Kitabı oxu: «Wolfgang Nairz - Es wird schon gut gehen»

Şrift:

Wolfgang Nairz
„ES WIRD SCHON GUT GEHEN“

BERGE UND ANDERE ABENTEUER MEINES LEBENS

Wolfgang Nairz im Gespräch mit Horst Christoph


„WER HÖHER STEIGT, WIRD WEITER SEHEN“

(Reinhard Karl)

Rundherum ist es still. Nicht nur still, sondern auch vollkommen windstill, obwohl wir mit circa 40 Stundenkilometern übers Karwendel gefahren sind und jetzt über Innsbruck dahingleiten. 360 Grad ist der Rundblick, unheimlich der Blick in die Tiefe. Kurz vor Sonnenaufgang bin ich mit dem Heißluftballon in Seefeld gestartet. Schnell hat der Ballon an Höhe gewonnen, die Grate und Gipfel wurden kleiner, die Sicht umso größer. Hinter dem Brandjoch und der Frau Hitt sind wir ins Inntal hinausgefahren, nur getrieben vom Wind. Man spürt aber keinen Fahrwind, wir ziehen gleich schnell dahin wie der Wind.

Die Sonne ist inzwischen aufgegangen. Grausilbern glänzen im Norden die Karwendelketten, silbergrün blitzt der Inn herauf, der sich vom Oberinntal kommend friedlich durch Innsbruck schlängelt und allmählich im Unterinntal entschwindet. Weit fliegt der Blick zu den Bergen hinunter: Bernina, die Ötztaler Alpen mit der Wildspitze, die Stubaier und Kalkkögel, das Wipptal, das zum Brenner führt, Tuxer und Zillertaler Alpen – bis zum Glockner und Großvenediger reicht der Blick, und im Süden grüßen die Dolomiten. Nichts kann die Schönheit dieses Panoramas stören.

So weit sieht man natürlich nicht, wenn man hoch über den Dächern von Innsbruck zu Fuß unterwegs ist: am Innsbrucker Klettersteig zum Beispiel – einer meiner Lieblingswege dort oben –, der vom Hafelekar über die Gipfel und Grate der Nordkette bis zum Frau-Hitt-Sattel führt. Leitern und Seile erleichtern die Auf- und Abstiege, immer wieder balanciert man über die Grate. Der Klettersteig spielt mit den Reizen der ihn begleitenden Kulisse: im Norden die Einsamkeit des Karwendels, zu Füßen die Stadt Innsbruck, und der Blick nach Süden ist zwar nicht so unendlich wie aus dem Ballon, aber doch großartig. Und vor allem spürt man hier heroben die Gewalten der Natur, der Wind fährt durch die Haare, man hört die Dohlen pfeifen, die einen während des ganzen Tages begleiten, und sein Glück muss man sich erst erarbeiten. Ich liebe es, Innsbruck aus der Vogelperspektive zu erleben. Fast jedes Jahr bin ich einmal dort oben unterwegs und dabei werden Erinnerungen an die Sonnwendfeuer meiner Jugend wach.


Ein Logenplatz am Himmel: Weit reicht der Blick aus dem Heißluftballon hinunter auf Innsbruck, das Inntal und das Karwendelgebirge.


Eine Seilschaft fürs Leben: Edith und Wolfgang Nairz

Lama Anagarika Govinda, der große, aus Deutschland stammende buddhistische Gelehrte, reiste jahrelang durch Tibet, und seine Reisen führten ihn auch zum heiligen Berg Kailash. Govinda sprach einen Gedanken aus, der auch mich mein Leben lang begleitete: „Um die Größe eines Berges wahrnehmen zu können, müssen wir Distanz von ihm halten; um seine Form in uns aufzunehmen, müssen wir ihn umwandeln; um seine Stimmungen zu erleben, müssen wir ihn zu allen Tages- und Jahreszeiten beobachten: bei Sonnenaufgang und Sonnenuntergang, zur Mittagszeit und in der Stille der Nacht, an trüben Regentagen und unter blauem Himmel, im Winterschnee und Gewittersturm …“

Ich habe mir „meine“ Berge von allen Seiten angesehen, habe sie vielfach umrundet, sie bei Sonne, Sturm und Regen erlebt, ich habe diese Berge lieben gelernt und sie manchmal auch verflucht, sei es rund um meine Heimatstadt Innsbruck oder im fernen Himalaya: Ich habe sie mit Freunden lachend bestiegen und bin manchmal sehr traurig heimgekehrt, aber immer wieder bin ich dorthin zurückgekehrt, wo ich mich wohlgefühlt habe: in eine großartige Landschaft mit großartigen Menschen, in ein Paradies, in dem ich auch manchmal die Hölle erlebt habe; die schönen Erinnerungen aber überwiegen bei weitem.

Viele meiner Träume sind in Erfüllung gegangen, einige warten noch – aber solange man Träume hat, kann das Leben nicht langweilig werden. Viele dieser Träume konnte ich mir nur erfüllen, weil ich in meiner Frau Etti eine liebe- und verständnisvolle Partnerin habe, die es mir vielfach ermöglicht hat, nicht nur gemeinsame Träume zu leben, sondern auch eigene, manchmal sehr egoistische Ziele zu verwirklichen.

Ich darf vielen Menschen danken, die mich als Weggefährten begleitet haben und zu guten Freunden wurden. Danken auch allen, die geholfen haben, dass dieses Buch zustande kam: Anette Köhler und Horst Christoph, der mit viel Geduld meine Antworten hinnahm, und allen Freunden, die wertvolle und interessante Beiträge verfassten. Ich freue mich, dass ich dieses Buch nun, zu meinem siebzigsten Geburtstag, in meinen Händen halten kann.

Stolz bin ich nur darauf, dass wir alle, die wir gemeinsam in den heimatlichen und in den Weltbergen unterwegs waren, wie Reinhold Messner gesagt hat, immer in Frieden nach Hause gekommen sind. Ich danke Euch dafür!


Innsbruck im Sommer 2014 Wolfgang Nairz

INHALT

KAPITEL 1: Kindheit und Jugend in der Bergsteigerstadt Innsbruck

Mit Hermann Buhl am Wohnzimmertisch

„Das Klettern ist für mich immer mehr Lebenszweck geworden“

Kletterheimat Kalkkögel: „Es hat so schön geplumpst“

Die frühen Tourenbücher

Die Innsbrucker Bergsteigerszene der wilden Siebziger mit Wolfi Nairz, dem Unbekümmerten, von OSWALD OELZ

KAPITEL 2: Auf dem Weg zu den Bergen der Welt

Dunkelheit, Kälte und Lawinen am Lyskamm

„Im Straßengraben schlafen wir, dann rennen wir zum Einstieg“

Bara Sahib Wolfi, von REINHOLD MESSNER

„Ein Hund namens Karl Maria“

KAPITEL 3: Neue Maßstäbe für die Achttausender

Manaslu 1972: Der „Berg der Seele“ als Ort der Prüfung

„Den Angehörigen gegenüberstehen“

Cho-Oyu-Südwand 1982: Der Kampf ums Überleben

„Der Begriff der Seilschaft fürs Leben hat für mich schon eine Berechtigung“

Durch Zufall rechtzeitig am Ort: Bergungsaktion Ama Dablam 1979

„Auf eine Expedition würde ich nie ohne Arzt gehen“

Wolfi, der Dhaulagiri und die blauen Bomber, von RUDOLF ALEXANDER MAYR

KAPITEL 4: 1978: Die ersten Österreicher am Everest

„Und dann fielen wir uns um den Hals“

Atemlos am Everest – Der spektakulärste Gipfelsieg der Geschichte, von HORST CHRISTOPH

Franz Oppurg, der Zweifler, der als erster Mensch allein am Gipfel des Mount Everest stand, von RUDOLF ALEXANDER MAYR

Von der Schreibmaschine zum Satellitentelefon: Expeditionskommunikation im Wandel, von ROBERT SCHAUER

KAPITEL 5: Briefe vom Everest: „Ich wünschte Dich in meinem Schlafsack“

Ein Expeditionstagebuch der anderen Art

Brief von Herbert Kuntscher an Wolfgang Nairz ins Everest Basecamp

KAPITEL 6: Vom Drachenfliegen in den Stubaiern zum Ballonfahren in der Mongolei

Dem Himmel entgegen

„Ballonfahrer sind alle ein bisschen Verrückte“

Ballonfahren in den Alpen: „Der Luftschiffer muss mit Kälte rechnen“

Die Luftschifffahrt in Tirol

Über die Alpen

KAPITEL 7: Berge gibt es überall

„Ich bin zum Amazonas gekommen wie die Jungfrau zum Kind“

Erste Skibesteigung des Nevado de Copa, von RAIMUND MARGREITER

„Das Skifahren war schon von Kindheit an etwas Besonderes“

Gipfelglück am Elbrus: ein Geburtstagsgeschenk dank Charly

Bergsteigen und Tourismus: „Weg vom Schnaps und hinaus in die Natur“

KAPITEL 8: Nepal und die Sherpas: eine Liebe, die reifen musste

Warum immer wieder Nepal?

„Die Sherpas wären von sich aus nie auf hohe Berge gestiegen“

Wärme für Nepal

Wolfi Dhaai, von TASHI TENZING

„Lost horizon“: Gedanken im Advent

Wolfi, ein ferner Freund aus früher Jugend

Personenregister


KAPITEL 1

MIT HERMANN BUHL AM WOHNZIMMERTISCH

Der Himalaya. Etwas, das unendlich weit weg ist, wo riesige Gipfel und unendliche Grate in den Himmel wachsen, wo die Gipfel von Stürmen umtost sind und eigentlich Menschen nichts verloren haben – so habe ich mir als Kind in meiner Fantasie den Himalaya vorgestellt.

Unser Geografielehrer in der Realschule hat sie uns genau gezeigt – diese lange Gebirgskette – von Westen nach Osten. Und die höchsten Berge der Erde waren dort eingezeichnet. Ich konnte sie alle aufzählen: nicht nur mit den Originalnamen, sondern ich wusste genau, dass der Chogori der K2 war, dass man den Mount Everest auch Chomolungma oder Sagarmatha nannte und der Nanga Parbat als der deutsche Schicksalsberg galt.

Aber der Himalaya wurde mir nicht nur durch diesen bergbegeisterten Lehrer vertraut, schon lange vorher waren bei uns zu Hause diese hohen Berge täglicher Gesprächsstoff. Mein Großvater, Emil Hensler, war Mitglied im alpinen Klub „Karwendler“, einem der renommiertesten Innsbrucker Bergsteigerklubs. Um diesem Klub anzugehören, musste man ein ausgezeichneter Bergsteiger sein, einer, der in Fels und Eis, ja einfach im Hochgebirge zu Hause war. In seiner Jugendzeit hatte mein Großvater die kühnsten Felsfahrten in der Umgebung Innsbrucks unternommen und zahlreiche Erstbegehungen gemacht, die heute noch zu den Standardtouren der Bergsteigerjugend zählen. Inzwischen ein alter, angesehener Herr, war Emil Hensler ein väterlicher Freund seiner jungen Klubbrüder, zu denen neben Kuno Rainer, Peter Aschenbrenner, Erwin Schneider und Sepp Jöchler auch Hermann Buhl gehörte.

Es war Anfang April 1953, als die „Deutsch-Österreichische Willy-Merkl- Gedächtnisexpedition“ zum Nanga Parbat aufbrach. Die Karwendler, unter ihnen mein Großvater, verabschiedeten mit großer Begeisterung ihre Expeditionsmitglieder Buhl, Rainer und Aschenbrenner am Innsbrucker Bahnhof. Ich war acht, es war ein Freitag, ich hatte Schule. Ich konnte nicht dabei sein und war traurig.

Die Berichte über den Fortschritt der Expedition waren spärlich.

Doch dann überschlugen sich die Erfolgsmeldungen aus dem Himalaya – aber nicht vom Nanga Parbat kamen sie, sondern vom Mount Everest. Der Neuseeländer Edmund Hillary und der Sherpa Tenzing Norgay hatten den höchsten Berg der Erde, 8848 Meter hoch, bezwungen! Am 29. Mai, dem Tag der Krönung der britischen Königin Elisabeth II., ging diese Nachricht um die Welt, und sie übertrumpfte bei weitem die Krönungsfeierlichkeiten in London.

Doch was war los am Nanga Parbat? 35 Tage nach dem Gipfelsieg am Everest ist es endlich so weit: Die Meldung über den sensationellen Alleingang Hermann Buhls zum Gipfel des Nanga Parbat erreicht die Welt. Mein Großvater fährt mit einer Abordnung der Karwendler nach München, um beim Empfang Buhls dabei zu sein. Und wenige Wochen später sitzen Hermann Buhl, mein Großvater und ein paar Freunde der Karwendler bei uns am Wohnzimmertisch. Schwarz-Weiß-Fotografien machen die Runde, man hört eine Stecknadel fallen, als Buhl vom Gipfelgang erzählt. Und ganz hinten, im Eck, darf ich dabei sein, darf zuhören und die Bilder in die Hand nehmen.

Dezember 1953: Julfeier des Alpinen Klubs Karwendler. Hermann Buhl hält einen seiner ersten Vorträge. Mein Großvater nimmt mich mit. Nach dem Vortrag dränge ich mich nach vorne und lass mir eine „Karwendlerkarte“ unterschreiben. Von Hermann Buhl und dazu auch noch von Sepp Jöchler und Kuno Rainer! Wie einen Schatz hüte ich diese Karte bis heute.

Ein Jahr später, 1954, erscheint Buhls Buch „Achttausend drüber und drunter“. Ich verschlinge es, kann manche Passagen schon auswendig – und mit Bleistift markiere ich alle Touren und Gipfel, die Buhl gemacht hat und die ich auch machen will! Grubreißen-Südturm-Südgrat, Schüsselkar-Spindlerweg, Fleischbank-Südostwand, Mauk-Westwand … Nach und nach werden die mit Bleistift angemerkten Träume Wirklichkeit: Viele der Touren Hermann Buhls konnte ich mit Freunden wiederholen. Nur der Traum vom Himalaya war noch weit entfernt.


„DAS KLETTERN IST FÜR MICH IMMER MEHR LEBENSZWECK GEWORDEN“

Lieber Wolfgang, du bist in Kitzbühel geboren, aber in Innsbruck aufgewachsen. Die eindrucksvolle Schilderung deiner Begegnung mit Hermann Buhl wirft gleich eine Frage auf, die Innsbruck als Bergsteigerstadt betrifft. Buhl war ja nach seiner erfolgreichen Erstbesteigung des Nanga Parbat in der ganzen alpinen Welt ein „Hero“, ein Held, aber nur in Innsbruck konnte man diesem Hero auf der Straße oder im Wohnzimmer des Großvaters begegnen. Wann ist in dieser Stadt das Bergsteigen in dein Bewusstsein getreten?

Das Bergsteigen ist bei uns in der Familie sehr präsent gewesen, vor allem durch meinen Großvater, der viele Erstbegehungen gemacht hat, speziell in den Kalkkögeln und im Karwendel. Mein Vater allerdings war ein erklärter Bergwanderer und für meine Schwester und mich war es als Kinder ein Horror, wenn es jedes Jahr, sobald der Schnee weg war, geheißen hat, am Sonntag geht’s auf die Kaisersäule: mit der Hungerburgbahn auf die Hungerburg und dann über die Almen bis zur Kaisersäule, von dort weiter aufs Stempeljoch und dann hinunter ins Halltal und das lange, lange Halltal hinaus. Wir haben jede Ausrede gesucht, aber es hat nichts genützt. Der einzige Lichtblick war, dass es in Hall eine große Schüssel Eis gegeben hat als Belohnung. Und mit der Haller Bahn sind wir dann zurück nach Innsbruck gefahren. Jedes Jahr – für uns Kinder war diese Wanderung eine Qual!

Wie bist du dann zum richtigen Bergsteigen gekommen?

Natürlich hat uns der Vater nicht nur auf solche „Gewalttouren“ mitgenommen, sondern uns auch behutsam, Sommer wie Winter, in die Berge geführt. Mein Großvater war damals schon in Pension und hat für die Bergrettung die Hüttenkontrollen durchgeführt. Zu diesen Hüttentouren hat er mich dann im Sommer immer mitgenommen, mir dabei viel von seinen Bergtouren erzählt und so das Feuer in mir geweckt.

Ich habe auch das Glück gehabt, dass es in der Realschule Lehrer gab, die uns das Bergsteigen nähergebracht haben. Die mit uns an den Wandertagen auf die Berge rund um Innsbruck gestiegen sind und in den Ferien von der Franz-Senn-Hütte aus auf Skitouren gegangen sind.


Großvater Emil Hensler, in seiner Jugend ein kühner Kletterer, als alter Herr ein Freund der jungen „Karwendler“

Das ist ungewöhnlich und heute fast undenkbar, schon wegen der Haftungsfrage. Die Lehrer haben uns die Berge auch im Unterricht nähergebracht. Sie sind zum Beispiel mit uns ins Kino gegangen, um den Everestfilm oder den Nanga-Parbat-Film anzuschauen. Als ich so 13, 14 Jahre alt war, bin ich dann mit der Jungmannschaft des Alpenvereins zum Klettern ins Wetterstein gegangen. Ich hab immer mit dem Großvater besprechen müssen, welche Tour wir vorhatten. Und er hat dann gesagt, ob das für uns in Ordnung war, ob die Tour nicht zu schwer war. Wir sind also ins Wetterstein gefahren – von Innsbruck nach Seefeld mit dem Frühzug und dann mit dem Fahrrad weiter. Wir haben zu zweit ein Fahrrad gehabt. Der Erste ist bis auf den Leutascher Sattel gefahren, hat das Fahrrad dort abgestellt und ist zu Fuß weitergegangen. Der Zweite hat das Fahrrad übernommen und ist dann gefahren, bis er den Ersten eingeholt hat. Wir haben natürlich von vornherein geplant, nicht den leichten Leberleweg in der Scharnitzspitze-Südwand zu klettern, sondern eine viel schwerere Tour zu machen. Voll Stolz sind wir dann zurückgekommen und haben gesagt, dass wir die Direkte Südwand, eine Fünfertour, auf die Scharnitzspitze gemacht haben. Und der Großvater hat nur gesagt, das habe er eh erwartet.

Wie hast du deine ersten Bergfahrten und deine Ausrüstung finanziert?

Es war üblich, dass man in den Ferien arbeiten ging. Das war selbstverständlich. Aber die Ferien dauerten zehn Wochen, von diesen war ich sechs Wochen als Lattenträger, also als Vermessungsgehilfe, zwischen Außerfern und Osttirol unterwegs. Vor allem Osttirol habe ich sehr geliebt, da sind wir dann am Freitag nicht heimgefahren, sondern dort geblieben und haben übers Wochenende Großglockner, Hochschober und andere Berge bestiegen.

Beim Vermessen haben wir für damalige Verhältnisse sehr gut verdient. Nach den sechs Wochen habe ich das Geld ausbezahlt bekommen, und mein Vater hätte gern gesehen, dass ich es auf ein Sparbuch lege, ich aber bin gleich in die Maria-Theresien-Straße gegangen, zum Witting, und habe mir Ausrüstung gekauft – ein neues Seil, einen Helm. Das war ja damals eine Sensation, überhaupt einen Helm zu haben oder einen Klettergurt – Sitzgurte hat’s noch keinen gegeben. Aber auch der Brustgurt war eine Sensation, man hat sich normalerweise damals direkt ins Seil eingebunden, mit dem Bulinknoten um die Brust, und vielleicht, wenn es hoch gekommen ist, aus einer Reepschnur noch einen kleinen Sitz gemacht. Aber das war schon alles, was es gab.

Und mit dem übriggebliebenen Geld bin ich mit einem Freund, dem Peter Neubauer, in die Dolomiten gefahren: mit dem Motorrad, mit dem Zelt, mit zehn Kilo Gulaschdosen und drei Kilo Polenta, den Wein haben wir natürlich drinnen gekauft. Und so haben wir die restlichen Ferienwochen in den Dolomiten verbracht.

Peter Neubauer war der „Preußen-Peter“ vom Akademischen Alpenklub Innsbruck.

Genau. Das war der Preußen-Peter, weil er aus Norddeutschland zum Studieren nach Innsbruck gekommen ist. Mit dem habe ich viele schwere Touren gemacht. Er hat ein Motorrad gehabt, was sehr wichtig war.

Innsbruck, wo du aufgewachsen und in die Schule gegangen bist und später studiert hast, ist eine Art „alpines Biotop“, das mit einer Vielzahl von Vereinen eine dichte alpine Infrastruktur bildet. Hermann Buhl gehörte, wie andere bekannte Tiroler Alpinisten – etwa Peter Aschenbrenner oder Kuno Rainer –, dem renommierten Innsbrucker Bergsteigerklub der „Karwendler“ an. Warum bist eigentlich du nicht zu den Karwendlern gegangen, obwohl das angesichts deines Großvaters nahegelegen wäre?

Das hat mit der Schule zu tun gehabt. In der Innsbrucker Realschule hat’s damals den Real Alpenclub, den RAC, gegeben.


Im RAC, dem Bergsteigerverein der Innsbrucker Realschule, eroberten wir uns die Gipfel rund um die Franz-Senn-Hütte.

Das ist ja schon etwas Außergewöhnliches, dass es an Schulen Bergsteigerklubs gibt. So wie bei euch an der Realschule den RAC, hat es, wie mir mein Vater erzählt hat, in der Zwischenkriegszeit auch am Gymnasium einen ähnlichen Verein gegeben, die Bergsteigergruppe Edelweiß.

Ja, und in diesen Schulvereinen war es üblich, wenn man später studiert hat, zum „Akademischen Alpenklub Innsbruck“, zum AAKI, zu gehen. Mit den „Klüblern“, den Aktiven des Akademischen Alpenklubs, bin ich schon während der Schulzeit auf Touren gegangen. Die haben uns mitgenommen, die haben zum Teil schon ein Auto gehabt, oder ein Motorrad, das war für uns sehr wichtig.


Die Faszination der Vertikalen: In der Einstiegsseillänge der direkten Karlsspitze-Ostwand

Ich war ja auch beim AAKI, und unsere Alten Herren haben immer gesagt, ihr müsst euch um die Buben vom RAC, um die „Ratzen“, wie wir euch genannt haben, kümmern, zu ihrer Weihnachtsfeier gehen und sie auf Touren mitnehmen. Wir beide haben ja auf diese Weise im Wetterstein zusammen die Spindler-Route gemacht. Das war für mich etwas vom Allerschwersten, das ich je gegangen bin. Für dich war’s erst der Beginn deiner brillanten Kletterlaufbahn. Nur zwei Jahre später hast du – so lese ich in deinen Tourenberichten – unter anderem die Gelbe Kante an der Kleinen Zinne, die Demuth-Kante an der Westlichen Zinne, die Comici-Führe auf die Große Zinne und die Civetta-Nordwestwand nicht nur geklettert, sondern geführt – als gerade einmal 17-Jähriger. Wie ist es zu dieser Leistungsexplosion gekommen?

Das Klettern ist für mich schon in der Schulzeit immer mehr Lebenszweck geworden. Statt zum Geigenunterricht bin ich mit dem Fahrrad zum Höttinger Steinbruch gefahren und habe dort Klettern trainiert.

Das ist ja auch so eine Innsbrucker Besonderheit. Den Klettergarten innerhalb der Stadtgrenzen zu haben.

Ja, und oft sind wir schon vor Unterrichtsschluss von der Schule abgehaut und mit dem Radl die zwanzig Minuten zur Martinswand gefahren. Unser eigentliches Kletterparadies waren aber die Kalkkögel nahe Innsbruck. Dort hat ja auch der AAKI seinen Kletterstützpunkt, die Adolf-Pichler-Hütte, und Hias Rebitsch hat immer gesagt: Wer in den „Kögeln“ klettern kann, der kann überall klettern.

Mathias Rebitsch, den Reinhold Messner einmal einen „Avantgardisten der extremen Kletterei“ genannt hat, war der beste Bergsteiger des Akademischen Alpenklubs. Wie hast du Hias Rebitsch als Klubbruder erlebt?

Der Hias war ein charismatischer Mensch. Er war nicht nur einer, der sehr viel gewusst hat, er hat vor allem auch erzählen können. Wenn er von einer Tour erzählt hat, hat er jeden Zentimeter beschreiben können, wo jeder Haken steckte, wo er sich eingehängt hat, wo er ausgerutscht ist. Darüber hinaus war der Hias auch ein Philosoph, mit dem man nächtelang über Gott und die Welt diskutieren hat können. Und ich habe das Glück gehabt, dass er mich mochte, denn das war bei ihm nicht so selbstverständlich.

Er war ein introvertierter Mensch, der sich gern zurückgezogen und nicht mit jedem gesprochen hat. Er wohnte damals in Alpbach in einem alten Bauernhaus. Dort habe ich ihn oft besucht und später das Glück gehabt, dass die zweite Hälfte des Hauses frei geworden ist und ich mich dort für einige Jahre einmieten konnte.

Für mich war der Hias wirklich ein väterlicher Freund und Berater. Er war es auch, der uns junge Bergsteiger – Andi Schlick, Franz Jäger, Hansjörg Hochfilzer, Horst Fankhauser und mich, die wir damals die schwersten Touren in den Westalpen gemacht haben – animiert hat und gesagt hat, sucht’s euch höhere Ziele. Der Hias hat uns mit Paul Bauer zusammengebracht, dem berühmt-berüchtigten Expeditionspapst der 1930er-Jahre, der uns die Wege geöffnet hat, um überhaupt Informationsmaterial über Expeditionen zu bekommen. Der Hias war es also, der uns motiviert hat, uns die allerhöchsten Ziele zu setzen.

Die diversen alpinen Vereine in Innsbruck, die Karwendler, die Gipfelstürmer, die Melzerknappen, die Wettersteiner und wie sie alle heißen, sind gesellschaftlich höchst unterschiedlich orientiert, und da gab’s auch die verschiedensten ideologischen Ausrichtungen. Es hat – was heute weitgehend verdrängt wird – in der Zwischenkriegszeit in Innsbruck auch eine jüdische Bergsteigergruppe gegeben. Auch nach dem Zweiten Weltkrieg hat noch lange eine Art Lagerdenken bestanden. So hat’s neben dem traditionell eher nationalen AAKI auch den „schwarzen“ AAVI, den Akademisch Alpinen Verein, gegeben. Und natürlich, wie überall, auch die „roten“ Naturfreunde. Haben diese ideologischen Unterschiede zu deiner Zeit noch eine Rolle gespielt? War dir das irgendwie bewusst?

Ein gewisses nationales Denken war bei uns in der Familie schon da. Aber die Zeit, als wir in die Dolomiten gefahren sind, war dann auf ganz andere Weise eine politisch sehr heikle. Die „Bumser“, die in Italien Sprengstoffanschläge verübten, waren nicht selten Bergsteiger, und ich war nahe daran, selbst in diese Kreise zu geraten.

Wer nicht!

Ja, wer nicht. Wir haben damals auch dauernd Schikanen erlebt. Wenn wir mit dem Zug nach Bozen gefahren sind, haben uns die Carabinieri stundenlang am Bahnhof den Rucksack aus- und wieder einpacken lassen, um zu schauen, ob wir vielleicht Bomben mithaben. Oder wenn wir die Goldkappl-Südwand im Tribulaungebiet an der damals gesperrten und bewachten Grenze zwischen Österreich und Italien gegangen sind, haben wir uns von der Nordtiroler Seite anschleichen und in einem Schafstall übernachten müssen, dann sind wir über den Stacheldrahtzaun an der Grenze gestiegen und zum Einstieg gelaufen. Dass unter solchen Verhältnissen widersprüchlichste Gedanken aufkommen, ist nicht verwunderlich. Wir haben von der großen Freiheit der Weltberge geträumt und gleichzeitig die Unfreiheit in unserer nächsten Nähe erlebt.

Diesen Konflikt hat ja damals der Südtiroler und Kosmopolit Reinhold Messner mit seinem berühmten Satz „Meine Fahne ist das Schnäuztuch“ drastisch charakterisiert. Aber wie war denn das persönliche Verhältnis der Mitglieder der vielen Innsbrucker Bergsteigervereine untereinander? Ihr habt euch wohl alle gekannt, aber wart ihr Freunde oder eher Konkurrenten?

Wir waren keine Freunde im wirklich freundschaftlichen Sinn. Wir haben uns alle gekannt und sind auch miteinander Touren gegangen. Aber wir waren bergsteigerisch gesehen schon harte Konkurrenten. Das heißt, wenn die „Gipfeler“, die Gipfelstürmer, eine neue Route in den Kalkkögeln eröffnet haben, dann sind wir diese gleich nachgegangen, um zu sehen, ob das, was sie ins Tourenbuch geschrieben haben, auch stimmt, ob die Schwierigkeitsbewertung angemessen ist. Wenn das unserer Meinung nicht so war, sind jede Menge ironischer Bemerkungen dazugeschrieben worden. Man braucht sich nur das Tourenbuch der Adolf-Pichler-Hütte anzuschauen, in das übrigens auch schon Buhl seine Touren eingetragen hat. Da finden sich beispielsweise die sensationellen Erstbesteigungen eines Walter Spitzenstätter von den Gipfelstürmern und daneben immer die oft despektierlichen Bemerkungen der Kletterer anderer Klubs.

Ein wichtiger Faktor bei der Bedeutung Innsbrucks als „alpines Biotop“ war wohl, dass es eine Universitätsstadt ist. Deshalb auch die vielen akademischen Vereine: der AAKI, der AAVI, die Akademische Sektion des Alpenvereins. Durch die Uni ist ja auch zum Beispiel jemand wie der „Preußen-Peter“ oder ein Oswald Oelz nach Innsbruck gekommen, weil sie eben da studiert haben. Was war die Universität für dich?


Der Berg als Studienobjekt: Beim Gletschervermessen am Hintereisferner in den Ötztaler Alpen

Für mein bergsteigerisches Leben war die Uni schon sehr wichtig, da ich mich ja für ein Studium entschieden hatte – Meteorologie und Glaziologie –, das sich auf den Bergen abspielt. Unser Klubbruder Herfried Hoinkes war der Institutsvorstand und hat immer wieder gefordert, in die Berge zu gehen und dort zu forschen. Die Studenten sind ja auch nicht, wie manchmal gelästert wurde, nur für ein „Skisemester“ nach Innsbruck gekommen, sondern weil sie hier ein Zentrum alpiner Forschung vorgefunden haben mit hervorragenden Professoren, wie eben Herfried Hoinkes oder den Geografen Hans Kinzl und Franz Fliri.

Und das hat sich in deiner Generation fortgesetzt.

Ja, und zwar auf mehreren Gebieten: einmal in der Höhenmedizin mit Oswald Oelz, dann in der Meteorologie mit Karl Gabl, in der Gletscherforschung mit Gernot Patzelt oder in der Chirurgie mit Raimund Margreiter, der sich mit den Verletzungen durch das Anseilen auseinandergesetzt hat und auf unserer Everest-Expedition unter schwierigsten Bedingungen Sherpas operiert hat, also lauter Disziplinen, die eng mit dem Bergsteigen zu tun haben.

Die 1950er-Jahre in Tirol kannten neben Hermann Buhl oder Sepp Jöchler vor allem ein sportliches Idol, und das war Toni Sailer, der 1956 bei den Olympischen Spielen von Cortina im alpinen Skilauf alles gewann, was zu gewinnen war. Wie hast du als gebürtiger Kitzbüheler und sportbegeisterter Bub ihn wahrgenommen?

Neben den Bergsteigern haben wir als Buben natürlich vor allem die Skifahrer bewundert, und der am meisten bewunderte war klarerweise Toni Sailer. Ich habe ihn später persönlich kennen und schätzen gelernt. Als Skilehrer musste er für die Skiführerausbildung einen Alpinkurs abschließen und ich war zu dieser Zeit Lehrer in der österreichischen Berg- und Skiführerausbildung. Toni Sailer wurde meiner Gruppe zugeteilt und wir machten großartige Hochgebirgstouren in der Silvretta. Toni war trotz seiner Berühmtheit ein bescheidener Mensch mit viel Humor und fügte sich wie jeder andere in die Gruppe ein. Den Skiführerkurs hat er mit Auszeichnung bestanden – wie konnte es anders sein.

In meiner Tätigkeit als Presse- und Werbechef der Tirol Werbung traf ich Toni Sailer wieder bei einer Veranstaltung anlässlich der Skiweltmeisterschaft 1993 in Morioka in Japan. Franz Klammer und Karl Schranz waren auch dabei, aber das Interesse der japanischen Medien galt nur dem „Toni“. Ein ganzes Skigebiet, das Sailer Valley, war nach ihm benannt worden.

In Kitzbühel lud ich Toni dann zu einer Ballonfahrt ein. Wir schwebten über die Berge der Kitzbüheler Alpen und er war begeistert, seine Heimat aus der Vogelperspektive zu betrachten. Die meisten Gipfel kannte er und fasziniert schaute er auf „seine Streif“ hinunter. Anschließend lud er die ganze Crew in sein Haus in Gundhabing zwischen Kitzbühel und Reith ein, wo dann in seinem Weinkeller die traditionelle Ballonfahrertaufe stattfand. Mit „Land der Berge“, der Sendung des ORF unter Manfred Gabrielli und Lutz Maurer, planten wir mit Toni Sailer und einigen jungen Skirennläufern ein Trekking in Nepal, da Sailer von den großen Himalaya-Bergen, wie er sagte, immer geträumt hatte. Leider kam es aus Termingründen nicht dazu.

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