Was wir wissen könne und was wir glauben müssen

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Was wir gleichwohl in den Formulierungen des DDR-Lexikons lesen konnten, ist der Versuch der radikalen Revolutionäre, den uralten Glauben an den guten Sinn des Seins zu beerben, so, wie er in der Antike formuliert worden war. Die Genesis legte bereits die Beschlüsse des XXIII. Parteitags fest.

Triebwerk

Wenn man das Weltgesetz erkannt hat, dann muss man nur noch gemäß diesem Gesetz handeln. Der gleiche Gedanke findet sich auch bei den Vulgärdarwinisten: Man stellte fest, dass in der Natur immer der Stärkere, der Gesündere, der Angepasstere siegt – und so leitete man daraus ab, dass es auch so sein soll. Selbst bei einem so modernen Autor wie Sigmund Freud (1856–1939) stoßen wir 1938 auf die Auffassung, man könne alles menschliche Handeln auf eine zu erkennende Grundgröße zurückführen, die dem Menschen keine Wahl lässt, sondern ihn letztendlich antreibt:

»Die Kräfte, die wir hinter den Bedürfnisspannungen des Es annehmen, heißen wir Triebe. Sie repräsentieren die körperlichen Anforderungen an das Seelenleben. Obwohl letzte Ursache jeder Aktivität, sind sie konservativer Natur; aus jedem Zustand, den ein Wesen erreicht hat, geht ein Bestreben hervor, diesen Zustand wiederherzustellen, sobald er verlassen worden ist. (…) Für uns ist die Möglichkeit bedeutsam, ob man nicht all diese vielfachen Triebe auf einige wenige Grundtriebe zurückführen könne« (Abriß der Psychoanalyse, S. 11).

Wenn man den Menschen und seine ihn bestimmenden Grundtriebe erkennt, weiß man, wie man handeln soll. Handeln muss. Aus dem Sein kann man das Sollen und Müssen ableiten. … Hier spricht das Zeitalter der Wissenschaftsgläubigkeit. Der Versuch, aus dem, was ist, abzuleiten, was sein soll. Die Fakten sollen herrschen. In anderen Schriften hat Freud das wesentlich vorsichtiger formuliert:

»Die Schicksalsfrage der Menschenart scheint mir zu sein, ob und in welchem Maße es ihrer Kulturentwicklung gelingen wird, der Störung des Zusammenlebens durch den menschlichen Aggressions- und Selbstvernichtungstrieb Herr zu werden. In diesem Bezug verdient vielleicht gerade die gegenwärtige Zeit ein besonderes Interesse. Die Menschen haben es jetzt in der Beherrschung der Naturkräfte so weit gebracht, daß sie es mit deren Hilfe leicht haben, einander bis auf den letzten Mann auszurotten. Sie wissen das, daher ein gut Stück ihrer gegenwärtigen Unruhe, ihres Unglücks, ihrer Angststimmung. Und nun ist zu erwarten, daß die andere der beiden ›himmlischen Mächte‹, der ewige Eros, eine Anstrengung machen wird, um sich im Kampf mit seinem ebenso unsterblichen Gegner zu behaupten. Aber wer kann den Erfolg und Ausgang voraussehen?« (Das Unbehagen in der Kultur, S. 128 f.).

Basis und Überbau

Das war der Traum der letzten Jahrhunderte: Wir stellen fest, was ist, und leiten daraus ab, was wir tun sollen. Ein solches Handeln wäre dann wirklich nicht mehr postfaktisch. Das wäre faktenbasiertes Handeln, und wenn Sie glauben, das Wort hätte ich mir jetzt gerade ausgedacht, so muss ich Sie enttäuschen. Nein! Es gibt etwas, was sich evidenzbasierte Beratung nennt, einschließlich Homepage. Die Vorstellung: Fakten sagen uns, was wir tun sollen. Das Deutsche Netzwerk Evidenzbasierte Medizin (DNEbM) e.V. schreibt auf seiner Homepage:

»Die Evidenzbasierte Medizin (EbM = beweisgestützte Medizin) ist demnach der gewissenhafte, ausdrückliche und vernünftige Gebrauch der gegenwärtig besten externen, wissenschaftlichen Evidenz für Entscheidungen in der medizinischen Versorgung individueller Patienten. Unter Evidenz-basierter Medizin (›evidence based medicine‹) oder evidenzbasierter Praxis (›evidence based practice‹) im engeren Sinne versteht man eine Vorgehensweise des medizinischen Handelns, individuelle Patienten auf der Basis der besten zur Verfügung stehenden Daten zu versorgen. Diese Technik umfasst die systematische Suche nach der relevanten Evidenz in der medizinischen Literatur für ein konkretes klinisches Problem, die kritische Beurteilung der Validität der Evidenz nach klinisch epidemiologischen Gesichtspunkten; die Bewertung der Größe des beobachteten Effekts sowie die Anwendung dieser Evidenz auf den konkreten Patienten mit Hilfe der klinischen Erfahrung und der Vorstellungen der Patienten. Ein verwandter Begriff ist die Evidenzbasierte Gesundheitsversorgung (›Evidence-Based Health Care – EbHC‹), bei der die Prinzipien der EbM auf alle Gesundheitsberufe und alle Bereiche der Gesundheitsversorgung, einschließlich Entscheidungen zur Steuerung des Gesundheitssystems, angewandt werden.«

Hier kommt es nun wieder, wie eigentlich immer, auf jedes Wort an: Selbstverständlich ist »der gewissenhafte, ausdrückliche und vernünftige Gebrauch der gegenwärtig besten externen, wissenschaftlichen Evidenz« Voraussetzung dafür, welche Tabletten oder Therapien ein Arzt verschreibt. Nun äußere ich aber ganz vorsichtig und behutsam: Das war doch immer der Anspruch. Dann ist nicht die Regel neu, sondern nur an ihrer Umsetzung oder Kontrolle mag es hapern. Die Vorstellung nämlich, dass Ärzte bisher und in großer Zahl gewissenlos, unbewusst und krankhaft Gebrauch der gegenwärtig schlechtesten wissenschaftlichen Aussagen machen, scheint mir abwegig. Immerhin schrieb schon der Grieche Hippokrates (460–370):

»Man muss darauf sehen (achten), dass alles, was man zur Behandlung bedingt, auch ja zweckdienlich sei (…). Wo man etwas tun muss, muss man das Mehr oder (das) Weniger bedenken. Denn es macht einen großen Unterschied, ob man dabei nach beiden Seiten hin das richtige Maß trifft oder nicht« (Hippokrates, S. 89).

Hippokrates liegt zusätzlich zum Wissen am rechten Maß. Leitidee ist die Zweckdienlichkeit, nicht die Faktenbasierung. Dass die Fakten stimmen müssen, setzt Hippokrates voraus. Die ärztliche Kunst aber besteht darin, das richtige Maß anzulegen.

Keine Diagnose sagt, was zu tun ist. Als ich in den 1970er Jahren auf einer kleinen Kanareninsel im Urlaub Zahnschmerzen bekam, riet mir der Reiseleiter: »Gehen Sie hier keinesfalls zum Zahnarzt. Kaufen Sie sich eine Schachtel Aspirin und warten Sie, bis Sie wieder zu Hause sind. Und dort gehen Sie zum Arzt.« Das war ein postfaktischer Rat. Kein Faktum sagt, was wir tun sollen. Auch Zahnschmerzen nicht.

Auch nicht, wenn die Götter die Fakten bestimmen. Wer glaubt, sein Handeln sei faktenbestimmt und damit (darf ich einmal so formulieren?) präpostfaktisch, macht sich etwas vor. Das hat zwei Gründe: einen anthropologischen und einen handlungslogischen Grund.

Über Rom und einige Wege

Zuerst möchte ich den handlungslogischen Grund betrachten, warum wir aus Fakten oder Zielen keine Handlungen ableiten können. Da ich keinerlei Scheu vor einfachen Beispielen habe (weil sie oft das Problem eines Sachverhalts deutlicher darstellen als komplizierte Beispiele), wählen wir als Beispiel eine Reise nach Rom. Sie steht unumstößlich fest und ist ein nicht in Frage zu stellendes Faktum: Wir wollen nach Rom. Nun stellt sich die Frage, wie wir nach Rom kommen, und es besteht die Erwartung, wir könnten dies aus dem Faktum, dass wir nach Rom wollten, ableiten. Zwingend ableiten, so dass jeder unserer Entscheidung folgen muss. Gewissermaßen mit gesetzmäßiger Kraft, so, wie wir aus dem Faktum, dass zwei plus zwei genau vier ergibt, ableiten können, dass gilt: 4 – 2 = 2. Daran ist ja auch nicht zu rütteln.

Wie kommen wir nach Rom? Mit dem Flugzeug, dem Zug, dem Fernbus, dem Auto, dem neuen E-Bike oder zu Fuß. Wie auch immer man sich nun entscheidet, keine dieser Entscheidungen ist aus dem Satz abgeleitet, dass wir nach Rom wollen. Es sind Nebenentscheidungen, die wir hinzuziehen. Wir wollen schnell nach Rom, weil es Karsamstag ist und wir den Papst Ostern auf dem Petersplatz erleben wollen: Da verbieten sich Fußmarsch und Radtour. Sollten wir aber lieber etwas für unsere Gesundheit tun wollen und haben Zeit, dann verbieten sich Flugzeug, Auto, Bus und Bahn. Haben wir wenig Geld zur Verfügung, wird man vielleicht den Fernbus nehmen oder per Anhalter fahren. Entscheiden wir uns für die Bahnfahrt, weil sie recht schnell geht und umweltverträglich ist, so haben wir zwei Nebenentscheidungen eingeführt, die sich keineswegs zwingend aus der Absicht, nach Rom zu fahren, ergeben. Aber es wird noch komplexer: Wenn wir mit der Bahn fahren, können wir einen Zug am Tag oder den Nachtzug nehmen. Und dann können wir überlegen, ob wir die etwas teurere schnelle Verbindung nehmen oder eine preisgünstige langsame. Wollen wir Sitzplätze reservieren und dabei lieber am Fenster sitzen oder im Gang, Großraum oder Abteil? Nebenentscheidungen implizieren weitere Nebenentscheidungen.

Man könnte sehr lange noch so weiterfragen (und den Zug verpassen), und man könnte es nicht nur, man tut es auch, wenn man handelt. Keine der Handlungen ist aus der ersten Entscheidung, aus dem Faktum, abzuleiten, obwohl alle Entscheidungen auf dieses erste Faktum bezogen bleiben. Handlungen – so nun die Regel – können nie und nimmer aus Fakten abgeleitet werden, und zwar deshalb nicht, weil unzählige Nebenentscheidungen einfließen, die mit der Zielentscheidung in keinem notwendigen Zusammenhang stehen. Insofern gilt er wirklich, der schöne Satz, dass alle Wege nach Rom führen. Aber welchen Weg wir wählen werden, lässt sich aus dieser Volksweisheit nicht ableiten.

Transfer

Selbstverständlich gilt dieser Lehrsatz der Handlungslogik auch für politische Entscheidungen. Sicher wünschen wir uns alle, dass Friede auf Erden sei. Und nun stellen wir fest, dass es um den Weltfrieden nicht so bestellt ist, wie wir es uns wünschen. Das sind die harten Fakten. Aber folgt nun daraus, wie wir den Frieden sichern? Frieden schaffen ohne Waffen? Abschreckung? Wehrhafte Demokratie? Aber wo verteidigt man die? Auch außerhalb der Landesgrenzen? Wäre das Verhandeln nicht die einzige Möglichkeit, eine Möglichkeit allerdings, die von einer weiteren Gruppe als »Appeasement-Politik« beurteilt wird, als falscher Umgang mit aggressiven Regierungen? Zu all diesen Möglichkeiten gibt es Argumente, und zu diesen Argumenten gibt es wieder Argumente usw. usw. usw. Aus dem Faktum »Wir leben in friedlosen Zeiten« lässt sich nicht ableiten, welche Maßnahme die beste ist, um Frieden zu sichern. Es ist umgekehrt, es ist wie bei der Romreise: Wir müssen alle Nebenentscheidungen mitbedenken und uns dann für die beste aller Möglichkeiten entscheiden, die dem Ziel des Friedens am nächsten kommt. Das Ziel gibt nicht den Weg vor, sondern wir überprüfen mögliche Wege, ob sie zum Ziel führen.

 

Noch ein Transfer? Bitte schön!

Bildungsungerechtigkeit sei ein Faktum – und deswegen müssten wir mehr Gesamtschulen einrichten! Oder aber sollte man den Ganztag verbindlich machen? Klassen verkleinern? Schüler-Bafög reaktivieren? Die Eltern fördern? Inklusion? Oder Individualförderung? Das Niveau senken? Die Schulzeit verlängern? Bildungsgutscheine vergeben?

Alle diese Maßnahmen werden sicherlich Folgen zeitigen – aber welche Maßnahmen wir ergreifen, hängt davon ab, wie viel Geld der Staat investieren will, ob die Eltern mitmachen, was Pädagogen empfehlen, welche Erfahrungen wir bisher mit welchen Maßnahmen haben, ob privat vor Staat geht oder umgekehrt, usw. usw. usw. Wir müssen weitere Argumente anfügen, um eine Entscheidung zu begründen. Wir ziehen Nebenentscheidungen heran, die nicht aus Zielvorgaben oder Fakten abzuleiten sind. Die sich aber auf Ziele und Fakten beziehen.

Das heißt nun keinesfalls, dass Entscheidungen beliebig sind. Es heißt nur, dass sie nicht aus Fakten oder Zielen ableitbar sind. Am Ende muss unsere Entscheidung wasserfest begründet sein, nachvollziehbar, evident. Fakten helfen uns dabei, sind aber nicht der Grund. Und das hat einen weiteren, nämlich den angekündigten zweiten Grund:

Vive la liberté – nur in Freiheit handelt man!

Aus Fakten lassen sich keine Handlungsnormen so stringent ableiten wie aus mathematischen Grundsätzen praktische Anwendungen. Auch das Regelkreismodell funktioniert zuverlässig nur beim Kühlschrank, nicht aber im Leben: Missstand Versuch, ihn zu beheben Evaluation, ob es gelungen ist bei negativer Antwort neuer Versuch.

Der Grund liegt darin, dass wir Menschen keine Thermostate sind, sondern Vernunftwesen, die Fakten schaffen, auslegen, verstehen und schließlich bewerten. Warum wir das können, weiß kein Mensch; dass wir es können, muss man voraussetzen.

Daher die notwendige Unterscheidung: Wenn der Mensch unfrei wäre, verhielte er sich auf Grund von Fakten (wie die Tiere, die auf Grund von Signalreizen reagieren, so dass wir sie dressieren können). Da der Mensch frei ist, handelt er angesichts von Fakten (weshalb man Menschen nicht dressieren kann; nicht mal die Konditionierung klappt so, wie Strafgesetzbuch und Werbeindustrie sich das wünschen).

Sind wir frei? Ich sage an dieser Stelle (mehr in meinem Buch »Mach’s gut? Mach’s besser!«) knapp »ja!« und schiebe die kürzeste Begründung nach, die es gibt: Wären wir unfrei, lohnte es sich nicht, die These zu bezweifeln, dass wir frei sind. Ohne eine vorausgesetzte Freiheit des Menschen sind alle Bücher sinnlos, alle Gedanken und alle Pläne. Denn wenn wir unfrei wären, dann bräuchten wir nicht zu denken; dann kommt alles, wie es kommt. Sobald wir aber unsere Beine aus dem warmen Bett in die eisige Morgenluft schwenken, gehen wir davon aus, dass wir frei sind. Wir alle leben immer, »als ob« wir frei wären.

Im Hinblick auf Erkenntnis sind wir frei, alle Fragen zu stellen, um uns Antworten anzuhören. Wir können nach allem fragen, wir können alles erkennen wollen. Diese Fragen sind nicht vorgegeben – und wären sie es, dann würden wir sie sowieso genauso stellen. Wir sind folglich immer auf der richtigen Seite, wenn wir Freiheit voraussetzen: Weil wir alles wissen wollen können, sind wir frei, alle Fragen zu stellen. Das kann kein Tier.

Wir handeln anlässlich von Fakten, aber nicht auf Grund von Fakten. Das war immer so oder jedenfalls fast immer: Ich habe ja einige Theorien vorgestellt, die glaubten, das Handeln aus den Fakten ableiten zu können. Man nennt dies in der Fachsprache den naturalistischen Fehlschluss. Die postfaktische Gesellschaft macht diesen Fehlschluss nicht.

Aber wie handeln wir richtig? Um diese Frage zu beantworten, müssen wir noch klären, was Fakten sind. Ich hoffe, ich schaffe das in überschaubarer Zeit. Aber bis zum letzten Kapitel des Buches müssten Sie sich schon gedulden. Dann versuche ich zu erklären, wie wir handeln können – und wie wir handeln sollen.

2. Gibt es Wahrheit?

Eine jener Fragen, die die Menschen beschäftigt, seitdem man ihre Geschichte kennt, ist die Frage, ob es Wahrheit gibt. Genauer gesagt: ob es die Wahrheit für die Menschen gibt. Denn schon in den frühesten Urkunden der Menschheit sieht man die Vorstellung entwickelt, dass es ein nichtmenschliches Wesen geben könnte, das diese Wahrheit längst kennt, besitzt oder ist. Dass es also Wahrheit gibt.

Alles über alles

Eine der ältesten überlieferten Geschichten aus den antiken Hochkulturen ist das Gilgamesch-Epos (zwischen 2500 und 2000 v. Chr.) aus dem babylonischen Einflussgebiet. Es beginnt mit folgenden Worten:

»Der alles gesehn hat überall, das Land regierte,

Der die Ferne kannte, Jegliches erfaßt hatte,

… er gleichermaßen;

Alles an Kenntnis der Dinge allzumal hatte Anu ihm bestimmt. Verwahrtes auch sah er, Verborgenes erblickte er (…)

Das kein späterer König, kein Mensch ebenso machen kann!«

Es gibt ein Wesen mit Allwissenheit, und es gibt die Menschen. Zwischen beiden ist eine Kluft. Viele alte Hochkulturen haben sich die Mühe gemacht, exakt diese Vorstellung zu überliefern. Wahrheit ist demnach bereits in diesen ganz frühen Zeiten den Menschen ein Problem, eine Aufgabe, und immer ist es die Vorstellung, dass es jemanden gibt, der diese Wahrheit hat – oder, wie wir sehen werden, der diese Wahrheit ist.

Hier ein Beleg aus der iranischen Kultur. Es handelt sich um den dritten Abschnitt des »Avesta«, einer Textsammlung aus dem Gedankenzusammenhang des iranischen Religionsstifters Zarathustra (vermutlich im 2.–1. Jahrtausend vor unserer Zeitrechnung aufgeschrieben. Die Quellenlage ist desolat, man kann das Alter gar nicht genau angeben). Das immerhin 50 Verse umfassende Gedicht enthält die Aufzählung von Namen, die der Sprecher als seine ausgibt – verbunden durch ein »bin ich« oder »heiße ich« (meinen »sein« und »heißen« etwa das Gleiche? Ich frage nur). Der Text schließt mit dem Satz »Das sind meine Namen«:

»Der Hüter bin ich und der Schöpfer,

der am meisten Sehende heiße ich (…)

der am meisten Wissende heiße ich (…)

der nicht Betrügbare heiße ich (…)

der Allschaffende heiße ich (…)

Das sind meine Namen« (Widengren, S. 111 f.).

Die Idee einer letzten Wahrheit wird einem Wesen zugesprochen, das sich mitteilt, das sich den Menschen mitteilt, das verständlich spricht, aber für sich in Anspruch nimmt, was kein Mensch mehr für sich in Anspruch nehmen könnte. Es sind nämlich seine Namen, also das, was ein Wesen von allen anderen unterscheidet. Und wenn man nachdenkt: Kann es das Allwissende zweimal geben – oder kann es nur eine Wahrheit, einen Gott geben? Die Antwort des Textes auf diese Frage ist eindeutig: Ich trage den Namen, sagt der Sprecher. Er kann keine anderen Götter neben sich haben. Es ist – logisch betrachtet – unnötig, dass mehrere Götter alles wissen.

Es gibt die Wahrheit, aber sie kommt den Menschen nicht zu. Gleichwohl sprechen sie von ihr. Sie glauben an sie – so sind die Sätze doch zu verstehen? Das Absolute ist unermesslich, unser Wissen hingegen kann man messen – sogar mit Schulnoten bewerten.

800 Jahre später lässt der Evangelist Johannes in 14,6 Jesus sagen: »Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben« (aus gutem Grund zitiere ich hier einmal die griechische Version, zuerst in lateinischen, dann in griechischen Buchstaben: »egô eimi hê hodos kai hê alêtheia kai hê zôê« = »Ἐγώ εἰμι ἡ ὁδὸς καὶ ἡ ἀλήθεια καὶ ἡ ζωή«). Johannes lässt Jesus damit die Kriterien einer Handlungstheorie formulieren:

(1) Wir müssen Wahrheit voraussetzen, die aber nicht im Besitz des Menschen ist (Jesus ist die Wahrheit).

(2) Wir brauchen eine Methode, die uns gegeben wird – also nicht von uns begründet sein kann (das deutsche Wort Methode, das nur schon einmal nebenbei, ist seit dem 17. Jahrhundert bezeugt; in die deutsche Sprache gelangte es über das gleichbedeutende französische Wort méthode, das vom spätlateinischen Wort methodus abgeleitet wurde, das wiederum aus dem griechischen Wort μέθοδος [méthodos] abgekupfert wurde und »Weg oder Gang einer Untersuchung«, »Weg zu etwas hin« bedeutet. Es wurde aus μετά [metá, was so viel wie »hinter«, »nach« bedeutet] und ὁδός [hodós, Bedeutung: »Weg«] gebildet. Und selbst wenn Sie Altgriechisch weder sprechen noch lesen können …, finden Sie, wenn Sie die Schriftzeichen vergleichen, die Buchstabenfolge ὁδός auch in den Worten, die Jesus in den Mund gelegt werden).

(3) Wir müssen handeln – wir müssen das Leben können unzweifelhaft voraussetzen (im Unterschied zu den Tieren, denen niemand sagt, dass sie leben. Sie handeln auch nicht, sie verhalten sich).

Methodisch unter dem Anspruch von Wahrheit zu erkennen, um handeln zu können … Ohne viel vorwegzunehmen: Wäre das nicht ein vollständiges Programm für die Aufklärung?

Aber natürlich sind wir so aufgeklärt, dass wir dergleichen Sätze als Glaubenssätze bezeichnen, vielleicht sogar als Naivität und Unsinn, als Dummheit unserer unmündigen Vorväter und als Ammenmärchen unserer Urmütter abtun. Als Mythen bestenfalls. Wir jedoch, wir glauben nicht mehr an so etwas. Wir verlassen uns auf unseren Verstand. Das ist doch gerade der Fortschritt, dass man alle Vorfahren als Vorgänger oder Vorläufer ansieht, als vorläufig und sich selbst als ziemlich endgültig. Wir müssen nicht mehr glauben. Wir wissen es (besser). Wir suchen für alles eine vernünftige Erklärung. Wir haben die Götter beerbt! Wir sind die neuen Götter.

Ein Ausflug in die Niederungen

Und wer nun seinerseits empört reagiert, weil er solche Sätze für Blasphemie hält, den verweise ich auf eine Literaturgattung, die genau diese Auffassung immer wieder neu illustriert. Die Gattung ist sehr erfolgreich. Und manche Geschichten dieser Gattung spielen sogar im religiösen Milieu. Ich spreche vom Kriminalroman, genauer: vom Detektivroman. Der Detektiv versteht sich als Nachfolger Gottes. Als Ersatz Gottes. Er ist der Allwissende der Aufklärung. In Agatha Christies Roman »Murder at the Vicarage« (Mord im Pfarrhaus) heißt es:

»›Es ist so faszinierend (…) von seinem eigenen Urteil auszugehen und dann herauszufinden, daß man recht hat.‹ (…) Für Miss Marples Allwissenheit findet sich jedes Mal eine ausgezeichnete und höchst vernünftige Erklärung« (S. 164, 178).

Diese Vorstellung hat viele Vorläufer, von denen wir einen prominenten anführen wollen, Sherlock Holmes:

»›Ausgezeichnet‹, sagte Sherlock Holmes, ›ich glaube, es ist fast an der Zeit, mich auf meine neue Rolle vorzubereiten.‹ Er verschwand in seinem Schlafgemach und kam einige Minuten später als freundlicher und einfältig dreinblickender nonkonformistischer Geistlicher zurück. Sein breiter schwarzer Hut, die ausgebeulten Hosen, das weiße Beffchen, das sympathische Lächeln und der allgemeine Ausdruck spähender und wohlwollender Neugier ließen ihn wie eine Bilderbuchausgabe eines betulichen Priesters erscheinen. Nicht, daß Holmes nur seine Kleidung gewechselt hätte. Sein Ausdruck, seine Haltung, ja seine Seele schienen sich mit jeder neuen Rolle, in die er schlüpfte, zu verändern« (Doyle: Skandal in Böhmen, S. 26).

 

Seine Verkleidung ist symbolisch gemeint, wie die Geschichte »Der Flottenvertrag« verrät:

»›Es gibt nichts, wo Deduktion so zwingend ist wie in der Religion (…) Sie kann vom logisch Denkenden wie eine exakte Wissenschaft aufgebaut werden« (S. 247).

Und so kann der Detektiv zu dem werden, von dem das Gilgamesch-Epos sprach:

»Sein glänzendes Denkvermögen schwang sich zu den Höhen der Intuition auf, bis jene, die mit seinen Methoden nicht vertraut waren, ihn scheel ansahen, als einen Mann, dessen Kenntnisse nicht die anderer Sterblicher waren« (Doyle: Rotschöpfe, S. 55).

In einem der beiden ersten Romane der Maigret-Serie lässt der belgische Romancier Georges Simenon (1903–1989) seinen 1930 gerade erst erschaffenen Kommissar Maigret sagen:

»Noch zehn solche Fälle, und ich lasse mich pensionieren. Weil das nämlich der Beweis dafür wäre, daß der gute, alte liebe Gott da oben die Arbeit der Polizei höchstpersönlich übernommen hat …« (S. 174).

Allerdings lässt Simenon noch 75 Romane und 28 Erzählungen über den Mann folgen, der Gott ersetzen kann. In der deutschsprachigen Literatur finden wir diese Motive in den Romanen um den Serienhelden der 1001 Abenteuer Kara Ben Nemsi/Old Shatterhand. Gleich zu Beginn der Orientserie, in dem Band »Durch die Wüste«, den Karl May später als Symbolum einer Bildungsgeschichte des Menschen gedeutet hat, entwickelt sich zwischen dem Helden Kara Ben Nemsi und seinem moslemischen Begleiter Halef ein denkwürdiger Dialog.

»Du glaubst also, daß er den Kaufmann ermordet hat?«

»Ja.«

»Du warst nicht dabei!«

»Ich schließe es.«

»Nur Allah allein darf schließen; er ist allwissend (…)«

»Nur Allah allein darf schließen, weil er allwissend ist? O Wekil, dein Geist ist müde von den vielen Hammeln mit Kuskusu, die du gegessen hast! Eben weil Allah allwissend ist, braucht er nicht zu schließen; wer schließt, der sucht ein Ergebnis seiner Folgerungen, ohne es vorher zu kennen.«

»Ich höre, dass du ein Alim bist, ein Gelehrter, der viele Schulen besucht hat, denn du sprichst in Worten, die niemand verstehen kann. (…) Also du warst nicht dabei, und der Tote konnte es dir nicht sagen; woher willst du es wissen, dass er ein Mörder ist?«

»Ich schließe es.«

»Ich habe dir bereits gesagt, dass nur Allah schließen darf!«

»Ich habe seine Spur gesehen und verfolgt, und als ich ihn traf, hat er den Mord gestanden« (S. 52).

Diese kleinen philosophisch-religiösen Preziosen kann man als Konfession des wissenschaftsgläubigen Zeitalters verstehen: Wir werden so allwissend wie Gott. Daher brauchen wir Gott nicht mehr. Wir wissen es jetzt selbst. Wir übernehmen seine Rolle.

Zurück zum Himmel

Aber lassen wir ab von solch niederer Literatur, kehren wir noch einmal zurück zu den hohen Fragen »Gibt es Wahrheit?« und »Was ist Wahrheit?«.

Die letzte Frage kennen Sie. Pilatus hat sie nach Johannes 18,38 gestellt. Aber dass er sie überhaupt stellt, zeigt, dass die damalige Welt, die wir uns heute – aufgeklärt, aus wissenschaftlicher Perspektive und mit modernem Selbstbewusstsein – gerne als naiv gläubig vorstellen, genau eines nicht war: naiv gläubig. Für Pilatus stellt sich ein Problem, und wenn wir uns den Text genau anschauen, ein ganz modernes Problem:

»Pilatus (ging) zu ihnen heraus und fragte: Welche Anklage erhebt ihr gegen diesen Menschen?

Sie antworteten ihm: Wenn er kein Übeltäter wäre, hätten wir ihn dir nicht ausgeliefert.

Pilatus sagte zu ihnen: Nehmt ihr ihn doch und richtet ihn nach eurem Gesetz!

Die Juden antworteten ihm: Uns ist es nicht gestattet, jemanden hinzurichten. (…)

Da ging Pilatus wieder in das Prätorium hinein, ließ Jesus rufen und fragte ihn: Bist du der König der Juden?

Jesus antwortete: Sagst du das von dir aus oder haben es dir andere über mich gesagt?

Pilatus entgegnete: Bin ich denn ein Jude? Dein Volk und die Hohepriester haben dich an mich ausgeliefert. Was hast du getan?

Jesus antwortete: Mein Königtum ist nicht von dieser Welt. Wenn mein Königtum von dieser Welt wäre, würden meine Leute kämpfen, damit ich den Juden nicht ausgeliefert würde. Nun aber ist mein Königtum nicht von hier.

Da sagte Pilatus zu ihm: Also bist du doch ein König?

Jesus antwortete: Du sagst es, ich bin ein König. Ich bin dazu geboren und dazu in die Welt gekommen, dass ich für die Wahrheit Zeugnis ablege. Jeder, der aus der Wahrheit ist, hört auf meine Stimme.

Pilatus sagte zu ihm: Was ist Wahrheit?«

Pilatus wirkt etwas nervös, weil er keinen Ansatzpunkt findet, um einen schlichten Sachverhalt zu klären. Die Faktenlage. Jede der vorgebrachten Aussagen scheint plausibel, aber insgesamt widersprechen sich die Aussagen. Es sind nun nicht einfach gegensätzliche Aussagen, sie passen nicht einmal zusammen. Es scheint zum Beispiel Fakten zu geben, die davon abhängen, wer sie sagt: »Sagst du das von dir aus oder haben es dir andere über mich gesagt? / Pilatus: Bin ich denn ein Jude?« Das ist doch auch keine passende Antwort auf die Frage von Jesus. Selbst Pilatus bekommt auf seine exakte Nachfrage keine klare Antwort: Jesus legt ihm dar, er sei ein König, aber dann doch wieder nicht so, wie man König gemeinhin verstehe. Wie soll ein Richter das verstehen?

Wir haben nun zwei Fragen. Erstens: Was ist Wahrheit? Und wenn wir so fragen, stellt sich die andere Frage; zweitens: Gibt es Wahrheit? Ich bin der begründeten Auffassung, dass sich die letzte Frage leichter oder vielleicht sogar leicht beantworten lässt.

Gibt es die Wahrheit?

Zuerst einmal scheint es völlig unmöglich, die Frage zu beantworten, ob es Wahrheit gibt. Aber der Schein trügt, wie sich zeigen wird. Und das »Zeigen« geht so: Wenn man in gängigen Lexika das Lemma »Wahrheit« nachschlägt und das Lemma »Erkenntnis« hinzunimmt, bekommt man Texte aus 3000 Jahren angeboten und hat zudem ein Leseprogramm mindestens für die nächsten 1000 Nächte oder gar 50 Jahre vor sich. Wahrscheinlich mehr. Es könnte sogar sein, dass es eine unendliche Geschichte wird, alle Wahrheits- und Erkenntnistheorien einmal zur Kenntnis zu nehmen. Illustre Namen finden sich dort: Platon (428/427– 348/347) natürlich (Das Höhlengleichnis), Aristoteles (348–322; Physik und Metaphysik), Thomas von Aquin (1225–1274; Über die Wahrheit). Bis in die Gegenwart reichen Namen wie Bertrand Russell (1872–1970; An Inquiry into Meaning and Truth), Rudolf Carnap (1891–1970; Wahrheit und Bewährung), Karl R. Popper (1902–1994; Objektive Erkenntnis), Hans-Georg Gadamer (1900–2002; Wahrheit und Methode) und …

… und diese Aufzählung ist sehr willkürlich und sehr ungerecht, weil so viele wichtige Autoren gar nicht erwähnt werden.

Aber ich habe einen Verdacht. Vielleicht ist selbst die längste Liste unvollständig und wird auch unvollständig bleiben, weil eigentlich jeder Mensch aufgelistet werden müsste, der irgendetwas sagt. Denn jeder Mensch setzt mit dem, was er sagt, doch voraus, dass es wahr sei, was er sagt. Er müsste demnach Wahrheit voraussetzen. Und er muss wissen, was er sagt. Er muss also eine Wahrheitstheorie haben. Aber das war nur so ein flüchtiger Gedanke. Lassen wir ihn liegen.

Moment mal!

Und nun könnte man sofort verlangen: »Definieren Sie doch erst mal, was Wahrheit ist!« Das kann ich gerne machen.

Es bringt nur nichts. Wenn ich z. B. schreiben würde »Verum est id quod est« (»Wahrheit ist das, was ist«), könnte man sofort nachhaken: Und was heißt »ist«? Zuerst einmal das erste »ist« und dann das zweite »ist«. Und wenn ich antworte, es kommt von Sein (jedenfalls das zweite »ist«), dann fragen Sie: Was heißt »Sein«? Und wenn ich dann den Philosophen Plotin (204–270) antworten lasse:

»Das Erste nämlich muss ein Einfaches vor allen Dingen Liegendes sein, verschieden von allem was nach ihm ist, für sich selbst seiend, nicht vermischt mit etwas, was von ihm stammt, und dabei doch in anderer Weise fähig, den Dingen beizuwohnen, wahrhaft Eines seiend und nicht zunächst etwas anderes und dann erst Eines. […] Denn wenn es nicht einfach wäre, entrückt aller Zufälligkeit und aller Zusammengesetztheit, und wahrhaft eigentlich Eines, dann wäre es nicht mehr der Urgrund; erst dadurch, dass es einfach ist, ist es von allen Dingen das Unabhängigste und so das Erste« (Enneaden, S. 151 = V, 4, 1)