Die Ahnungslosen

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Mit einem Mal kam Bewegung in den Kraken. Er drehte sich um die eigene Achse und schwamm mit raschen Stoßbewegungen seiner acht Arme in Richtung Wasseroberfläche davon. Kri kauerte sich hin, um dem Tier unter einem Korallenstock hindurch hinter-hersehen zu können. Schemenhaft war dort oben ein Mensch zu erkennen. Jetzt streckte er die Arme ins Wasser, und der Krake spürte nach ihnen, umschlang sie und saugte sich an ihnen fest. Die Umstehenden bekamen davon nichts mit, nur die am Boden hockende Kri wurde Zeugin dieser berührenden Berührung, dieser Begegnung der zweiten oder dritten Art, diesem Fenster zum Roten Meer in ihr.

Schiffbruch

Flo nennt Martha eine Hexe. Nicht boshaft, er hat dabei immer ein Grinsen auf den Lippen. Trotzdem merkt man, dass sie ihm nicht ganz geheuer ist. Martha putzt seit drei Jahren bei uns, kommt jeden Mittwoch für fünf Stunden. Deshalb laden wir Gäste auch meist für Mittwochabend ein, wenn die Wohnung aussieht wie aus einem Lifestyle-Magazin. Egal wer uns besucht, jedem fällt auf, wie alles glänzt, und wir schwärmen dann von Martha, und Flo bringt seinen Spruch mit der Hexe an. Das macht unsere Gäste natürlich neugierig, und Flo lässt es sich dann auch nicht nehmen, die eine oder andere Anekdote über Martha zu erzählen. Was immer für gute Stimmung sorgt. Oft fragen unsere Freunde, ob wir ihnen Martha nicht weitervermitteln könnten, aber ich sage dann jedes Mal, sie sei völlig ausgelastet, weil ich gar nicht daran denke, eine Perle wie Martha mit anderen zu teilen. Dass ihr in regelmäßigen Abständen Dinge zu Bruch gehen, stört uns nicht weiter. Das macht sie nur noch schrulliger, und Flo ist ziemlich gut darin, ihre kleinen Missgeschicke mit witzigen Pointen zu versehen und so zum Besten zu geben.

Martha kommt aus Rumänien, glaube ich, oder aus der Ukraine, irgendwas im Osten, und sie sieht aus, als sei sie schon immer alt gewesen. Sie spricht auch ein ziemlich seltsames Deutsch mit verschachtelten Sätzen, in denen immer wieder Wörter auftauchen, die bei uns niemand mehr sagen würde. Ähnlich ist es auch mit ihrem Gewand. Martha trägt immer dasselbe Kleid, das mich an alte Märchenbücher erinnert. Großmütter oder Marktfrauen haben dort solche Kittel an, aus einem Stoff so dick und fest, als müsste er ewig halten, und einem Muster wie ein alter Couch-Bezug. Als ich Martha einmal nach ihrem Kleid fragte, erzählte sie mir, dass es von ihrer Mutter stammte.

»Sie ist gestorben in diesem Kleid«, sagte Martha, und dabei zog sie das O in die Länge und rollte das R, dass es sich anhörte, als würde sie gerade die Totenrede auf ihre Mutter halten. Als Flo von der Arbeit kam, erzählte ich ihm von Marthas Kleid, und als wir später mit unseren Gästen beim Abendessen saßen, baute er die Anekdote prompt in seine Hexengeschichte über Martha ein. Ich lachte zwar mit, es störte mich aber, dass er sich in so einer Sache über Martha lustig machte. Trotzdem sagte ich nichts, auch später nicht, als wir beide im Bett lagen und beschwipst darüber kicherten, dass Martha der Wasserkocher heruntergefallen war.

Dass Flo Martha eine Hexe nennt, geht auf die Sache mit Mias Warzen zurück. Als Mia sechs war, sind die plötzlich aufgetaucht, erst nur an ihren Füßen, dann auch auf ihren Handrücken. Wir haben alles Mögliche versucht, sind zu sicherlich fünf Hautärzten gegangen, die ihr die unterschiedlichsten Salben verschrieben haben, und sogar zu einem chinesischen Heiler, der für sie einen Kräutertee zusammengestellt hat. Vier Wochen lang mussten wir sie überreden, diese schreckliche Brühe zu trinken, die so ekelhaft roch, dass ich mir beim Kochen die Nase zuhalten musste. Half alles nichts. Irgendwann erwähnte ich eher nebenbei Martha gegenüber Mias Warzen. Sie überlegte kurz und sagte dann, dass sie in der folgenden Woche ausnahmsweise am Donnerstag kommen würde. Als ich sie fragte warum, sagte Martha nur: »Vollmond«, mit zwei langgezogenen Os.

Am folgenden Donnerstag richtete Martha sich ihre Zeit so ein, dass sie mit dem Putzen fertig war, als Mia aus der Schule kam. Wir aßen gemeinsam zu Mittag, doch danach meinte Martha, ich solle jetzt gehen, einkaufen oder einen Kaffee trinken. Ich sah fragend zu Mia hinüber, doch die setzte ihren Mama-sei-jetzt-bitte-nicht-peinlich-Blick auf, und so ließ ich die beiden eben allein. Als ich eineinhalb Stunden später nach Hause kam, sah ich von der Straße aus, dass Martha alle Vorhänge zugezogen hatte. Sie war nicht mehr da, dafür klebte an Mias Zimmertür ein Zettel, auf dem in schnörkeliger Handschrift stand: Muss schlafen, nicht aufwecken. Mias Tür quietscht leicht, deshalb traute ich mich nicht, zu ihr hineinzugehen, und warf nur einen Blick durchs Schlüsselloch. Es war aber völlig dunkel und ich konnte nichts erkennen. Als Flo aus der Arbeit kam, schlief Mia immer noch. Flo tat ganz entspannt und setzte sich mit der Zeitung ins Wohnzimmer, ich sah aber, wie nervös er war, weil er mehr raschelte und blätterte als zu lesen. Dann hielt er es nicht mehr aus, legte die Zeitung weg und stand auf. Ich folgte ihm, als er leise die Tür aufdrückte und in Mias Zimmer schlich. Es roch nach Wald und Wiese und auch ein wenig streng nach Erde und Pilzen. Mia lag wie aufgebahrt in ihrem Bett, die Hände und Füße in weiße Baumwolltücher gewickelt, das Gesicht etwas blass, kam mir vor, aber mit einem seligen Lächeln auf den Lippen. Flo hielt seine Hand nah an ihren Mund und nickte dann langsam. Ich tippte ihn an, und leise schlichen wir wieder hinaus. Am nächsten Morgen weckte uns Mia kurz nach sechs. Mit einem triumphierenden Ta-ta-ta-ta stand sie in der Tür unseres Schlafzimmers und hielt ihre warzenfreien Hände in die Luft.

Das ist jetzt auch schon wieder ein Jahr her. Ein Jahr, in dem nicht viel passiert ist, bis ich vor drei Wochen in einer Zeitschrift die Anzeige für einen Zeichenkurs entdeckte. Plötzlich hatte ich aus dem Nichts heraus so ein Glücksgefühl, in meinen Fingern begann es zu kribbeln und ich erinnerte mich an Buntstifte und Blumenwiesen, an zitronengelbe Sonnenstrahlen und Prinzessinnen in langen Kleidern. Im Kurs nahm das Kribbeln in den Fingern noch zu, und dann noch einmal, als mir Walt, unser Lehrer, die Hand führte.

Wir treffen uns immer in seiner Wohnung, die gleichzeitig auch sein Atelier ist. Allein die Atmosphäre dort: die Leinwände, die an der Wand lehnen, der Geruch der Ölfarben und die struppigen Pinsel in den alten Marmeladegläsern. Besonders erfolgreich ist er nicht, aber selbst das finde ich speziell, wie er trotzdem weitermacht mit der Kunst. Ich könnte so nicht leben, aber ein Ausflug in diese Welt ist wie ein Abenteuerurlaub. Außerdem mag ich Sex am Morgen. Ich gehe dann ganz anders in den Tag. Viel euphorischer als sonst, angepisst von nichts, neugierig auf alles. Mit Flo kann ich nur abends schlafen, weil Mia am Morgen in die Schule muss. Allzu viel ist bei uns also allzu oft nicht los.

Bei Walt kommt dazu, dass er im Bett so ganz anders ist, wobei ich jetzt gar nicht genau sagen könnte wie. Es ist nicht so, dass er ungewöhnliche Spielchen vorschlagen oder Handschellen aus der Nachttischschublade ziehen würde, nein, es ist eher die Art, wie er mich berührt oder eher noch, wo er mich wann berührt: Seine Finger sind jedenfalls nie dort, wo ich sie gerade erwarte.

Mir ist es jetzt auch schon ein paar Mal passiert, dass ich mich vor dem Sex beim Blick auf eines von Walts Bildern gefragt habe, was das sein soll, und als ich danach auf dem Weg ins Bad wieder daran vorbeigekommen bin, plötzlich etwas erkannt habe. Ich sehe das schon als ein Zeichen dafür, dass diese Affäre gut für meine persönliche Entwicklung ist.

Seinen Künstlernamen Walt finde ich übrigens ziemlich peinlich, auf den legt er aber großen Wert. Einmal habe ich mittendrin aus Versehen Walter zu ihm gesagt, und da ist ihm alles eingeschlafen und er ist hinausgegangen auf seinen winzigen Balkon und hat dort eine geraucht, während ich dagelegen bin und nicht gewusst habe, wie mir geschieht.

Ich hatte einen tollen Job, bis ich schwanger wurde. Sekretärin bei einer japanischen Firma. Habe ihre Wien-Niederlassung quasi im Alleingang gemanagt. Von den Japanern konnte ja keiner Deutsch, und ihr Englisch hat außer mir kaum jemand verstanden. Auf jeden Fall ist die Firma während meiner Karenz pleitegegangen, und ein gleichwertiger Job war nicht mehr zu finden. Dass ich einfach irgendetwas mache, ist nicht infrage gekommen, da waren Flo und ich uns einig, und dass ich jetzt daheim bin und er sich um nichts kümmern muss, ist ihm auch ganz angenehm, kommt mir vor. Weil ja auch immer etwas zu tun ist: Anfangs überhaupt, als Mia noch klein war. Da habe ich mir eingebildet, ich muss nebenher auch noch die Wohnung neu einrichten. Als Mia in die Schule kam, ging es dann leichter. Endlich wieder Zeit für mich, Joggen, Yoga, Bauch-Beine-Po. War ein hartes Stück Arbeit, bis ich wieder ausgesehen habe wie vor der Schwangerschaft. Danach habe ich alles Mögliche ausprobiert, ein halbes Jahr Interior Design, einen zweiwöchigen Kochkurs, Fusion-Kitchen zwischen Thailand und Orient und dann endlich die Idee mit dem Zeichnen. Kunst war ja eigentlich schon immer meins, keine Ahnung, warum ich da nicht früher draufgekommen bin. Als ob man die Dinge, die einem wirklich wichtig sind, so gut in sich verstecken würde, dass man sie irgendwann nicht mehr wiederfindet. Der Zeichenkurs hat mir jedenfalls eine Tür geöffnet: Ich gehe jetzt in Ausstellungen, kaufe mir Bildbände und bin viel ausgeglichener. Und mit Flo läuft es auch gut. Mir kommt es vor, als wirkte ich wieder mehr auf ihn. Richtig verliebt sieht er mich manchmal an, so wie damals, als wir uns kennengelernt haben. Deshalb hält sich mein schlechtes Gewissen auch in Grenzen.

Und dann der letzte Mittwoch: Gleich beim Reinkommen hat mich Martha zweimal angesehen. Das erste Mal, ganz wie immer, begleitet von ihrem freundlich gerollten und entspannt langgezogenen »Grüß Sie Gott, Frau Dio«, dann aber gleich noch einmal, als hätte sie in meinem Gesicht etwas entdeckt. Und Marthas Blick ist einer, der nicht auf deiner Haut endet, sondern Röntgenstrahlen aussendet, die dich durchleuchten. Wie immer, wenn ich nervös bin, habe ich begonnen, mir mit den Fingern über mein Muttermal am Hals zu fahren, und da beginnt Martha auch noch so wissend mit dem Kopf zu nicken. Und später, als ausnahmsweise einmal mir ein Glas zerbrochen ist, hat sie beim Aufkehren irgendetwas in sich hineingemurmelt. An dem Abend habe ich mit Flo geschlafen und mich anschließend in seine Armbeuge gekuschelt.

 

»Martha wird mir in letzter Zeit unheimlich«, habe ich zu ihm gesagt, und er hat mich mit verschlafener Stimme gefragt, was ich meine.

»Als würde irgendetwas nicht stimmen mit ihr«, habe ich gesagt.

»Wir wissen, dass etwas mit ihr nicht stimmt, deshalb mögen wir sie ja so«, hat Flo nur gemeint, ich habe aber nicht locker gelassen.

»Langsam bekomme ich Angst vor ihr«, habe ich gesagt und tief Atem geholt, »und deshalb denke ich, wir sollten mal über eine andere Putzfrau nachdenken.«

Da hat sich Flo plötzlich aufgerichtet und mich groß angesehen.

»Bist du verrückt? Was sollen wir ohne Martha?«

»Es geht hier nicht um eine alte Freundin«, habe ich gleich zurückgeblafft, »sondern um unsere Putzfrau.«

»Martha ist für uns wie eine alte Freundin«, hat Flo daraufhin gemeint, »sie hat Mias Warzen weggezaubert, sie ist eine treue Seele, ehrlich, verlässlich, gründlich, keine Ahnung, wie du auch nur auf die Idee kommen kannst, Martha vor die Tür zu setzen.« Und damit hat er sich umgedreht und geschlafen.

Es gibt eine Sache, die Flo heilig ist und der niemand zu nah kommen darf. Ein Modell der Santa Maria. Das war das Schiff, mit dem Kolumbus Amerika entdeckt hat. Es steht bei uns im Regal. Flos Großvater hat es aus Streichhölzern gebaut. Flo hat seinen Großvater abgöttisch geliebt. Weil seine Eltern wenig Zeit hatten, ist Flo bei ihm aufgewachsen. Bis heute spricht er von ihm wie von einem Heiligen, und das Schiff staubt er jeden Abend eigenhändig ab. Leicht ist es mir nicht gefallen, aber nachdem Martha heute gegangen ist, ist es passiert.

Drei Giraffen

Das glaubst du vorher nicht. Dass dir das Meer einmal zu viel wird. Dass dich das ununterbrochene Heranrollen der Wellen, das dauernde Rauschen der Brandung auch einmal fertigmachen kann. Du stehst bis zu den Knöcheln in der schaumigen Gischt und denkst dir, komm doch mal zur Ruhe! Lass nur eine einzige Welle aus! Schreist es auch laut in die salzige Luft hinaus, weil dich bei dem Lärm, den die Brandung fortwährend macht, ohnehin keiner hören kann. Jetzt rauscht die S-Bahn vor dem Fenster – auch nicht das Gelbe vom Ei. Aber egal. Home is … wo man trotzdem lacht.

Andere ziehen mit Dutzenden Kisten um. Da ist die Wohnung voll, bevor sie beginnen, ihre Sachen auszupacken. Bei mir? Zwei Koffer, und einer davon ist die Gitarre. Heute früh habe ich mir den Spaß gemacht, alles, was ich besitze, in einer Reihe aufzustellen. Bei der Wohnungstür habe ich angefangen. Und bin nicht einmal bis zum Fenster gekommen.

Dann habe ich meine Gitarre aus dem Koffer genommen. Den leeren Koffer hingelegt und danach die Gitarre. So ist es sich ausgegangen bis zum Fenster. Die Gitarre hat ausgesehen, als würde sie ihren Hals Richtung Himmel recken. Sie vermisst die kalifornische Sonne. Ich bin gespannt, wann es bei mir so weit ist. Wann ich bereue, zurückgekommen zu sein.

34 Jahre alt, das Studium abgebrochen, die letzten zehn Jahre in Übersee, U.S.A. und Kanada. Und in dieser Zeit 218 Songs geschrieben. 21,8 Songs pro Jahr, 1,8 Songs im Monat, ungefähr einen halben Song pro Woche. Alle sieben Tage eine Strophe, alle vierzehn Tage einen Refrain. Das ist mein Problem: Dass ich für meine Art zu leben zu gut rechnen kann. Mein Geld reicht noch bis Monatsende.

Was mache ich hier?

Was würde ich dort machen?

Als ich in Kalifornien angekommen bin, habe ich nicht einen Augenblick lang überlegt. Weil im Evangelium nach Uncle Sam klipp und klar steht, dass wer ganz nach oben will, ganz unten anfangen muss. Und da gibt es schließlich nur einen einzigen Job.

Ich habe also Teller gewaschen. In einer Küche ohne richtige Fenster, nur eine Luke gab es, knapp unter der Decke, die sich kippen ließ, mit Blick auf gerade einmal eine Handbreit Himmel.

There is a heaven for everyone.

Wer den ganzen Tag nur einen schmalen Streifen Horizont sieht, lernt ihn zu schätzen. Und auf den Horizont kommt schließlich alles an in Amerika. Der Horizont ist die magische Grenze. Bis zum Horizont sind Schulden, aber zum Glück ist das Land groß genug, dass es dahinter weitergeht. Eigentlich sollte ja ein künstlicher Horizont vor Manhattan im Meer stehen und nicht die Freiheitsstatue. Eine Skulptur des Horizonts vor dem Horizont.

Im Leben eines Tellerwäschers schiebt sich übrigens ein Horizont voller Speisereste vor den Silberstreifen hoch über deinem Kopf. Und auf der anderen Seite endet deine Welt bei der schreienden Stimme deines Bosses.

Und trotzdem hat jeder amerikanische Musiker, der auf sich hält, einmal als Tellerwäscher gearbeitet und in dieser Zeit geniale Songs geschrieben. Zumindest steht das in jeder Musiker-Biografie, die mit A wie Amerika beginnt. Deshalb war ich anfangs auch geduldig und dachte bei den Rauchschwaden in der Küche an den Morgendunst über der San Francisco Bay, und die Erzählungen der Illegalen, die neben mir Teller schrubbten, hörten sich an wie die heiseren Weisheiten der staubigen Straßen. Und was brauchst du mehr als den Glauben an die Landschaft und das Gesetz der Straße, um den perfekten Song zu schreiben. Das dachte ich damals zumindest.

Was dir keiner sagt, was du aber ziemlich schnell merkst: Weil du die ganze Zeit über nasse Finger hast, kannst du deine besten Ideen gar nicht aufschreiben, und dass dir die Seifenlauge die Hornhaut an den Fingerkuppen aufweicht, ist nicht gerade angenehm beim Gitarrespielen. Meinen ersten Song habe ich geschrieben, eine Woche nachdem ich meinen Job als Tellerwäscher hingeschmissen habe.

Ich kenne hier keinen mehr und weiß noch nicht, wie ich das ändern kann. Tim anrufen? Dem ich vielleicht auch noch recht geben muss, weil er damals gekniffen hat und hiergeblieben ist. So weit ist es mit mir noch nicht.

Die letzte Stunde habe ich mir immer wieder eingebildet, dass mein Telefon in der Hosentasche vibriert. Ich habe es jedes Mal herausgezogen, aber da war natürlich nichts. Kein Anruf und auch kein SMS. Kann ja auch gar nicht sein. Es gibt ja niemanden, der weiß, dass ich hier bin, und keinen, der diese Nummer hat. Aber was schert sich die Hoffnung darum, was möglich ist und was nicht.

Natürlich könnte da jemand sein, genauso allein wie ich gerade, der einfach eine bestimmte Zahlenfolge in sein Telefon tippt, und gleich darauf klingelt es bei mir.

Also, interessieren würde es mich schon, wer abhebt, wenn ich mein Geburtsdatum wähle.

Eine Zeit lang habe ich in Portland, Oregon gelebt. Da gab es einen Songwriter, Künstlername Earl Darkgrey, genauso wie der Tee, nur dunkel, mit dem habe ich gespielt. Sein ganzes Gesicht war Bart, und der hat, neben viel Stuss, einmal auch etwas sehr Schönes gesagt. Als wir einmal übers Songschreiben geredet haben, hat er gemeint, dass die Wörter in Gruppen zusammenstehen, während sie darauf warten, dass sie dir einfallen, und dass, wenn du ein Wort denkst, sich die anderen ungefragt anhängen. Und weil Wörter ganz schön fest aneinanderkleben können, braucht es eine gehörige Kraft, um sie zu trennen und nur das zu sagen, was man auch wirklich sagen will. Und das ist der Grund, warum das Songschreiben so anstrengend ist.

Earl Darkgrey ist anschließend aufs Klo gegangen und wie immer eine Ewigkeit dort geblieben. Ich habe ja die Vermutung gehabt, dass ihm viele seiner Songs beim Scheißen eingefallen sind. Mir hat das Bild gut gefallen, wie er dasitzt mit heruntergelassenen Hosen, ein Blatt Klopapier auf dem nackten Oberschenkel, und versucht, mit einem abgekauten Kugelschreiber die Wörter zuerst auseinander- und danach wieder zusammenzubekommen. Und wie dabei immer wieder das Papier reißt und der Stift blaue Fahrer auf seinem Oberschenkel hinterlässt. Als er an dem Abend zwanzig Minuten später mit rotem Kopf zurückgekommen ist, hat er mir jedenfalls mit einem irren Blick tief in die Augen geschaut, fast so, als hätte er am Klo gerade eine kleine Teilerleuchtung erfahren, und gesagt: »Alles kommt auf den letzten Satz an. Viele glauben, dass der wie eine ins Schloss fallende Tür sein muss. Aber genau das Gegenteil ist der Fall. Der letzte Satz«, hat er gesagt, so geladen, als hätte er gerade mit ihm gekämpft, »darf nicht wie eine Tür sein, die ins Schloss fällt, sondern muss wie ein Fuß sein, der sich im letzten Moment in die zufallende Tür stellt, verstehst du«, und dabei hat er mir mit dem Finger an die Schulter getippt, als wollte er mir seine Weisheit unter die Haut drücken. Das war ein Moment, in dem ich viel dafür gegeben hätte zu sehen, ob sein Oberschenkel voller blauer Fahrer war.

Und ein anderes Mal, als wir in seinem Wagen zu einem mies bezahlten Auftritt dreihundert Meilen Richtung Süden fuhren, meinte Earl Darkgrey, dass er das gerne im Alltag könnte, in Songs zu sprechen, also mit den Menschen zu reden, als würde er singen.

Bevor ich anfange, ihn so richtig zu vermissen, lege ich die Gedanken an Earl Darkgrey lieber zur Seite und nehme stattdessen mein Handy zur Hand. Was habe ich zu verlieren? Nichts. Außerdem: Will nicht jeder wissen, wer abhebt, wenn man sein Geburtsdatum wählt? Es läutet einmal, ein zweites Mal, dann meldet sich eine Frau, sagt ihren Namen aber so schnell, dass ich ihn nicht verstehe. Was sie noch sagt und was ich verstehe, ist »Papier- und Schreibwaren«. Ich hole einmal tief Luft und frage sie, wie man am besten zu ihrem Laden kommt.

Ich ziehe die schwarze Hose an, die zwischen der Aufstrichkonserve und der von Tom Waits bekritzelten Serviette im Vorzimmer liegt, und das Joni-Mitchell-T-Shirt, das ich zwischen dem Gitarrenkoffer und dem einzigen Gegenstand finde, der mir je auf der Bühne zugeworfen wurde, einer Papierblume, die aussieht wie selbstgemacht. Sie kam aus dem Nirgendwo angeflogen, ich habe nicht gesehen, wer sie geworfen hat, würde aber eher mein letztes Paar Schuhe hergeben als diese Rose, die mehr ist als eine Rose, ganz egal, was eine einmal behauptet hat und andere seit damals wiederholen.

Mit der S-Bahn zwölf Minuten, zu Fuß eine Dreiviertelstunde, sagt Google. Ich gehe zu Fuß, spare das Geld für das Ticket und finde unterwegs vielleicht ein Lokal, in dem ich auftreten kann.

Ein Citroën DS. Mit so einem ist Belmondo gefahren in – verdammt, ich weiß den Film nicht mehr. Aber ich bin auf einmal froh, wieder in Europa zu sein. Das Gleiche ist mir in Amerika auch passiert. Als ich angekommen bin, fühlte ich mich zuerst verloren, dann ist ein wirklich alter Chevy die Straße herunterkommen, und plötzlich war das Heimweh weg. Das sind einfach Kühlerhauben, darunter hat ein ganzer Kontinent Platz.

Keine schlechte Gegend, ein Lokal nach dem anderen, und zumindest drei sehen aus, als könnten sie mit meiner Musik etwas anfangen. Mein Favorit heißt Drei Giraffen. Dort schaue ich heute Abend auf jeden Fall vorbei. Schon allein, weil ich wissen will, was es mit dem Namen auf sich hat.

Da vorne ist der Laden. Schön, die alte Schrift über dem Eingang. Eine Frau steht hinter der Kasse und unterhält sich mit einem Kunden. Sie sieht älter aus als ich, nicht viel, ist vielleicht Ende dreißig. Ich könnte nach einem Notizbuch fragen. Mein altes ist ohnehin fast voll. Neues Leben, neues Notizbuch. Gerade will ich hineingehen, da sehe ich den Zettel im Schaufenster. Verkäufer gesucht.

»Bin gleich bei Ihnen«, ruft sie, als ich den Laden betrete und die Tür hinter mir mit einem freundlichen »Bleib hier« satt ins Schloss fällt.

Über das Regal hinweg beobachte ich, wie sie dem Kunden seine Papierbögen zusammenrollt. Sie hat geschickte Finger, bestimmt spielt sie ein Instrument. Der Mann zahlt und geht, und sie kommt herüber zu mir.

»Und? Fündig geworden?«

»Ja«, sage ich und halte ihr das erstbeste Notizbuch hin.

»Gute Wahl«, sagt sie, als ich ihr zur Kasse folge, und ich weiß nicht, ob ich sie einfach so sympathisch finde oder weil sie mein Geburtsdatum als Telefonnummer hat.

 

Ich zahle und bleibe stehen.

»Der Zettel im Schaufenster«, sage ich, und sie schaut mich fragend an.

»Der Job«, setze ich nach.

»Ah«, sagt sie, und ein unentschlossener Moment huscht über ihr Gesicht, in dem ich mich von einem Kunden in einen möglichen zukünftigen Angestellten verwandle. Ihr Blick bekommt etwas Prüfendes und drängt mich, etwas zu sagen.

»Ich mag Papier«, höre ich mich und versinke, als ich mich höre, im Boden.

»Ist das so«, sagt sie und genießt meine Nervosität, weil sie damit wieder die Oberhand hat in unserem Gespräch.

»Und was haben Sie bisher so gemacht?«

»Ich war in Amerika«, sage ich und schwöre mir im selben Moment, den Laden erst wieder zu verlassen, wenn ich den Job in der Tasche habe. Nicht weil ich das Geld unbedingt brauche, das zwar auch, in erster Linie aber, weil mir plötzlich nichts wichtiger ist, als dass diese Frau mich mag. Und da fällt mir Earl Darkgrey ein, wie er gemeint hat, er möchte reden können, als würde er singen, und erzähle in Strophen, dass ich vom Tellerwaschen bis zum Rasenmähen alles gemacht habe, und im Refrain von meiner Musik.

»Ich bin also flexibel«, sage ich.

»Wann können Sie anfangen?«, fragt sie.

»Jederzeit«, sage ich.

Auf dem Heimweg behandelt mich die Stadt mit einem Mal anders. So, als würde ich jetzt dazugehören. Legt mir den Arm um die Schulter, zeigt mir übersehene Abzweigungen und versteckte Hinterhöfe und sagt dem Himmel: »Eine Spur mehr Blau für unseren Neuzugang«, was er auch prompt macht. Als ich mein Haustor aufsperren will, zieht mich die Stadt zurück. »Das war’s?«, fragt sie beleidigt, »schon genug gesehen?« Recht hat sie, was soll ich daheim. »Gut«, sage ich deshalb, »stell mich den anderen auch noch vor!«

Erst in der Dämmerung komme ich nach Hause, schiebe mir die Matratze ans Fenster und schaue dem Himmel beim Dunkelwerden zu. Tagträumen geht am besten, wenn es bald Nacht wird.

Irgendwann weckt mich die Sirene eines vorbeifahrenden Rettungswagens. 21.47, sagt auf Knopfdruck mein Telefon, und ich ziehe mich an.

Ein paar Meter vor den Drei Giraffen fällt mir eine Toreinfahrt auf, und einem spontanen Impuls folgend biege ich ab und gehe hinein in den Hinterhof, und da stehen drei Männer neben einer Metallltür, die aussieht wie der Hintereingang zur Küche, und rauchen. Ich erkenne sie gleich, die Tellerwäscher und Küchengehilfen, an ihren nassen Schürzen und den Haarnetzen, die sie noch aufhaben oder in der Hand halten. Einer, der an der Wand lehnt, wirft ein Wort in die Luft, und der neben ihm fängt es auf und beginnt ansatzlos seinen Rap, und gleich darauf sticht auch den Dritten der Rap, und Unkraut und aufgesprungener Asphalt werden zum Dancefloor und Tellerwäscher Nummer 1 zur Beat-Box, und fertig ist die Welt in der Welt. Dann entdecken sie mich, winken mich herüber, halten mir die Tür auf in ihr Universum, als könnten sie wittern, dass auch ich meine Zeit mit schmutzigen Tellern hatte, und ich klatsche mich hinein, lege eine zweite Rhythmusspur und bekomme als Dankeschön ein Nicken und dann sogar eine Strophe: »… we don’t bother ’bout an unknown brother, if he clasps the beat like the wind in the shutter …« Echt fix, die Burschen. Dann wird es Zeit, der Neugier Platz zu machen. Die Box lässt die Beats ausbröseln, und wir tauschen unsere Wohers und Wohins, unsere Schicksale so ähnlich, dass sie den Schulterschluss üben wie eine Football-Mannschaft vor dem Free Kick. Da haucht der Tänzer auf einmal ein »Silence«, und »still!« sagen auch seine Hände, die er der Luft wie einem großen Hund beruhigend auf den Rücken legt. Ich habe keine Ahnung, was er vorhat, aber wir alle erstarren wie Die Tellerwäscher von Rodin, genauso sehen wir aus oder würden wir aussehen, wenn Rodin jemals Tellerwäscher modelliert hätte. Eine gefühlte Ewigkeit stehen wir wie angewurzelt da, dann geht das Licht aus, das anscheinend über einen Bewegungsmelder funktioniert. Ich habe noch immer keine Ahnung, was jetzt kommt, doch da beginnt der Tänzer plötzlich einen Moonwalk, gleitet dahin wie dereinst Michael Jackson, aber in Superzeitlupe, so etwas habe ich noch nicht gesehen. Der Rapper starrt abwechselnd auf sein Handydisplay, seinen moonwalkenden Freund und die Glühbirne über dem Kücheneingang und bewegt dabei lautlos die Lippen, als würde er mitzählen. Dann flackert die Glühbirne plötzlich auf, und der Moonwalker schaut fragend zum Rapper, der reckt die Faust in die Luft und sagt: »Fucking hell!«, sagt: »8:43«, und: »neuer Rekord«, und da kapiere ich. Jacko fingert sich zur Selbstbelohnung eine Zigarette aus der Hosentasche, steckt sie sich trocken in den Mund, dafür streicht der Rapper sein Zippo an, und im nächsten Moment macht Jacko aus dem Stand einen Salto, dass ihm sein Haarnetz vom Kopf fliegt, und landet so vor dem Rapper, dass er seinen Kopf nur noch leicht auf die Seite drehen muss, und schon zerschneidet seine Zigarette wie Zorros Degen die Zippoflamme.

Was für ein Tag!, glaube ich mein Glück nicht. Nachdem mir die Stadt tagsüber schon ihr Lied vorgepfiffen hat, landet sie jetzt vor meinen Füßen. Alle heiligen Zeiten einmal ist man für fünf Minuten unbesiegbar, und diese fünf Minuten muss man ausnutzen, weil sich in ihnen entscheidet, wie es weitergeht im Leben, und das meist auf Jahre hinaus. Also nichts wie hinein.

Der Chef lehnt an der Bar und nippt an einem Whisky. Er sieht aus, wie Jacko ihn mir beschrieben hat. Groß, schlank, schwarzer Anzug und weißes Hemd und mit einer Glatze, die genauso glänzt wie seine Schuhe. Also eigentlich hat Jacko ihn Schuhkopf genannt, und als ich ihn fragend angesehen habe, ist er sich, begleitet von dem Lachen seiner Kollegen, wie wild mit der Hand übers schon lange wieder aufgesetzte Haarnetz gefahren, so als würde er seinen Schädel auf Hochglanz polieren.

Als ich den Drei-Giraffen-Boss begrüße, gibt er mir zwar die Hand, sieht mich dabei aber an, als wisse er nicht, was das soll. Ich schätze ihn auf Anfang vierzig, und weil ich gerade unbesiegbar bin, schüchtert mich sein Gehabe nicht einmal ansatzweise ein.

Ich sage ihm, dass ich Musiker bin, erst seit wenigen Tagen in der Stadt, und dass ich davor zehn Jahre in den Staaten gelebt habe. L.A. und Portland, Oregon, füge ich hinzu, als wären die beiden Städte meine Adelstitel.

»Und jetzt suchst du ein Lokal, in dem du auftreten kannst«, sagt der Chef, und ich werfe ein »Ge-nau!« in die Luft und mag, wie es sich dreht und glitzert im Licht der Bar. Ein bisschen freut er sich auch, aber abgebrühter, so als sähe er das öfter, und zieht mit dem Finger einen Kreis in der Luft und ich greife in meine Tasche und drücke ihm meine vorletzte Demo-CD in die Hand.

»Hör ich mir an«, sagt er, und seine Stimme geht dabei hinunter, als hätte er sich von mir verabschiedet.

Ich bleibe einfach neben ihm stehen, sehe zu, wie er meine vorletzte CD neben sein Whiskyglas legt, seine Schulter, die mir sonst vielleicht kalt vorgekommen wäre, hier und jetzt aber einfach nur eine Schulter ist, auf meiner Augenhöhe.

»Ist noch etwas?«, fragt er mich.

»Ja«, sage ich, »warum Drei Giraffen

»Kenne ich gut«, sagt Karoline, »der Chef kauft die Einlegeblätter für seine Tagesmenüs bei mir.«

»Bei uns«, sage ich, und dann gehen wir zu den Regalen, und sie zeigt mir die Unterschiede zwischen japanischem Reispapier und Büttenpapier aus Fabriano, zwischen beinahe durchsichtigem Papier aus Nepal und handgeschöpftem Papier aus Blankenberg, so fest, dass man den Bogen wie ein Brett gegen die Wand lehnen kann. Ich schreibe genau mit im Kopf. Nicht nur für den Job, auch für einen möglichen Paper Song. Und nach meinem ersten Arbeitstag, der wie im Flug vergeht, trinken wir zusammen ein Glas Wein.