Geist & Leben 3/2021

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Personen begegnen …

Ein anderer großer Denker der Begegnung, Martin Buber, hätte mit Mounier wohl darin übereingestimmt, dass die Begegnung ein Ereignis zutiefst innerlicher und spiritueller Natur ist. Anders als der jüdische Philosoph, der in jeder Verschriftlichung schon einen Verrat am Du erkannte, sieht der Verfasser der Entretiens die Schriftlichkeit jedoch im Dienst der Begegnung und letztlich des Personseins. Für ihn sind die Begegnungen nichts aus der Zeit abgelöstes, sondern gerade Teil unserer Geschichtszeit, durch welche diese auch verändert werden kann („Refaire la Renaissance“). Die in den Begegnungen sich zeigenden Personen müssen sich in ihrer Zeit bewähren: Die äußeren Ereignisse – die Geschichte – und die inneren – die Begegnungen – sind aufeinander bezogen. Die Verschriftlichung als Veräußerung des Inneren und als Verinnerlichung des Äußeren hilft Mounier bei der Aufgabe, selbst als Person zu bestehen, die anderen als Personen zu bezeugen und die Frage nach der Wahrheit aufrechtzuerhalten, die nicht auf individuelle Bedürfnisse reduziert werden kann.

1Vgl. E. Mounier, Entretiens 1926–1944. Rennes 2017 (vgl. Seitenangaben im Text).

2Zur Biographie Mouniers vgl. J.-F. Petit, Philosophie et théologie dans la formation du personnalisme d’Emmanuel Mounier. Paris 2006; ders., Petite vie d’Emmanuel Mounier. Paris 2008.

3Vgl. E. Mounier, Le personnalisme. Paris 1949, 31.

4E. Mounier, Sur l'intelligence en temps de crise, in: Esprit 9 (Februar 1941) 97, 201–215, hier: 214.

5Emmanuel Mounier et sa génération. Lettres, carnets et inédits. Saint-Maur 2000, 415.

6E. Mounier, Personnalisme, 7 [s. Anm. 3].

7Ebd.

8Emmanuel Mounier, 412 [s. Anm. 5].

9Es geht um Anfeindungen gegenüber den „Davidées“, vgl M. Kneer, Beruf und Berufung in der Schule. Die pädagogische Graswurzelspiritualität der Laienbewegung „Les Davidées“, in: GuL 92 (2019), 410–418.

10 „Niemals habe ich in dem Maße den Eindruck gehabt, alles Lebendige, Einzigartige, Unaussprechliche in einer Unterhaltung auszulassen, wie ich es nun in dieser Zusammenfassung tue.“ (E. Mounier, Entretiens, 145 [s. Anm. 1])

11 E. Mounier, Personnalisme, Kap. 1 (L’existence incorporée) [s. Anm. 3].

12 Die Angaben sind Y. Roullière, Qu’entendait Mounier par Entretiens?, in: Cahiers Mounier 4 (2018–2019), 93–105, hier: 99, Anm. 20 entnommen.

Nachfolge
N

Georg Braulik OSB | Wien

geb. 1941, em. Prof. für Alttestamentliche Bibelwissenschaft an der Universität Wien

georg.braulik@univie.ac.at

Den Fremden lieben

Mit seiner Enzyklika Fratelli tutti1 wendet sich Papst Franziskus „an alle Menschen guten Willens, jenseits ihrer religiösen Überzeugungen“ (56). Dennoch entwickelt er seinen „neuen Traum der Geschwisterlichkeit und der sozialen Freundschaft“ (6) aus dem neutestamentlichen Gleichnis vom barmherzigen Samariter (Lk 10,25–37). Der Papst legt diese Geschichte im zweiten Kapitel unter dem Titel „Ein Fremder auf dem Weg“ aus und aktualisiert sie später als Modell geschwisterlichen Handelns, das kulturelle, geschichtliche, geographische und religiöse Barrieren überwindet: „Es gibt keine Unterscheidung mehr zwischen dem Bewohner von Judäa und dem von Samaria, es gibt weder Priester noch Händler, es gibt einfach zwei Arten von Menschen: jene, die sich des Schmerzes annehmen, und jene, die einen Bogen herum machen; jene, die sich herunterbücken, wenn sie den gefallenen Menschen bemerken, und jene, die den Blick abwenden und den Schritt beschleunigen.“ (70)

Mein Artikel kommt erst am Ende auf diese Erzählung zurück. Worauf ich die Aufmerksamkeit lenken möchte, könnte angesichts der beeindruckenden Werbung des Papstes für eine „soziale und politische Liebe“, eine weltweite „Zivilisation der Liebe“ (176–185), als nebensächlich erscheinen. Geht es mir doch nur um den alttestamentlichen „Hintergrund“ des Samaritergleichnisses, den die Enzyklika in Gegenüberstellung zum Alten Testament skizziert (57–62). Allerdings gehört er zu den biblischen Wurzeln der Sozialenzyklika. Obwohl sie an alle Menschen guten Willens gerichtet ist, hat sie der Papst auf der Grundlage seiner christlichen Überzeugung geschrieben (6). Er zitiert aus der „jüdischen Tradition“ das Gebot „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“ (Lev 19,18), das man „auf die Beziehungen zwischen den Gliedern ein und desselben Volkes“ beschränkt habe (59). Erst außerhalb des Landes Israel hätten sich die Grenzen zu weiten begonnen. Und schließlich habe „der Wunsch, die göttliche Haltung nachzuahmen, zur Überwindung der Tendenz, sich nur auf die Nächsten zu beschränken“ (59) geführt (Tob 4,15 und Sir 18,13, vgl. Mt 7,12 und Lk 6,36). „Die Motivation, das Herz so weit zu machen, dass es den Fremden nicht ausschließt“, finde sich aber bereits in den ältesten Texten der Bibel. Sie lasse sich auf „die beständige Erinnerung des jüdischen Volkes zurückführen, dass es als Fremder in Ägypten gelebt hat“ (61). Dazu bringt die Enzyklika vier Texte aus den großen Gesetzessammlungen des Alten Testaments: Ex 22,20 und 23,9, Lev 19,33f., Dtn 24,21f. Ihnen möchte ich im Folgenden genauer nachgehen. Zwar irritiert, dass Papst Franziskus in der Enzyklika niemals vom „Alten Testament“, von „alttestamentlich“ oder vom „Volk Israel“ spricht, sondern von „jüdischer Tradition“ (59), vom „Judentum“ (59) und „jüdischen Volk“ (61). Doch verbreitert er mit den vier Stellen die Argumentation der Enzyklika Papst Benedikts XVI. Deus Caritas est. Denn sie behandelt im Zusammenhang mit dem Gleichnis zwar den „Nächsten“ und „Fremden“, erwähnt aber keine biblischen Zeugnisse.2 Den vier alttestamentlichen Fremdentexten lässt Fratelli tutti aus dem Neuen Testament „den Aufruf zur brüderlichen bzw. geschwisterlichen Liebe“ (61) folgen, belegt ihn vor allem aus den Johannesbriefen und ergänzt ihn mit der Mahnung des Paulus zur „Liebe zueinander ‚und zu allen‘ (1 Thess 3,12)“ (62).3

Fremde lieben – (wie) Gott lieben (Dtn 10,19)

Die Enzyklika Fratelli tutti beruft sich bei Nächsten- und Fremdenliebe auf die Gebote in Lev 19,18 und 19,34, schweigt aber über den Spitzensatz alttestamentlicher Fremdenethik in Dtn 10,19. Man darf ihn gegenüber Lev 19,34 nicht vernachlässigen. Denn die Mahnung des Deuteronomiums zu tätiger Fremdenliebe gründet in der Liebe Gottes zum Fremden.4

Der Kontext: Die Gottesliebe

In der deuteronomischen Gesellschaftsordnung, die Mose der Vollversammlung Israels vorträgt, erscheint die Verpflichtung zur Fremdenliebe zunächst im Zusammenhang mit der Begnadigung des Volkes nach dem Abfall zum goldenen Kalb und des am Gottesberg Horeb geschlossenen Bundes (Dtn 9,8–10,11). In 10,12f. erinnert Mose an die Grundforderung dieses Bundes, die Alleinhingabe an JHWH, den HERRN, die in den Kult- und Sozialbestimmungen konkret wird: „Und nun, Israel, was erbittet der HERR, dein Gott, von dir außer dem einen: dass du den HERRN, deinen Gott fürchtest, indem du auf all seinen Wegen gehst, und dass du ihn liebst und dem HERRN, deinem Gott, mit ganzem Herzen und mit ganzer Seele dienst; (und das,) indem du die Gebote des HERRN und seine Gesetze bewahrst, auf die ich dich heute verpflichte. Dann wird es dir gut gehen.“ Die Formulierungen sind teilweise synonym oder ergänzen einander sachlich. Diese in allen Dimensionen des gesellschaftlichen Lebens erwartete Loyalität gilt einem Gott, der sich trotz seiner weltumfassenden Überlegenheit den Patriarchen Israels zugewandt, sie „ins Herz geschlossen“, „geliebt“ und ihre Nachkommen unter allen Völkern ausgewählt hat (10,14f.). Doch äußert sich die Herrschaft des „HERRN über Himmel und Erde“ nicht nur im Mysterium einer voraussetzungslosen und affektgeladenen Liebe zu den Vätern seines Volkes, sondern auch gegenüber den Göttern der Völker: JHWH ist der Höchste, ein gewaltiger Kriegsheld voll numinosen Schreckens und ein unbestechlicher Richter (10,17) – Bezeichnungen, die ihre Vorbilder in der altorientalischen, insbesondere der neuassyrischen Königstitulatur haben. Die vorrangige Option des HERRN als des idealen Königs gilt den gesellschaftlichen Randgruppen in Israel: „Er verschafft Waisen und Witwen Recht und liebt den Fremden, sodass er ihm Nahrung und Kleidung gibt.“ (10,18)

Aus diesem Handeln Gottes folgt als assoziativ angeschlossenes und an keine besonderen Umstände gebundenes Gebot für sein Volk: „Auch ihr sollt den Fremden lieben, denn ihr (selbst) seid Fremde im Land Ägypten gewesen.“ (10,19)

Wer ist der Fremde?

Kein Buch des Alten Testaments spricht so häufig vom „Fremden“ wie das Deuteronomium. Fast immer verwendet es für ihn den kollektiven Singular. Herkunft wie Geschlecht des Fremden bleiben unbestimmt, moderne Fragen, etwa nach der eigenen Sprache, Kultur und Legalität seines Aufenthalts in Israel, spielen keine Rolle. Ähnliches gilt von seiner politischen wie religiösen Gesinnung. Allerdings lassen manche Texte ein Profil des Fremden aus der Sicht derer, die Mose anspricht, erkennen. Ein „Fremder“ besitzt kein Bürgerrecht, lebt also außerhalb der Gastgebergesellschaft. Er tritt zwar als Prozesspartner (1,16) und als Arbeitskollege (24,14) auf, gehört aber nicht zu den „Brüdern“. Dennoch steht er in einem gewissen Naheverhältnis: Er gilt (nur) dem Deuteronomium als „dein Fremder“ (5,14; 24,14; 29,10; 31,12), als Schutzbefohlener „in deinem Land innerhalb deiner Stadtbereiche“ (24,14), „hat in deinen/euren Stadtbereichen Wohnrecht“ (5,14; 14,21; 31,12), „ist inmitten deines Lagers“ (29,19) oder „in deiner Mitte“ (26,11; 28,43), also im Inneren eines sozialen Raumes. Dieses Beziehungsgefüge ist auffällig, weil der Fremde weder, wie sonst im Alten Orient, dem Schutz des Königs unterstellt ist noch der Versorgung durch einen einzelnen Patron zugeordnet wird. Er ist vielmehr in das Miteinander der Gesellschaft, des kollektiven „Du“ Israels bzw. des „Ihr“ der einzelnen Israeliten, eingebunden. Er wird sogar Partner des Bundes in Moab (29,10), wo Mose anlässlich der Leitungsübergabe an Josua den Bund vom Horeb auf der Grundlage der Tora bestätigt. Wenn diese Tora später im Tempel von Jerusalem beim Laubhüttenfest jedes siebten Jahres vor ganz Israel vorgetragen wird, ist der Fremde bei der Verlesung dabei (31,12).

 

Eine solche Solidarität ist buchstäblich lebensnotwendig. Denn der Fremde verfügt über keinen Bodenbesitz und ist deshalb in einer Agrarwirtschaft ökonomisch abhängig. Dieser Umstand findet sogar einen festsymbolischen Ausdruck: Anlässlich der Darbringung der Erstlingsfrüchte im Tempel ist der Fremde gemeinsam mit dem ebenfalls grundbesitzlosen Leviten zur Freude über die Güter des Verheißungslandes geladen (26,11). Doch gelten für ihn – anders als für Israeliten – keine Speisevorschriften (14,21). Zugleich unterscheidet sich der Fremde vom „Ausländer, der aus einem fernen Land kommt“ (29,21). Während nämlich der Fremde dauerhaft in Israel wohnt, hält sich ein Ausländer, zum Beispiel als Handelsreisender, nur vorübergehend dort auf. Er genießt deshalb nicht die Privilegien des Fremden innerhalb der solidarischen Volksgemeinschaft. Doch entsteht daraus kein Konflikt, weil es keinerlei Ausländerfeindlichkeit gibt.

Das Deuteronomium hat die „Armen“, wie sie jeder antike Staat kannte, in der Formel „der Fremde, die Waise und die Witwe“ zusammengefasst und manchmal noch durch „den Leviten“ (Priester aus dem Stamm Levi) erweitert.5 Diesen Bevölkerungsschichten, die über keinen Bodenbesitz verfügen, wird durch ein kalkuliertes System ihr wirtschaftliches Auskommen gesichert.6 Ihre Versorgung ist keine Armenfürsorge, sondern ein Rechtsanspruch. Neben der normalen Nahrungsmittelversorgung haben Fremde, Waisen und Witwen außerdem das Recht auf die Nachlese bei Getreide, Oliven und Trauben, den drei wichtigsten Agrarprodukten (24,19–22 – die Stelle wird von der Enzyklika [61] allerdings nur bezüglich der Weinlese [Verse 21f.] zitiert). Sie feiern sogar mit dem ganzen Volk gemeinsam die Höhepunkte des Jahres, die Wallfahrtsfeste, und nehmen an ihren Opfermählern im Jerusalemer Heiligtum teil.

Das Gebot der Fremdenliebe und seine Begründung

Kehren wir nach dieser Skizze des deuteronomischen Sprachgebrauchs zurück zu unserem Text. Dtn 10,18 tritt einer im Alten Orient häufigen Krisensituation entgegen. Frauen, die ihren Mann verloren hatten und auf sich allein gestellt waren, hatten keinen Rechtsbeistand. Wenn ihre Kinder noch versorgungsbedürftig waren, wurden auch ihre Rechte oft nicht respektiert. Der Vers nennt zwar den Fremden im unmittelbaren Kontext von Waise und Witwe, schließt ihn aber nicht mit ihnen zur erwähnten typisch deuteronomischen Trias zusammen. Er findet besondere Aufmerksamkeit, aber nicht, weil er wie Waise und Witwe nicht rechtsfähig, sondern weil er mittellos ist. Wenn Gott den Fremden liebt, dann äußert sich das wie bei seiner Liebe zu Israel in praktischen Handlungen: Er gibt ihm – so wörtlich – „Brot“ und „Mantel“, d.h. das Lebensnotwendige. Diese Unterscheidung in der Sorge für die gesellschaftlich Deklassierten macht etwas im Alten Testament Einzigartiges offenbar: die Liebe Gottes zum Fremden. Und genauso einzigartig ist der in 10,19 anschließende Auftrag an die Israeliten, in der Nachfolge Gottes ihn ebenfalls zu lieben. Anders als in Lev 19,18 und 34, worauf ich später eingehe, gibt es im Deuteronomium keine Entsprechung zu einem Gebot, den „Nächsten“ oder ein hilfsbedürftiges Mitglied der eigenen Gesellschaft zu lieben.7 Im Übrigen durchzieht „lieben“ als Leitverb die gesamte Perikope Dtn 10,12–19, und zwar in den rahmenden Versen 12 und 19 als Gebot an Israel, in den Versen 15 und 18 aber als Erfahrung Gottes. Israel soll die als unbegreifliches Geschenk empfangene göttliche Liebe mit seiner Liebe zu Gott und mit der zwischenmenschlichen Liebe zum Fremden erwidern. Ihn zu lieben ist ebenfalls nicht selbstverständlich, denn die altorientalischen Zivilisationen schenkten dem Fremden keine Aufmerksamkeit. Wenn Mose im Anschluss an das Verhalten Gottes in 10,19 von den Israeliten verlangt, den Fremden zu lieben, dann lässt das vorbildliche Handeln Gottes gegenüber dem Fremden auch erkennen, wie sie dieses Gebot erfüllen sollen: durch seine Versorgung mit allem, was zum Leben gehört.

Diese Liebe wird rechtsverbindlich geboten, beinhaltet aber zugleich Emotionalität. Das macht sie für uns problematisch. Denn in unserer Kultur gilt Liebe als ein spontanes Gefühl. Es erscheint uns deshalb widersinnig, Liebe zu fordern. Außerdem gehört sie nach unserem Empfinden zum Privat- und Intimbereich, existiert also getrennt von jeder Verpflichtung. Deshalb werden Gefühle auch als ethisch irrelevant angesehen. Trotzdem verlangen die Spitzentexte alttestamentlicher Gottesverehrung und Sozialethik, dass Israel seinen Gott (Dtn 6,5; 11,1), den Nächsten (Lev 19,18) und den Fremden (Lev 19,34; Dtn 10,19) lieben soll. Sie appellieren damit an das „Du“ des Volksganzen bzw. an das „Ihr“ seiner einzelnen Mitglieder. Im altorientalischen wie im biblischen soziokulturellen Milieu widerspricht ein ethisches Verhalten, das als Liebe gefordert wird, nicht ihrem affektiven Gehalt. Die deuteronomische Konzeption von „Lieben“ lässt sich daher von uns am besten als eine „Handlungsemotion“ verstehen.8

Die Motivation: Israels Gastaufenthalt in Ägypten

Bei der Motivation der Fremdenliebe appelliert Dtn 10,19 ausdrücklich an das kollektive Gedächtnis der Israeliten: „denn ihr (selbst) seid Fremde [Plural] im Land Ägypten gewesen“. Diese Formel ist im Alten Testament viermal belegt. Die Stellen sind auf die drei Rechtssammlungen des Pentateuchs, nämlich das Bundesbuch (Ex 21–23), das Heiligkeitsgesetz (Lev 17–26) und die deuteronomische Tora (Dtn 5–26), beschränkt. Fratelli tutti führt nur Ex 22,20; 23,9 und Lev 19,34 an, Dtn 10,19 fehlt. Beim Rückblick auf den Ägyptenaufenthalt überwiegt im Deuteronomium allerdings nicht die Erinnerung an die Fremdlingschaft, sondern an die Sklavenexistenz Israels. Denn fünfmal findet sich der Hinweis: „Denk daran, dass du in Ägypten Sklave warst“ (5,15; 15,15; 16,12; 24,18.22). Daraus ergibt sich stets die Gehorsamsforderung, bestimmte Sozialvorschriften zu beobachten. Bei dieser Formel ist es immer die Leidensgeschichte in Ägypten, die durch den Freikauf oder die Herausführung durch Gott in eine Befreiungs- und Erlösungsgeschichte aufgehoben wurde. Dieses Verhalten Gottes soll Israel dann im jeweils Gebotenen nachahmen.

Warum aber unterscheidet das Deuteronomium beim Ägyptenaufenthalt Israels zwischen dem Fremden und dem Sklaven? Offenbar stehen die beiden gesellschaftlichen Kategorien für zwei völlig unterschiedliche Erfahrungen. Sie lassen sich anhand des „kleinen geschichtlichen Credo“ von Dtn 26,5–9 ver deutlichen. Nachdem der Pharao Jakob und seiner Familie gestattet hatte, sich „als Fremde in Ägypten aufzuhalten“ (Gen 47,4), „wohnte er dort als Fremder mit wenigen Leuten und wurde dort zu einem großen, mächtigen und zahlreichen Volk“ (Dtn 26,5). Dieses nun furchterregende Israel wurde in der Folgezeit unterdrückt: „Die Ägypter behandelten uns schlecht, machten uns rechtlos und legten uns harte Sklavenarbeit auf“ (26,6). Israels Aufenthalt in Ägypten kennt im Deuteronomium also zwei Phasen. „Wenn das Wort ‚Sklave‘ steht, ist die leidvolle, wenn das Wort ‚Fremder‘ steht, die davor gelegene glückliche Periode in Ägypten im Blick.“9 Die Liebe zum Fremden spricht von einem Verhältnis, wie es Israel zu seinem Gott hat. Deshalb kann 10,19 nicht an das ägyptische Leid erinnern. Anders dagegen das Bundesbuch, das keine Ägypten-Sklaven-Motivation kennt. Ihre Funktion wird deshalb in Ex 22,20 und 23,9, am Anfang und am Schluss humanitärer Gesetzessammlungen, von den Sätzen über die Fremdlingschaft Israels eingenommen: „Ihr wisst doch, wie es einem Fremden zumute ist“. Damit sind aber nicht Gemeinschaft und Glück, sondern Elend und Bedrängnis gemeint. Unter diesem Gesichtspunkt sieht Dtn 10,19 die Fremdlingschaft Israels in Ägypten gerade nicht. Es verweist auf eine erfreuliche Erfahrung und motiviert durch sie zur Liebe. Trotz des gleichen Wortlauts gehört die Formel also zu einem jeweils anderen Aussagensystem. Es ist im Deuteronomium breiter ausgebaut und beurteilt den Ägyptenaufenthalt Israels differenzierter.

Zusammenfassend: In Dtn 10,12–19 folgen Gottes Liebesgeschichte und die gebotene Liebe dicht aufeinander. Israel soll seinen Gott JHWH lieben, insbesondere indem es seine Gebote hält (V 12f.). Denn Gott hat schon zuvor seine Väter geliebt und deren Nachkommen, die Israeliten, aus freier Liebe erwählt (V 15). Weil Gott den Fremden liebt (V 18), sollen auch sie den Fremden lieben (V 19). Wenn aber die Israeliten den von Gott geliebten Fremden lieben, dann lieben sie nicht nur wie Gott, sondern lieben zugleich auch ihren Gott. Enger können Gottes- und Fremdenliebe kaum mehr zusammenrücken.

Fremde lieben – heilig werden (Lev 19,34)

Das Gebot der Fremdenliebe findet sich auch im „Gemeindekatechismus“ von Levitikus 19, einer Glaubensbelehrung, die wahrscheinlich im Gottesdienst verlesen wurde. Zusammen mit dem Gebot der Nächstenliebe steht es unter dem Programmwort „Heilig sollt ihr sein/werden, denn heilig (bin) ich, der HERR, euer Gott!“ (19,2). Beide Gebote bilden also eine „Anleitung zu einem heiligmäßigen Leben“ im Alltag, das „als imitatio dei die Heiligkeit Gottes auf Erden im Verhalten des Volkes repräsentiert“.10 Damit setzen sie bei ihrer Begründung einen theologisch anderen Akzent als Dtn 10,19, wo mit der Fremdenliebe zwar ebenfalls Gott nachgeahmt wird, dabei aber seine Liebe in den Mittelpunkt rückt. Die Rechtssätze Lev 19,11–18 bestimmen ein Solidarverhalten gegenüber dem Nächsten. Sie gipfeln in den Grundeinstellungen der Verse 17f.:

17Du sollst deinen Bruder nicht in deinem Herzen hassen. Du sollst deinen Mitbürger nachdrücklich zurechtweisen, so dass du seinetwegen keine Schuld auf dich lädst.

18Du sollst dich nicht rächen und den Angehörigen deines Volkes nichts nachtragen, sodass du deine Nächsten Liebe erweist wie (man) dir (Liebe erweist)11.

Hier ergibt sich die Liebe aus dem Verzicht auf Hass, Rache und Zorn. Sie ist deshalb kein weiteres Gebot, sondern der innere Kern des in den Versen 17–18a geforderten Verhaltens. Nur wenn dieser Zusammenhang ausgeblendet wird, erscheint die Nächstenliebe als ein ethisch absoluter Anspruch. Vom Kontext her ist sie die Folge des Gehorsams gegenüber den vorausgehenden Bestimmungen. Beim wechselseitigen Handeln der Liebe geht es um eine besondere Form der Goldenen Regel. Sie nimmt zum Maßstab des eigenen Verhaltens, was man vom anderen selbst erfahren möchte. Dabei meint der „Nächste“ nicht irgendwelche Mitmenschen, sondern die Mitglieder des Gottesvolkes. „Die Bruder-Metapher schafft (…) das Idealbild einer nach dem Vorbild der Familiensolidarität strukturierten Gesellschaft.“12

Dieselbe tätige Solidarität, die nicht-verwandten Israeliten gilt, fordert 19,33f. auch für den Fremden. Dabei zitiert Vers 34 das an ein „Du“ adressierte Gebot der Nächstenliebe fast gleichlautend inmitten pluralisch formulierter Sätze:

 

33Wenn bei dir ein Fremder in eurem Land lebt, sollt ihr ihn nicht unterdrücken.

34Wie ein Einheimischer unter euch soll euch der Fremde gelten, der bei euch als Fremder lebt, und du sollst ihm Liebe erweisen wie (man) dir (Liebe erweist). Denn ihr seid Fremde im Land Ägypten gewesen.

Die vom Gesetz beanspruchte Gleichbehandlung von Einheimischem und Fremden verlangt mehr als einen Verzicht auf Übervorteilung und Ausbeutung: Der gerechte Umgang wird durch die liebende Zuwendung zum Abhängigen mit Migrationshintergrund überholt. Sie wird anthropologisch und heilsgeschichlich begründet. Denn nach dem Heiligkeitsgesetz (wie nach dem Bundesbuch) kennen die Israeliten das Fremdsein mit all seinen rechtlichen, politischen und wirtschaftlichen Diskriminierungen aus ihrer eigenen Geschichte.

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