Kitabı oxu: «»Wir kriegen euch alle!« Braune Spur durchs Frankenland»

Şrift:

Werner Rosenzweig

»WIR KRIEGEN EUCH ALLE!«

Braune Spur durchs Frankenland

Engelsdorfer Verlag

Leipzig

2015

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie,

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Handlung und Personen sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufällig und unbeabsichtigt.

Copyright (2015) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte beim Autor, www.roetten-buch.de

Lektorat: Barbara Lösel, www.wortvergnügen.de

Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

www.engelsdorfer-verlag.de

Inhaltsverzeichnis

Cover

Titel

Impressum

VORWORT

PROLOG

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 58

Kapitel 59

Kapitel 60

Kapitel 61

Kapitel 62

Kapitel 63

Kapitel 64

Kapitel 65

EPILOG

VORWORT

Der Nahe Osten scheint dem Verfall nahe. Sunniten kämpfen gegen Schiiten. Die USA haben sich aus dem Irak zurückgezogen, ohne stabile Strukturen zu hinterlassen. Das so oft totgesagte Regierungssystem von Präsident Assad in Syrien ist immer noch an der Macht und kämpft an verschiedenen Fronten. Nahezu fünf Millionen Flüchtlinge haben beide Länder zwischenzeitlich verlassen. Die dschihadistisch-salafistische Terrororganisation Islamischer Staat, deren Machtbasis auf einer Gruppe ehemaliger irakischer Offiziere beruht, hat ein Kalifat ausgerufen und will zurück zu den Ursprüngen des Islam. Seinen Ursprung hat die Terrororganisation im irakischen Widerstand. Ihre Verbrechen sind brutal und menschenrechtsverachtend. Und da ist auch noch der türkische Ministerpräsident Erdogan in seinem 1000-Zimmer-Palast, der davon träumt, eines Tages die Muslime zu führen und ein großosmanisches Reich zu errichten. Natürlich steht ihm dabei der syrische Präsident im Weg, und auch dem Iran wird diese Idee nicht gerade gefallen. Gekämpft wird an allen Ecken und Enden. Leidtragende sind die Bevölkerungen der genannten Länder. Als wenn das nicht schon genug wäre, verübt auch die nigerianische Terrororganisation Boko Haram ständig Anschläge, und auch in Ägypten und Libyen ist das Fass aufgrund der unsicheren politischen Situationen ständig am Brodeln.

All diese Ereignisse lösten eine Flüchtlingswelle in einem nie dagewesenen Ausmaß aus. Die Neonazis in Deutschland sehen es mit Wohlwollen, wenn sich die Muslime in ihren eigenen Ländern zu Tausenden gegenseitig umbringen. Jetzt aber, wo immer mehr Flüchtlinge und Asylsuchende unter Einsatz ihres Lebens in gewagten Schiffstransporten über das Mittelmeer die italienische Insel Lampedusa ansteuern und so nach Europa und auch nach Deutschland drängen, vergeht ihnen das Lachen. Tausende, Hundertausende Flüchtlinge sind nach Europa unterwegs beziehungsweise warten noch immer auf ihre lebensgefährliche Fahrt über das Mittelmeer. Tausende von ihnen bezahlten dieses Wagnis bereits mit ihrem Leben.

Die Asylaufnahmestellen in Deutschland sind auf diesen Ansturm nicht vorbereitet. Es herrscht das blanke Chaos. Die Flüchtlinge, welche entkräftet, aber lebend in Italien ankommen, will in Wirklichkeit keiner haben. Doch dies zuzugeben, ist politisch nicht opportun. Asyl erhalten normalerweise nur diejenigen, welche auch asylrelevante Gründe glaubhaft machen können. Viele hoffnungslose Menschen werden wieder in ihre Heimatländer abgeschoben, in denen auf viele von ihnen Repressalien, Inhaftierungen und ein ungewisses Schicksal warten. Diejenigen, die in Deutschland bleiben dürfen, haben kaum eine Chance in die Gesellschaft integriert zu werden. In den Orten und Städten ihres endgültigen Verbleibens werden sie selten willkommen geheißen. Sie sind und bleiben Fremde, Störenfriede und werden in vielen Fällen als Nutznießer des deutschen Sozialsystems kritisiert. Sie gehören nicht hierher. Oft schlägt ihnen Fremdenhass entgegen, und einige werden zu Zielobjekten der rechtsradikalen Szene.

»Wir sind keine Nazis«, meinen mehr als 15.000 Dresdner Bürger während der Demonstrationen von Pegida, den Patriotischen Europäern gegen die Islamisierung des Abendlandes, und: »Klar müssen wir Flüchtlingsheime bauen, aber doch nicht gerade hier. Gibt es überhaupt ein Sicherheitskonzept für diesen Plan? Werden jetzt unsere Kita- und Schulplätze knapp? Sind die Asylanten nicht kriminell, und Asylbetrüger? Wie gesagt, wir sind keine Nazis, wir äußern nur unsere berechtigten Bedenken.« Ängste kommen auf, Ängste werden geschürt, und die Pegida-Anhänger geraten in eine politische Schieflage, werden verbal attackiert und dämonisiert. Doch nicht wenige Deutsche, die nicht auf die Straße gehen, denken ähnlich wie sie. Birgt eine zunehmende Islamisierung tatsächlich Gefahren?

Die Rechtspopulisten haben da weniger Probleme ihre Meinung klar zu äußern, Islamfeindlickkeit ist sowieso eine ihrer Dogmen.

Die Neonazis hingegen haben in dieser Geschichte längst beschlossen, rechtzeitig zu handeln: »Taten statt Worte.« Eine Gruppe ehemaliger Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR sieht es als unerlässlich an, ganz Deutschland mit einem neuen Terrornetz zu überziehen und gegen den unerwünschten Ausländeransturm vorzugehen. Der Nationalsozialistische Untergrund hat es längst vorgemacht, wie man mit diesem Ausländergesindel umgeht. Beate Zschäpe, Mitglied des NSU, steht noch immer vor Gericht. Zehn Menschen haben Uwe Mundlos und Uwe Bönhardt, ihre beiden ehemaligen Lebensgenossen, getötet. Die Ermittlungsbehörden konnten die drei lange Zeit nicht unschädlich machen. Sie hatten in ihrer Ermittlungsarbeit versagt. Nie wieder darf sich so etwas wiederholen. Nie wieder, schworen sich die Bundesbehörden.

Doch das sehen die ehemaligen MfS-Mitarbeiter ganz anders. Sie haben ganz klare Vorstellungen: Kleine Terrorgruppen sollen es sein, unauffällig und schlagkräftig. Jeder Anschlag soll detailliert geplant und präzise ausgeführt werden. Viele tote Ausländer nehmen sie gerne in Kauf. Je mehr, desto besser. Ihre Attentate sollen schließlich aufschrecken, sollen die Flüchtlingsströme dazu veranlassen, gar nicht erst nach Deutschland zu kommen. Sie bereiten ihren Plan von langer Hand vor.

Als dann das europäische Parlament beschließt, dass auch Rumänen und Bulgaren ab Januar 2014 die Möglichkeit der freien Wohnsitzwahl in Westeuropa haben, wird es Zeit endlich zu handeln. Hunderttausende Arbeitslose – so die Befürchtungen mancher Politiker – werden sich voraussichtlich auf den Weg machen, in der Hoffnung in Westeuropa eine Arbeitsstelle zu finden. Sie werden Nutznießer der lokalen Sozialsysteme oder nehmen Einheimischen die Arbeitsplätze weg, so die Befürchtungen vieler. Vielleicht stimmt das in einigen Fällen. Vielleicht auch nicht. Bedenken gehen um, Bedenken werden geschürt. »Wer betrügt fliegt! Wir müssen rechtzeitig etwas gegen diese Schmarotzer unternehmen«, heißt die unausgesprochene Botschaft. »Am besten, wir lassen sie gar nicht erst rein, nach Deutschland. Wir brauchen sie nicht, das Lumpenpack, das faule. Haut ihnen doch gleich auf die Fresse!«

PROLOG

Trotz dunkler Vergangenheit war Thomas Keller nie auf dem Radarschirm des Verfassungsschutzes aufgetaucht – bis heute nicht. Eine der vielen desaströsen Peinlichkeiten in der Arbeit der staatlichen Ermittlungsorgane. Gut, er war auch immer äußerst vorsichtig gewesen, bei seinen Kontakten zu Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe. In der Öffentlichkeit ließ er sich nie mit ihnen sehen. Die wenigen persönlichen und kurzen Treffen mit den drei Rechtsextremisten fanden ausschließlich im Geheimen statt, immer draußen an einsamen Orten, Augenzeugen waren sowieso niemals dabei. Telefonieren kam auch nicht infrage. Seinerzeit war er einer der zahlreichen fanatischen Unterstützer des Nationalsozialistischen Untergrunds, des NSU. Die drei hätten ohne Unterstützung von außen, ohne die Geldspender, die Beschaffer von Ausweispapieren, die Vermittler von konspirativen Wohnungen und die Waffenlieferanten ihre Banküberfälle, Bombenanschläge und Morde niemals alleine ausführen können.

Zumindest finanziell leistete er in den Anfangsjahren seine bescheidenen Beiträge. Immer in bar. Beate Zschäpe wusste das, aber er hatte keine Sorgen, auch wenn sie gerade vor Gericht stand. Beate würde ihn nie verraten.

Bis zum Spätherbst 1989 war Thomas Keller ein führendes Mitglied des Ministeriums für Staatssicherheit, doch damals hieß er im wahren Leben noch Hans-Peter Wallner. Als in den großen Städten der damaligen DDR die Bürger auf die Straßen gingen und »Wir sind das Volk« riefen, um gegen das SED-Regime zu demonstrieren, als Ungarn seine Grenzen zum Westen öffnete, war für ihn das Ende seiner geliebten DDR absehbar, und er handelte ohne zu zögern. Der Zufall kam ihm dabei zu Hilfe: Was für ein Glück, dass er den wahren Thomas Keller, den SED-Regimekritiker und SPD-Anhänger aus Ostberlin, Anfang 1986 hinter Schloss und Riegel brachte. Er sah ihm äußerlich verdammt ähnlich – was sein persönliches Interesse an dem Häftling weckte: Er hatte das gleiche Alter – Geburtsjahrgang 1950 – war schlank, einen Meter achtundsiebzig groß, hatte ein ovales Gesicht, selbst seine Art, sich zu bewegen, war nahezu identisch. Die wirklichen Unterschiede waren nicht sonderlich gravierend: Auf der Nase hatte er, im Gegensatz zum richtigen Thomas Keller, einen kleinen Höcker, die Farbe seiner Augen war nicht braun, sondern blau-grau. Der andere war Brillenträger, hatte einen nach hinten gekämmten Kurzhaarschnitt, der an den Schläfen bereits graue Töne annahm. Immer wieder betrachtete Hans-Peter Wallner die Fotos von Thomas Keller und studierte die Vernehmungsprotokolle. Bald kannte er dessen Lebensgeschichte in-und auswendig: einziges Kind von Helga und Thorsten Keller. Die Eltern waren 1984 bei einem schweren Verkehrsunfall verstorben. Ein Wessi-Lkw drückte bei Schnee und Glatteis auf der Transitautobahn ihren Trabi gegen eine Autobahnbrücke. Kellers Onkel war 1950 in die USA ausgewandert und betrieb in Seattle einen gut florierenden Immobilienhandel. Das war’s. Ansonsten hatte Thomas Keller keine weiteren Verwandten. Niemand wartete auf ihn. Er war Single.

Der Verurteilte saß in Bautzen II, dem Stasi-Knast, in der Lessingstraße in der Ostvorstadt ein. Von 1945 bis 1949 diente Bautzen II – eine Zweigstelle von Bautzen I – der sowjetischen Militärverwaltung als Untersuchungsgefängnis. Im Jahr 1949 übernahm das Justizministerium der DDR die Strafanstalt, bis schließlich 1956 das Ministerium für Staatssicherheit die Kontrolle an sich riss. Auch in Bautzen II demonstrierten die Gefangenen in der Wendezeit gegen das politische System. Hans-Peter Wallner schmiedete schon seit Wochen an seinem Plan. Anfang November 1989 besuchte er Thomas Keller im Gefängnis und erklärte ihm, dass er freigelassen werden würde. Noch heute. Jetzt sofort. Er, Hans-Peter Wallner, habe Anweisungen erhalten, ihn in sein Häuschen nach Berlin-Köpenick zurückzubringen. Der Entlassungsvorgang dauerte eine knappe Stunde. Nachdem die vorbereiteten Entlassungspapiere geprüft, Thomas Kellers Hab und Gut, sein DDR-Ausweis, sein Berliner Hausschlüssel und die sonstigen Dokumente übergeben waren, öffneten sich für die beiden die Gefängnistore und der poltische Gefangene atmete, erstmals seit drei Jahren und zehn Monaten, wieder als freier Mann die Luft dieses kalten und nebeligen Tages. Hans-Peter Wallner öffnete die Beifahrertür seines Dienst-Trabis, wartete, bis der Ex-Gefangene Platz genommen hatte, klemmte sich hinter das Steuer des Wagens und ließ den Motor an. Der spotzte drei Mal, bis er ansprang und blauer Dunst aus dem Auspuff wirbelte. Dann entfernte sich der Kleinwagen mit dem hohen Singsang seines Zweitaktmotors vom Parkplatz vor dem Gefängnis. Danach wurde Hans-Peter Wallner, der sich um die zweifelhaften Erfolge des Ministeriums für Staatssicherheit verdient gemacht hatte, nie wieder gesehen. Er verschwand für immer und ewig von der Bildfläche. Eine Fahndung nach ihm wurde nicht eingeleitet. Die DDR befand sich in einem wirren Auflösungsprozess. Jeder war sich selbst der Nächste und musste sehen wo er blieb.

*

Kurz bevor Hans-Peter Wallner und Thomas Keller an diesem 3. November 1989 den Südosten Berlins erreichten, bog der MfS-Mann in ein Waldstück ein. »Muss mal pinkeln«, kommentierte er kurz und knapp. Nach wenigen Minuten stoppte er nahe einer dichten Fichtenschonung. Die beiden Männer stiegen aus und jeder suchte sich einen Baum, um sich zu erleichtern. Als sie ihr Geschäft verrichtet hatten und zum Fahrzeug zurückgingen, trat Hans-Peter Wallner dicht hinter den Freigelassenen. Seine Dienstpistole mit aufgesetztem Schalldämpfer hatte er längst entsichert. Eiskalt und ohne Kommentar schoss er Thomas Keller aus allernächster Nähe in den Hinterkopf. Das Gesicht des Opfers explodierte in einem Schwall aus Blut, Gehirnmasse und Knochensplitter, bevor der leblose Körper lautlos auf dem feuchten Waldboden aufschlug. Der Mann aus dem Ministerium für Staatssicherheit steckte seine Waffe zurück in den Schulterhalfter und sah sich um. Der dünne Pulverrauch verflüchtigte sich rasch. Kein Laut war zu hören. Nur der Wind zerrte an den Baumwipfeln der hohen Lärchen. Der Mörder bückte sich, packte die Leiche an den Füßen und schleifte sie in die nahe Fichtenschonung. Er sah die blutbesudelte Leiche mitleidlos an. Dann holte er einen Spaten aus dem Trabant und begann, in der Nähe eines riesigen Ameisenhaufens Erde auszuheben. Es dauerte drei Stunden, bis er eine genügend tiefe Grube ausgehoben und den Toten in einen schwarzen Plastiksack gezwängt hatte. Er schwitzte, obwohl der Wind nun eisig kühl durch die Waldwege fegte. Kalter Schweiß benetzte seine Stirn. Immer wieder unterbrach er seine Arbeit und lauschte in alle Richtungen. Nachdem er den Leichensack würdelos in das ausgehobene Loch gestoßen hatte, benötigte er zwei weitere Stunden, um das Grab wieder mit Erde zu füllen und notdürftig zu verdichten. Als er dann auch noch Moos und Heidelbeerkraut in die weiche Erde getreten hatte, stieß er mit dem Spaten in den aus Abermillionen Fichtennadeln bestehenden Ameisenhaufen. Die kleinen, roten Insekten – in ihrer Winterruhe gestört – gerieten in helle Aufregung und krabbelten den Spatenstiel entlang. Doch der Mörder gab keine Ruhe, bis er den gesamten Nadelhaufen auf das frische Grab seines Opfers geschaufelt hatte. Erst dann begann er, die winzigen, lästigen Tierchen von seiner Kleidung abzustreifen. Sie würden einige Zeit benötigen, um ihre zerstörte Ordnung wieder herzustellen. Ihre unterirdischen Gänge mussten sie sich neu graben. Wenn sie wollten. Es würde sich lohnen. Der Mörder hatte den schwarzen Plastiksack, in dem die Leiche von Thomas Keller ruhte, an mehreren Stellen mit seinem Taschenmesser aufgeschlitzt, bevor er die ausgehobene Erde wieder in das Loch zurückschaufelte. Der Tote wäre ein leckerer Schmaus für die winzigen, roten Krabbeltiere. Der MfS-Mann betrachtete sein Werk und war hoch zufrieden. Sein Hemd klebte kalt am Rücken und er fröstelte. Die Temperaturen waren weiterhin gefallen und die ersten filigranen Schneeflocken tänzelten aus einem mit Schneewolken verhangenen Himmel. Zeit, um endgültig zu verschwinden. Er sah ein letztes Mal hinein in die Waldschonung zu dem Fichtennadelhaufen, in dem die kleinen Insekten immer noch aufgeregt umherirrten. Dort lag nun Hans-Peter Wallner begraben, einer der brutalsten, aber auch loyalsten Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR. Thomas Keller, der Regime-Kritiker aus Berlin-Köpenick hatte überlebt. Der Mörder fühlte sich wie neugeboren, wie ein junger Schmetterling, dessen hässliche Larve, vergraben in einem schwarzen Plastiksack, dahin modern würde. Jetzt musste er sich nur noch schnellstens und unauffällig seines Wagens entledigen. Berlin hatte viele Kanäle und Gewässer.

1

Thomas Keller alias Hans-Peter Wallner hatte es nicht eilig. Er konnte sein neues Leben mit Bedacht planen. In der Ruhe liegt die Kraft. Sein bisheriger Arbeitgeber, das Ministerium für Staatssicherheit, befand sich in einer heillosen Auflösungsphase. Keller saß in seinem neuen Haus in Berlin-Köpenick, ließ die Vergangenheit vor seinem geistigen Auge Revue passieren und betrachtete die weitere politische Entwicklung entspannt von außen. Er dachte an seine Kindheit, an seine Oma Anna, die immer für ihn da war, immer ein Ohr für ihn hatte, wenn er Probleme wälzte, die ihn immer tröstete, und meist einen Ausweg wusste. Oma Anna war es, die ihm so oft spannende Geschichten erzählte, damals aus der Zeit, als sie noch jung und hübsch war. Sie erzählte ihm von dem Herrn Hitler, dem großen deutschen Führer, der Deutschland nach den Wirren und der Schande des Ersten Weltkrieges wieder zu einer großen, aufstrebenden Nation formte. Er war es, der den Deutschen wieder Arbeit gab, der die ersten Autobahnen bauen ließ. »Deutschland gehört den Deutschen, und nicht den Ausländern«. Wie recht er hatte. Oma Anna erzählte ihm, wie sie während der Bombennächte in den Luftschutzbunkern in Dresden saß, als die Engländer und die feigen Amerikaner ihre wunderschöne Heimatstadt mit einem wahren Bombenteppich belegten. Die Amerikaner, die konnte er sowieso noch nie leiden. Warum hatten die sich überhaupt in den Krieg gegen Deutschland eingemischt? Alle gegen einen. Schon damals spielten sie Weltpolizist, genau wie heute. Oma Anna erzählte ihm von den ruhmreichen Schlachten der deutschen Landser, wie sie Frankreich überrannten, wie tapfer Rommel sich in Nordafrika schlug und wie die deutschen U-Boote die feindlichen Geleitzüge im Atlantik aufspürten und vernichteten. Seine Oma konnte wirklich spannend erzählen, auch von Johann, ihrem Ehemann, der gegen Ende des Zweiten Weltkriegs am Bahnhof von Bologna von einem Tieffliegerangriff der Amerikaner überrascht wurde und im Feld blieb. Sein Opa, den er nie kennengelernt hatte. Er hasste die Amerikaner umso mehr dafür. Die USA waren für ihn der westliche Teufel schlechthin, genauso wie ihr Ableger, diese BRD. Als am 13. August 1961 in Berlin die Mauer errichtet wurde, war er elf Jahre alt. Endlich wusste sich die Deutsche Demokratische Republik vor der Infiltration des Westens zu schützen. In der Schule las er die Werke von Marx und Lenin. Besonders Karl Marx hatte es ihm angetan. Wie hatte er in Die Deutsche Ideologie geschrieben? »Nicht das Bewusstsein bestimmt das Leben, sondern das Leben bestimmt das Bewusstsein«, und »Die herrschenden Gedanken sind immer die Gedanken der Herrschenden«. Er hatte sich fest vorgenommen, eines Tages auch zu den Herrschenden zu gehören, zur Elite. Mit zwanzig Jahren meldete er sich freiwillig zum Dienst der Deutschen Grenzpolizei, welche damals dem Ministerium für Staatssicherheit unterstellt war. Er war ein guter Polizist. Unter seiner Leitung stellten sie in Thüringen drei Gruppen von Republikflüchtigen. Einen von ihnen, der nicht stehen blieb, sich den klaren Befehlen widersetzte und glaubte, den Grenzzaun noch überwinden zu können, stoppte er durch einen gezielten Schuss in den Rücken. Er wurde belobigt. Selbst schuld. Der Republikflüchtling könnte heute noch leben, wenn er auf die Aufforderungen zum Stehenbleiben gehört hätte. Hans-Peter Wallner wurde für seine Aufmerksamkeit und die hervorragenden Dienste im Interesse der DDR ausgezeichnet und in das Ministerium für Staatssicherheit berufen. Zu seinen neuen Aufgaben gehörte nun, an der Zersetzung von politisch Oppositionellen und Regimekritikern mitzuwirken, um politische Straftaten zu unterbinden. Er war auf dem richtigen Weg. Er genoss die neue Macht, die er über andere hatte. In dieser Zeit vertiefte er den Hass gegen die Feinde der DDR.

Nun hatten die westdeutschen Kapitalisten doch noch gesiegt. Am 17. November 1989 wurde das Ministerium für Staatssicherheit in »Amt für Nationale Sicherheit« umbenannt. Kurz darauf, am 4. Dezember, besetzten politisch Verblendete die Bezirksstelle Erfurt, und dann, am 15. Januar 1990, die Zentrale in Berlin. Sie hielten Bürgerwachen und gründeten Bürgerkomitees. Die Wende war nicht mehr aufzuhalten, Hans-Peter Wallner hatte gerade noch rechtzeitig die Kurve gekriegt.

*

Erst im Frühjahr 1991 tauchte der neue Thomas Keller bei der Meldebehörde Köpenick auf und legte seine Papiere vor: Pass der DDR und Geburtsurkunde. Er berichtete von seiner Verhaftung, seiner Gefängniszeit in Bautzen II, seinen dauerhaft gesundheitlichen Leiden, welche er sich in dieser Zeit zuzog und von den unmenschlichen Bedingungen im Allgemeinen. Der zuständige Beamte war von seinen Erzählungen gebannt und erschüttert zugleich. Dass sein Gegenüber mit dem graumelierten Kurzhaarschnitt braune Kontaktlinsen, trug fiel ihm gar nicht auf. Dass er vor wenigen Wochen eine leichte Nasenkorrektur hatte vornehmen lassen, konnte er sowieso nicht ahnen. Er stellte einen vorläufigen Reisepass der Bundesrepublik Deutschland aus und versprach dem Mann, dass das endgültige Dokument in etwa zwei Wochen abgeholt werden könne. Der neue Thomas Keller bedankte sich für die professionelle und unbürokratische Bearbeitung seiner Angelegenheiten. Drei Monate später bot ihm – aufgrund seiner Bewerbungsunterlagen – ein großer deutscher Elektrokonzern in Berlin, in der Elsenstraße, einen Job an. In dem Haus in Berlin-Köpenick, welches er widerrechtlich übernommen hatte, hatte er den dokumentierten, beruflichen Werdegang seines Opfers gefunden, welches nun unter einem riesigen Ameisenhaufens verscharrt für ewig ruhte. Die lückenlosen Nachweise, wie Schul- und Uniabschlüsse, Geburtsurkunde und Familienstammbuch wuschen seine Vergangenheit um eine weitere Stufe rein. Seine Gesinnung hatte sich indessen nicht geändert: Er mochte das System des konsumorientierten Westens nicht und glorifizierte in seinen Gedanken immer noch die alten DDR-Zeiten. Er hegte einen manischen Hass gegen all die in den Osten Deutschlands drängenden Ausländer, welche gegen eine lausige Bezahlung den Einheimischen die raren Arbeitsplätze wegschnappten oder dem deutschen Staat faul auf der Tasche lagen. Da standen sie im Görlitzer Park, einzeln oder in kleinen Gruppen, die arbeitsscheuen Türken und Neger, und dealten mit Rauschgift. Deutschland brauchte sie nicht, diese Drecksschweine. Am meisten hasste er Türken, Bosnier und Schwarzafrikaner. Die gehörten weg, raus aus Deutschland. Am besten ganz weg. Sie schadeten seiner Heimat, in der er groß geworden war. Er war schon immer ein Anhänger der Politik von ganz früher, als Deutschland auf dem Weg war, eine der ganz großen Nationen dieser Welt zu werden. Oma Anna hatte ihm ja alles erzählt. Seinerzeit waren es die Juden, die Deutschland wirtschaftlich bedrohten. Das sollte man doch heute auch noch wissen? Dann, in den 60er Jahren, holte sich die BRD unverständlicherweise die vielen Türken ins Land, welche heute in der zweiten und dritten Generation immer noch hier waren. Damals war ihm das egal. Er verstand es nur nicht. Wozu? Sie lassen sich nicht integrieren, leben immer noch sippenhaft unter ihresgleichen und kennen ihre sozialen Rechte besser als jeder deutsche Arbeiter. Auch die aktuellen Berichterstattungen in den Medien kotzten ihn an. Da kamen sie, die Bimbos aus Libyen, Syrien, Tunesien, Ghana und sonstigen Ländern, in abgetakelten Booten übers Mittelmeer, setzten ihr Leben aufs Spiel und meinten, in Westeuropa fänden sie das Schlaraffenland. Sollen sie doch bleiben, wo sie herkamen, diese Kameltreiber. Wie die schon aussehen. Zum Fürchten. Was wollen die eigentlich hier? Leben in Saus und Braus! Schade, dass bei der Überfahrt nicht mehr von ihnen draufgehen. Schade, dass viele von ihnen Lampedusa immer noch erreichen. Zu viele. Und diese inkompetenten EU-Politiker im europäischen Parlament, diese hirnverbrannten, überbezahlten Politikheinis, was geben die von sich? Deutschland sei ein prädestiniertes Einwanderungsland! Bockmist! Bullshit! Die haben doch keine Ahnung. Außer blödsinnige Richtlinien zu erlassen, haben die eh nichts im Hirn. Die regeln selbst die Ausnahmen von den Ausnahmen. Es wurde Zeit endlich zu Handeln. Taten statt Worte. Genau wie Hitler sagte.

Thomas Keller suchte Kontakte zu seinesgleichen – die genau dachten wie er. Es gab da Gott sei Dank noch ein paar wenige Aufrichtige, welche ebenfalls zeitweise abgetaucht waren und die Welt mit den gleichen Augen sahen wie er. Auch ihnen tat es innerlich weh, zusehen zu müssen, wie ihre politische Weltanschauung immer mehr in die Bedeutungslosigkeit abglitt. Dass diese unfähigen West-Politiker im Dezember 1991 das Stasi-Unterlagen-Gesetz in Kraft gesetzt und die Öffnung der Akten ihres ehemaligen Staatssicherheitsdienstes erlaubt hatten, war ihnen schon gegen den Strich gegangen. Mussten sie sich vielleicht eines Tages auch noch wegen ihrer vaterlandstreuen Arbeit rechtfertigen? Sie beschlossen, endlich aktiv zu werden. Gemeinsam kamen sie überein, dem Asylgebaren dieses verhassten kapitalistischen Systems nicht mehr länger untätig zuzusehen. Sie wollten ihre alte Weltordnung wiederherstellen, ohne schmarotzende Ausländer. Deutschland brauchte wieder eine strenge Hand, wie sie bis Mitte der vierziger Jahre gelebt wurde. Wenn es nicht anders ging, dann eben mit Gewalt. So gründeten sie, nachdem der NSU aufgeflogen war, im Juni 2012 die Nationale Extreme Leipzig, die NEL. Die Satzung kannten nur die zwölf Gründungsmitglieder. Äußerste Vorsicht war angesagt, das war ihnen klar. Gerade jetzt, nachdem die heroischen Taten des NSU immer mehr in die politischen Diskussionen gerieten und der Prozess um Beate Zschäpe unverständlich hohe Wellen schlug. Sie nahmen sich vor, nur im Geheimen zu operieren. Nur im Stillen, ohne aufzufallen. Keine Kontakte zu anderen rechtsextremen Organisationen. Abstand zur NPD. Keine Öffentlichkeitsarbeit. Eigentlich gab es die NEL gar nicht, und doch gelobten sie sich, dass jeder von ihnen eine neue Terror-Zelle ins Leben rufen und führen würde. Unabhängig voneinander wollten sie operieren. Besser die Mitglieder der Zellen kannten sich untereinander gar nicht. Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß! Für ihr Vorhaben brauchten die Zwölf Geld und die richtigen Leute. Keine schwarz gekleideten Glatzköpfe mit Springerstiefeln und Bomberjacke, denen man den Neonazi schon auf hundert Metern ansah. Sie suchten normal aussehende junge Menschen, ohne negativen Leumund, aber den richtigen, ideologischen Einstellungen, politisch interessiert, aber inaktiv, skrupellos und gewaltbereit. Zwei, maximal drei Leute je Zelle waren okay.

Die Zwölf fuhren in Dreiergruppen in den Westen, nach Niedersachsen, Hessen, ins Rheinland und nach Bayern, überfielen in kurzen Abständen Einrichtungen mit hohen Tageseinnahmen, wie Tankstellen, McDonalds-Restaurants und Supermärkte, und verschwanden wieder. Die Polizeibehörden waren ratlos. Nach vier Wochen intensiver Überfälle hörte der Spuk so schnell auf, wie er begonnen hatte. Dort, wo die vier Gruppen bei ihren Taten gefilmt wurden, sah man Männer mit breiten Strohhüten auf ihren Häuptern. Von den Krempen der Kopfbedeckungen hingen Imker-Netze, welche jeglichen Blick auf die Gesichter der Täter unmöglich machten. Die bundesweit agierende »SOKO Honigtopf« sprach von lange vorbereiteten, generalstabsmäßig ausgeführten Überfällen. Trotz intensiver Bemühungen gab es keinerlei Hinweise auf die Täter. Besonders irritierend war die Tatsache, dass die Überfälle nahezu zeitgleich in vier verschiedenen Bundesländern abliefen.

Thomas Keller und seine Genossen standen kurz vor ihrem Ziel. Sie hatten genügend Anfangskapital. Nun hieß es, die richtigen Zellenmitglieder anzuheuern: Sympathisch mussten sie aussehen, vertrauenswürdig und unauffällig. Sie durften noch nie mit dem Gesetz in Konflikt geraten sein. Ausländer sollten ihnen verhasst sein. Besonnenheit, Mut und Entscheidungsstärke waren weitere Eigenschaften, die sie besitzen sollten, gepaart mit Skrupellosigkeit und Gewaltbereitschaft. Der Plan der zwölf Gründungsmitglieder der NEL war simpel: Schnell zuschlagen, einen hohen Personen- und Sachschaden hinterlassen und unerkannt verschwinden, ohne Spuren zu hinterlassen. Die zwölf planten einen Teppich der Gewalt über in Deutschland lebende Ausländer auszurollen. Ein Meer aus Angst und Schrecken wollten sie verbreiten, um den Migranten, Asylanten und der ganzen Türkenbande das Leben in Deutschland grundlegend zu vermiesen. Jeder Asylbewerber sollte sich drei Mal überlegen, ob er nach Deutschland kommen wollte. Das Ausländerpack, welches bereits in Deutschland lebte, sollte sich nicht lange überlegen müssen, das Land wieder zu verlassen. Dieses Ziel zu erreichen, schnell zu erreichen, ging nur mit extremer Gewaltanwendung. Nur das verstanden diese Bimbos – eine klare Sprache.