen, das wir atheistisch nicht getauft hatten? In welchem Rahmen, mit Rede von wem und mit welchem Ritual? Fragen, die wir uns nicht gestellt hatten, Dinge, die nicht Teil unserer Welt gewesen waren, nicht einmal unserer Vorstellung. Die Beerdigung des eigenen Kindes, auch nachdem es passiert ist, bleibt eine Aberration, die Welt auf den Kopf gestellt.



Mona war es, die in ihrer Trauer und ihrer Wut das Nötige unternahm und Anzeige gegen Unbekannt erstattete.



— Was soll das denn?



— Man muss den Mörder finden und vor Gericht bringen!



— Das ändert nichts, das bringt uns Leo auch nicht zurück.



— Ich will ihn sehen, will seinen Namen kennen, ich muss ein verdammtes Gesicht auf diese Katastrophe setzen!



— Auch wenn du einen Schuldigen findest, das ist nicht der Mörder. Im Gegenteil, er wird sich so schlecht fühlen wie wir, vielleicht noch schlechter, stell dir vor: Ein junger Spund, der unter dem Befehl einer übergeordneten Institution einen Menschen tötet. Was gibt es Schlimmeres? Er muss von Reue und Schuldgefühlen zerfressen sein.



— Schuldgefühle? Das sind Mörder und fühlen sich auch noch im Recht. Die muss man zur Rechenschaft ziehen!



— Mir ist es lieber, man lässt mich in Ruhe.



— Dann bleib doch in deiner Ecke, friss alles in dich hinein, und du wirst sehen, wie die verdrängte Wut dich von innen her auffrisst.



— Du kannst dieses ganze System nicht ändern.



— Solche Dinge dürfen nicht passieren! Man muss das Wort ergreifen, die Dinge beim Namen nennen, Recht beanspruchen. Das ist das Mindeste, was wir Leo schuldig sind.



— Missbrauche unseren Sohn nicht für deine eigene Wut! Lass ihn in Ruhe, lass ihn aus dem Spiel!



— Er ist das Zentrum der ganzen Angelegenheit. Wach auf, David! Wach endlich auf!



Unsere Diskussionen waren uferlos und endeten oft in Streit. Seit der Beerdigung hatte Mona eine zunehmende Wut entwickelt. Ihr Schmerz verwandelte sich in Anschuldigungen und Verurteilungen gegen das Verbrechen der Po­lizei an unserem Sohn. Zum tausendsten Mal wiederholte sie den angeblichen Ablauf der Ereignisse, bis ihre Beschreibung ein ritualisiert erzähltes Märchen wurde, eine Version, die alle Hypothesen und Anschuldigungen beinhaltete, eine Erzählung, die ihrer Wut entsprach. Mir war die Version egal, ich wollte sie nicht mehr hören. Leo war tot, so viel zu den Tatsachen, mit denen wir fortan leben mussten.





Mehrere Wochen verstrichen, bis wir die Kraft aufbrachten, um Leos Zimmer in Angriff zu nehmen. Ich hatte mich mit einer Hundertzehn-Liter-Abfalltüte und der Werkzeugkiste bewaffnet, um Möbel auseinanderzuschrauben, Dinge zu zerkleinern. Aber weder Mona noch Nadine noch ich wagten es, die Tür zu diesem eingefrorenen Vermächtnis aufzustoßen. Es war Selma, die an einem Novembermorgen die Tür öffnete. Alle vier blieben wir davor stehen und betrachteten die Projektion unserer Erinnerungen.



Das Zimmer war geblieben, wie Leo es ein paar Tage vor der Demo zum letzten Mal verlassen hatte: das gewohnte Durcheinander, Kleider am Boden, zerschlissene Schuhe, Bü­­cher, zerkratzte Vinyl-Platten. Das aufgebaute Elektropiano eingeschaltet und staubbedeckt, der Schreibtisch von Papieren überladen, das Bett zerwühlt, sein Pyjama noch auf dem Kissen, als würde er gleich nach Hause kommen, als wäre er nur kurz raus zu seinen Freunden, als hörten wir bereits das Klacken der Wohnungstür gefolgt von seiner Stimme, die nach dem Abendessen fragt.



Mona ging voraus und näherte sich langsam dem Bett, beinah, als mache sie etwas Unerlaubtes, setzte sich drauf, ließ ihre Hände über die Matratze gleiten, über das Kissen und über die Decke. Dann nahm sie den Pyjama mit beiden Händen, hob ihn hoch und presste ihn gegen ihr Gesicht. Sie versank in diesem weichen, warmen Stoff, atmete in der Stille seinen Geruch. Und dann plötzlich wurde sie von ei­nem Heulkrampf erfasst, warf sich mit dem Pyjama in den Armen auf das Bett und weinte.



Ich wohnte dieser Geste bei wie einem alten Ritual.



Und dann glitt ich der Wand entlang, am Bürotisch vorbei, um mich in der Mitte des Zimmers auf den Boden zu setzen, zwischen die Schulbücher und die Fahrradutensilien des kleinen Jungen, der er in diesem, seinem Zimmer geblieben war. Bremsklötze, Schrauben, Kugellager und Kettenteile lagen auf dem Boden verstreut. Eines nach dem andern nahm ich in die Hand, fasste nach undefinierbaren Eisenteilen im Regal, diesem kleinen Ersatzteillager, das Leo sich die letzten Jahre hier für seine Rennräder im Keller aufgebaut und bei seinem überstürzten Auszug aus unserem Haus vor mehr als einem Jahr hatte liegen lassen. Wir hatten damals nicht daran geglaubt, dass er bereits auf eigenen Füßen stehen könnte, und ließen sein Zimmer unangetastet, bereit, ihn für die Restzeit seiner Abnabelung wieder aufzunehmen. Außer ein paar Kleidungsstücken hatte er kaum etwas mitgenommen. Als habe er sich auf eine kleine Reise aufgemacht, war er damals, zwei Monate vor seiner Mündigkeit, rot vor Wut und Hass auf Mona und mich mit einem kleinen Sportsack an uns vorbei zur Tür hinaus ins Leben getreten und bis zu seinem Tod nicht mehr nach Hause zurückgekehrt. Hin und wieder suchte er noch Unterschlupf bei uns, wenn er gerade keine Bleibe hatte, auf der Suche nach der nächsten Absteige, der nächsten Etappe seines Zauberlehrlingstrips, tauchte dann unter in dem kleinen Museum seiner Kindheit, wie er sein Zimmer fortan nannte, genoss die letzten Geborgenheitsfetzchen, bettete sich in die welken Federn seiner Pubertät. Aber länger als eine oder zwei Nächte hielt er es nicht mehr aus bei uns, und oft wussten wir nicht, wohin er sich als Nächstes verkroch, mit wem er die Nächte durchsoff, Abende verkiffte und Tage vergeudete.



— Unser kleiner Leo, sagte Mona, unser lieber kleiner Leo! Wir hätten ihn nicht gehen lassen dürfen.



— Ihn etwa einsperren? Anbinden? Meinst du, wir hätten ihn zwingen können, zu Hause zu bleiben?



— Wir hätten niemals akzeptieren dürfen, dass er einfach so geht und sich wie ein Straßenkind durchschlägt. Er war noch ein Kind!



— Ja, ein Kind, ein selbsternanntes Findelkind.



Leos Stolz hatte es ihm verboten, uns auch nur einmal um Geld zu bitten. Zu seinem achtzehnten Geburtstag hatte er von der Bank eine Karte für sein Konto zugeschickt bekommen, die ihm Zugang zu seinem seit seiner Geburt von Großeltern, Tanten, Paten und auch von uns gespiesenen Guthaben erteilte. Es war nicht besonders viel, aber damit konnte er sich einige Monate über Wasser halten. Später erfuhren wir, dass er sich in einem besetzten Industriegebäude am Stadtrand neue Freunde gemacht hatte. Dort wohnte er mit vier Hunden, zwei älteren Punkfrauen und einem Straßenclown in einer Lagerhalle, und nach mehreren Wochen Absenz hatte er die Schule wiederaufgenommen. Wir hatten uns gestritten deswegen, hatten um Marihuana und um Alkohol gefeilscht, um Ausgehzeiten und um Taschengeld. Leo bombardierte uns mit Argumenten und Gegenargumenten, hielt Tiraden über die Konsumgesellschaft der Mittelschicht, fabulierte sich in die Höhen der Verantwortlichkeiten und Anschuldigungen, verweigerte jegliches Ver­söhnungsangebot und führte Krieg gegen uns, gegen die Gesellschaft, gegen die Welt, eine Welt, in der er nicht leben wollte. Als er dann begann, Lehrer für ihre vermeintliche Inkompetenz mit seiner Absenz zu strafen, eskalierte der Konflikt zu einem letzten rhetorischen Bombardement, das in Leos demonstrativem Auszug aus unserem Haus kulminierte.



Seither mussten wir uns mit Leos sporadischen kurzen Besuchen bei uns begnügen, erhielten tropfenweise Informationen über ihn, erfuhren, dass er die Matura doch noch geschafft hatte, knapp zwar, aber immerhin, und schließlich ließ er uns schriftlich mitteilen, dass er sich an der Uni eingeschrieben habe. Viel konnten wir nicht erfahren. Der Krieg war vorüber, aber der Friedensprozess hatte noch nicht eingesetzt. Leo blieb auf Distanz, und wir lebten fortan mit dem Zimmer in unserer Wohnung, dem kleinen Leo-Muse­um, das weder Mona noch ich noch seine Schwestern je betreten hatten.





Ich weiß nicht, wie lange wir in Leos Zimmer blieben. Irgendwann hatte sich die Dunkelheit über uns gelegt. Mona war auf dem Bett eingeschlafen. Auch ich schlief ein wenig, vielleicht sogar mehrere Stunden, denn als ich aufwachte und das Zimmer verließ, war Nadine nach Hause gekommen und in ihr Bett verschwunden. Ich löschte alle Lichter und legte mich zu Mona.





4



Als ich aufwachte, war ich allein. Mona hatte bereits alle Bücher in eine Kiste gelegt, der Schrank stand weit offen, zwei große Koffer davor.

 



— Ich bringe sie zur Caritas, sagte sie und verschloss den ersten, prallvollen Koffer. Viele T-Shirts, Hosen und Pullover sind noch wie neu. So nützen sie wenigsten jemandem was.



Dann stopfte sie den Rest in den zweiten Koffer.



— Was machen wir mit dem Bett?



— Das können wir für Besucher behalten.



— Und sein Arbeitstisch?



— Schraub den auseinander! Ich will diesen Mist nicht mehr sehen. Ab heute keine nordischen Wegwerfmöbel mehr in unserem Haus!



Diese Entscheidung hatten wir vor ein paar Monaten gemeinsam getroffen, aber es tat gut, sie noch einmal deutlich zu wiederholen. Die Vorstellung, dass die Erinnerungen an unseren Sohn sich in alten Einwegmöbeln verewigen sollten, war unerträglich.



So schlug ich die Werkzeugkiste auf und begann, den Tisch abzuräumen. Papiere, Werk- und Schreibzeug lagen obenauf, cds und Kabel, ein vertrockneter, angebissener Apfel. Ich sah Leos Zahnabdrücke im Fruchtfleisch, roch daran, biss hinein. Dann zog ich die oberste Schublade auf und holte auch dort die Papiere, Hefte und alten Feriensouvenirs heraus. Seit Jahren hatte ich diese Schublade nicht geöffnet. Wir wussten alle, dass Leo hier seine Hefte, in die er hin und wieder Gedichte geschrieben hatte, versteckte, kleine Cannabis-Reste, Liebesbriefe oder Geld, das er zur Seite legte. Ich wusste sehr genau, dass Mona diese Schublade umging, dass sie sich nicht darum kümmern wollte. Mit einem unguten Gefühl stellte ich mir vor, hier auf ein Tagebuch zu stoßen, die schmerzhafte Lektüre der vergangenen Welt, der ich mich stellen müsste. Vielleicht hätte ich es ungelesen in sein Grab gelegt oder verbrannt wie so vieles später, kurz vor Weihnachten, an einem Gedenkabend an Leo. Das schien uns die einzige angemessene Weise, um im Familienkreis von ihm Abschied zu nehmen.



Da gab es Briefe und beschriebene Zettel, von ihm gesammelte Zeitungsartikel, Zigarettenstummel, Korken von einigen guten Flaschen, die er aus meinem Keller geklaut hatte. Ich fand zwei Uhren, die ich ihm gegeben hatte, deren eine das Erbe meines eigenen Vaters war. Dann auch alle Klappmesser, mit denen wir bei Picknicks Pfeile und Bogen geschnitten hatten. Ich fand Muscheln, Steine und Kristalle, die wir aus Ferienorten nach Hause getragen hatten. Und wie erwartet fand ich auch die beiden blauen Notizhefte mit den poetischen Versuchen.



Mona hatte eine Kiste für die brennbaren Dinge und eine zweite Abfalltüte gebracht. Sie hatte damit begonnen, die Bücher in jene zu sortieren, die sie behalten, und jene, die sie zum Trödler bringen wollte. Und mit jedem Objekt, das ich aus der Schublade zog, stand ich vor demselben Dilemma.



— Das ist unsere Aufgabe, David, durch diese Hölle müssen wir.



Mona ließ mir keine andere Wahl, wollte jedoch nicht sehen, was ich aus der Schublade holte, wollte nicht, dass ich auch nur einen Brief öffnete. Sie war damit einverstanden, dass ich die Notizhefte mit den Gedichten und die Uhren behielt, aber nicht die Steine und nicht die Messer. Den Pyjama und die ganze Bettwäsche hatte sie in die Kiste der zu verbrennenden Objekte gelegt. Sie wischte den Staub hinter dem Bett hervor. Als ich die zweite, tiefere Aktenschublade öffnete, fand ich darin keine Hängemappen mit Dokumenten aus Leos Studium, wie ich das erwartet hatte, sondern eine große, graue, von mehreren Gummibändern umwickelte Kartonschachtel. Ich stellte sie auf den Boden. Oben drauf klebte eine Ansichtskarte. Anakonda, einen Kaiman verschlingend stand kleingedruckt hinten drauf neben dem Copyright, und auf der Vorderseite war genau dies fotografisch festgehalten: Eine Riesenschlange, aus deren Rachen der Schwanz eines Krokodils ragte.



Ich entfernte die Gummibänder und riss den Deckel auf. Zerknülltes Zeitungspapier, Stofffetzen holte ich heraus, darunter feines, sehr leichtes Seidenpapier, und legte nach und nach eine alte, durch und durch elfenbeinweiße, mit wilden Stuckaturen verschnörkelte Spieluhr frei. Ich hob sie auf den Schreibtisch. Oben auf dem Abschluss thronte eine weiße Schachkönigin, unten waren mehrere Türchen in den Kasten eingelassen.



Ich betrachtete dieses Kuriosum aus alter Zeit, aus einer anderen Welt, diese Schnörkel und Falten, die leicht angerosteten Scharniere an den Türchen, das Emailzifferblatt mit den in alter Schrift gemalten Zahlen und Zeichen, stumme Nachrichten aus vergangenen Zeiten.



Am hinteren Kastenteil öffnete ich ein erstes Türchen und betrachtete im Innern die Räder und Walzen, die Verzahnungen und Drähte, ein wild organisiertes Durcheinander von vorprogrammierten Befehlen, auszuführenden Bewegungen und Abläufen. Ich öffnete auch die anderen Türchen und fand im Innern zwei Figuren, eine weiße Königin und einen orientalisch gekleideten Mann mit Turban, beide bereit, zur gegebenen Stunde durch die kleinen Öffnungen herauszufahren an einen winzigen Schachtisch und dort ein Spiel vorzuführen. Weit im Innern auf der Hauptwalze mit den eingeritzten Zapfen des programmierten Musikstücks fand ich eine Signatur: jls, in alten, von Hand in das Metall geritzten Lettern. Außer der metallenen Hauptwalze waren auch im Innern alle Räder und Übersetzungen, alle Wellen und Bolzen milchweiß wie gebranntes Porzellan. Aber es war kein Porzellan. Ich klopfte mit ei­nem Gegenstand an den äußeren Kasten, an eine Welle im Innern. Der Ton ließ auf etwas Organisches oder Mineralisches schließen: gehärtetes Holz oder Elfenbein oder Marmor. Ich suchte nach einem Drehschloss, um die Uhr aufzuziehen und spielen zu lassen. Ich fand ein kleines Loch an der linken Seite, das zu einer Dreikantwelle führte, aber der Schlüssel fehlte.



Da ich die Uhr nicht spielen lassen konnte, erforschte ich weiter das Dickicht der Verzahnungen und Übersetzungen. Es war unmöglich, aus dem Räderchaos irgendeinen verstehbaren Sinn abzuleiten. Ich konnte mir vorstellen, dass die beiden im Innern der Spieluhr ausharrenden Figuren ­regelmäßig herausfuhren wie Jacquemarts, um in vorprogrammierten Zügen Schach zu spielen. Ebenfalls konnte ich mir aufgrund der Einritzungen auf der Hauptwalze eine abspielbare Melodie ausmalen. Aber verstehen konnte ich überhaupt nichts.



— Weg damit!, sagte Mona nur und saugte weiter den Staub unter dem Bett hervor.



Ich steckte meine Finger in die Mechanik, äugte noch einmal durch die Räder und Stangen, als ich einen Draht entdeckte, einen in Plastik gefassten Elektrodraht mitten unter den elfenbeinweißen Rädern und Stangen, den kleinen Plat­ten und Gittern, einen Draht aus einer anderen Zeit, der kein mechanisches, sondern ein elektrisches Ziel verfolgte. Von einem Ende der Hauptwalze zog er sich an einer Welle entlang, folgte einem Eckbalken in die Höhe, überquerte den Raum an Zahnrädern vorbei, hangelte sich einer Verbindungsschnur entlang, wurde mittendrin unbegründet rechtwinklig abgezweigt und quer nach links gezogen, verschwand in einem kleinen Loch, schoss drei Zentimeter weiter wieder aus dem weißen Mantel und erreichte eine kleine Leiterplatte, auf der mehrere Transistoren, Kondensatoren und ein zehnfüßiger Chip miteinander verlötet waren. In diesem Augenblick war mir schleierhaft, wie mir diese Leiterplatte hatte entgehen könne. Später stellte ich fest, dass sie von keinem der geöffneten Türchen aus zu ­sehen war. Aber diese Entdeckung warf mich auf den Ursprung des Drahtes zurück: zur linken Querseite der Hauptwalze. Vorsichtig legte ich Daumen und Zeigefinger an das Metall und zog. Tatsächlich ließ sich der Seitendeckel der Walze entfernen. Im Innern der Walze befanden sich weitere dünne Drähte und elektronische Teile. Ich sah mit Klebeband umwickelte, fingerdicke, rote Stäbe, so lang wie die Walze selbst. Ich sah Drähte, die die Stäbe mit winzigen Leiterplatten verbanden. Und als ich endlich begriff, dass ich eine Bombe in den Händen hielt, ließ ich sie beinah fallen.





In dieser Nacht klammerte sich Mona an mich. Noch halb angezogen ließ sie sich zu mir ins Bett fallen, grub ihre Finger in meine Armmuskeln, presste meinen Bauch mit beiden Armen, schlug sie um meinen Hals und fesselte sich an mich, als müsste sie sonst ertrinken. Ich schmeckte das Salz ihrer Tränen auf meinen Lippen. Sie verbiss sich in meinen Arm, zog mich an den Haaren, zerkratze mir den Rücken. Sie schluchzte und hustete und lallte unverständliche, verzweifelte Laute. Sie ließ sich nach hinten auf den Rücken gleiten und wiegte den Kopf hin und her, als wolle sie sich in Trance versetzen. Ich legte ihr ein Kissen unter den Nacken, zog sie ganz aus, bettete ihre Beine auf die Decke und nahm ihre rechte Hand, als säße ich an einem Krankenbett, als begleitete ich sie durch ein unvermeidbares Delirium, das Delirium eines kalten Entzugs. Ihr nackter Körper schien zu glühen, zu leuchten beinahe. Ihre Haut war heiß und trocken. Dieser Körper, den ich seit mehr als zwanzig Jahren kannte und durch alle Stadien der physischen Verwandlungen dreier Schwangerschaften begleitet hatte, versetzte mich immer wieder in Erstaunen. So, wie sie jetzt dalag mit offenem Haar, schweren Schenkeln und willenlos ausgebreiteten Armen, hatte ich sie noch nie gesehen. Dieser Körper erschien mir trotz der jahrelangen Vertrautheit immer wieder neu und unentdeckt, unerschöpflich in seiner Verwandlungsfähigkeit, vertraut und fremd, gewohnt und aufregend zugleich. Ich spürte ihre Schwere in dem heißen, Hilfe suchenden Händedruck. Dann setzte sie sic