Die Geschichte von der 1002. Nacht / Сказка 1002-й ночи. Книга для чтения на немецком языке

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VII

Leider liegen die Tage, in denen unsere Geschichte spielt, schon so weit zurück, daß wir nicht mehr mit Sicherheit festzustellen vermögen, ob der Baron Taittinger recht hatte, als er der Meinung war, die Mizzi Schinagl sehe aus wie eine Zwillingsschwester der Gräfin W.

Er hatte, traurig und geradezu verzweifelt durch Sievering schlendernd, den lächerlichen Entschluß gefaßt, eine Tonpfeife zu kaufen. Und er trat in den Laden des Alois Schinagl ein. Er war darauf vorbereitet gewesen, einen älteren, würdigen Mann im Laden vorzufinden.

Die Tür hatte eine grelle Alarmglocke. Auch sie überraschte den Baron Taittinger nicht. Wohl aber überraschte, ja erschreckte es ihn, daß statt des alten Pfeifenhändlers, den er erwartet hatte, ein Wesen hinter dem Ladentisch erschien, das er bereits sehr wohl zu kennen glaubte: wenn es nicht die Gräfin W. persönlich war, so war es gewiß ihre Schwester. Er beschloß zuerst, längere Zeit die Pfeifen zu prüfen, von denen er allerdings gar nichts verstand.

Es waren lächerliche Pfeifen und lächerliche Preise. Während er vorgab, die Pfeifen zu prüfen, jede einzelne an den Mund führte, durch jede hindurchblies – so wie er es einmal gesehn zu haben glaubte, als er seinen gottseligen Herrn Papa, den alten Hofrat Taittinger, zum Pfeifenkaufen in Olmütz begleitet hatte –, beobachtete er verstohlen, aber inbrünstig das zarte Gesicht der Doppelgängerin. Ja, kein Zweifel, sie sah aus wie die Gräfin W.: das gleiche Veilchenauge mit dem Vergißmeinnichtblick; der gleiche Haaransatz über der niederen Stirn; der gleiche aschblonde Knoten im Nacken – man sah ihn, sooft sich das Mädchen umwandte, um nach neuen Pfeifen auf den Regalen an der Wand zu suchen; der gleiche Augenaufschlag und das gleiche süße und zugleich mokante Lächeln; die gleichen scharfen Eckzähne, die sich bei jedem Lächeln enthüllten; die gleichen Handbewegungen und die gleichen lieben Grübchen an den Armen, zu beiden Seiten der Ellenbogen.

Die goldenen Knöpfe der Rittmeister-Uniform verbreiteten einen immer stärkeren Glanz im Laden, je tiefer der Abend wurde. Man hätte noch ganz deutlich die Pfeifen sehen können, aber dem Mädchen, der Doppelgängerin der Gräfin W., wurde es unbehaglich, allein, wie sie war mit dem fremden Offizier, und sie entzündete den Rundbrenner über dem Pult, rechts vom Verkaufstisch. Das Licht flackerte und blakte zuerst. Taittinger kaufte fünfzehn nutzlose Tonpfeifen. Er fragte noch: »Was ist eigentlich Ihr Herr Vater, liebes Fräulein?«

»Der Ofensetzer Alois Schinagl!« sagte das Mädchen. »Pfeifen macht er auch, aber nur nebenbei. Aber die meiste Kundschaft sind halt die Leut’, die Öfen brauchen. Zu uns kommt selten einer ins Geschäft, Pfeifen haben die Leut’ alle eh schon.«

»Ich komme«, sagte der Baron Taittinger, »morgen noch einmal. Ich brauche viel Pfeifen.«

Er kam am nächsten Tag mit dem Diener, und er kaufte nicht weniger als sechzig Pfeifen.

Drei Tage später kam er wieder nach Sievering, er fand es »charmant«. Es war Samstag, drei Uhr nachmittags, und Mizzi begrüßte ihn wie einen alten Bekannten, obwohl Taittinger diesmal in Zivil war. Es war warm und golden draußen. Mizzi schloß den Laden und stieg in den Fiaker und man fuhr zum Kronbauer.

Man fuhr zum Kronbauer und erzählte drei Stunden später dem fremden Herrn, daß man eigentlich schon so gut wie verlobt war. Verlobt war man mit Xandl Parrainer, Friseur und Perückenmacher. Jeden Sonntag ging man mit ihm aus.

Das waren Geschichten, die den Taittinger gar nicht kümmerten und die er auch nur halb verstand. Eigentlich glaubte er, dieses brave Mädchen wolle ihm einen guten Barbier empfehlen. »Schick ihn nur zu mir«, sagte er, »schick ihn nur! Herrengasse 1, erster Stock.«

VIII

Sehr bald fand Taittinger, daß ihn die Mizzi langweilte. Eines Tages teilte sie ihm mit, daß sie schwanger sei, und dieser Zustand war schlimmer als langweilig: nämlich fad.

Die Folge dieser Erkenntnis war, daß Taittinger zum Notar ging. Taittinger liebte weder die Gräfin W. mehr noch die Schinagl, die ihr ähnlich sah. Er liebte nur noch, wie gewöhnlich, sich selbst.

Wie es in jenen Tagen die Sitte befahl, riet der Notar zu einer Pfaidlerei. Alle Herren, deren Geschäfte er verwaltete, hätten Pfaidlereien eingerichtet. Alle Damen befänden sich noch heute wohl dabei. Der Baron nahm also einen Urlaub von zwei Monaten und reiste in die Bacska, zu einem Onkel seiner Mutter, wo ihn keine Post erreichen konnte.

Es erreichte ihn auch kein einziger der heftigen Liebesbriefe, die Mizzi Schinagl unentwegt schrieb. Sie schrieb diese Liebesbriefe an die einzige Adresse Taittingers, die sie kannte; an die Herrengasse 1. Der Doktor Maurer, der Sekretär Taittingers, der die Schriften auseinanderzuhalten wußte, zerriß die Briefe, ohne sie gelesen zu haben.

Als der Baron Taittinger aus der Bacska zurückkehrte, war die Pfaidlerei der Mizzi Schinagl in der Porzellangasse bereits eingerichtet und im Gange. Mizzi Schinagl war im neunten Monat.

Sie gebar einen Sohn, und sie nannte ihn Alois Franz Alexander. Alois Franz hieß der natürliche Vater; Xandl hieß der Bräutigam, der Friseur.

Die Pfaidlerei ging gut, der Friseur war immer noch bereit, Mizzi zu heiraten. Auch hatte sie selbst durchaus Verlangen nach einem ruhigen und ehrlichen Dasein. Allein, es ging in ihr, dieweil sie derlei vernünftige Pläne überlegte, auch die Liebe durch das Herz und durch den Kopf, und es war die Liebe zu Taittinger. Ihr Kind schien ihr großartig geraten. Nicht einen Augenblick vermochte sie die Hoffnung aufzugeben, daß der Baron Taittinger kommen würde, um die Frucht seiner Lenden zu sehen. Aber der Taittinger kam nicht.

Als Xandl drei Jahre alt war, lernte Mizzi Schinagl auf einer Bank im Schönbornpark, durch Zufall sozusagen, eine geschwätzige und gefällige Frau kennen, die ihr sagte, es gäbe da ein Haus auf der Wieden, da wäre man gut aufgehoben – und noble Menschen verkehrten dort – und was wäre schon eine Pfaidlerei – und was wäre das überhaupt schon für ein Leben so, mit einem Kind und unverheiratet und mit einer Pfaidlerei. Was war das für ein Leben? Mizzi Schinagl hatte es schon oft selber gedacht, wörtlich das gleiche.

»Was sind das für noble Menschen, die dort verkehren?« fragte Mizzi Schinagl.

»Die nobelsten«, erwiderte die fremde Frau. »Namen kann ich Ihnen auch sagen. Ich muß nur die Liste holen.«

Sie eilte dahin und brachte die Liste.

Die Mizzi wußte selbst nicht, weshalb sie zur Frau Matzner am nächsten Tage ging. Was kümmerte sie die Frau Matzner? Was hatte sie jemals von der Frau Matzner gehört? Es war Sommer, Spätsommer. Es war auch sehr heiß. Verspätete, immer noch leichtsinnige Amseln flöteten auf dem immer noch grünen Rasen, zwischen dem Kopfsteinpflaster. Es schlug sechs Uhr, als sie vor dem Hause der Josephine Matzner stand. »Josephine Matzner, Masseurin, IIter Stock, dreimal läuten« war unten gedruckt. Sie läutete dreimal.

Ein geradezu niederschmetternder Duft von Maiglöckchen, von Flieder, von Veilchen, von Verbenen, von Reseda schlug Mizzi entgegen. Noch eh’ sie wußte, was mit ihr geschah, stand sie in dem sogenannten rosa Salon: aus rosa Seide waren die Vorhänge vor den Fenstern; aus rosa Seide die Vorhänge vor der Tür; aus rosa Rosen bestand die Tapete; in eine Rosenknospe aus Porzellan ging selbst der Knopf der Türklinke aus.

Eines Tages, eines Abends vielmehr, kommt er, der geliebte Taittinger. Seit vielen Jahren ist er im Haus der Josephine Matzner heimisch.

Als er die Mizzi Schinagl in diesem Hause erblickte, war er durchaus nicht erstaunt, wie es wahrscheinlich viele andere Männer an seiner Stelle gewesen wären, sondern er strengte sich an, eine den Umständen angemessene Frage zu finden. Er erinnerte sich nicht mehr, auf welche Weise sein Notar die Mizzi Schinagl abgefunden hatte, ob durch eine Wäscherei, Näherei oder Pfaidlerei. Dagegen glaubte er sich genau erinnern zu können, daß Fräulein Schinagl ein Kind weiblichen Geschlechts von ihm bekommen hatte, und eine höfliche Frage nach dem Befinden dieser Kleinen hielt er wohl für angebracht. »Grüß Gott!« sagte er also. »Was macht unsere Kleine?«

»Wir haben einen Buben!« sagte die Mizzi, und sie errötete zum erstenmal wieder nach langen Jahren, als hätte sie nicht etwa die pure Wahrheit gesagt, sondern eine Lüge.

»Ach ja, es ist ein Bub!« sagte der Baron. »Entschuldige!«

Eine Weile später bestellte er Champagner, um mit Mizzi auf das Wohl dieses Buben, seines Buben, zu trinken. Er hörte nicht mehr alles, was die Mizzi vom Buben erzählte. Er hörte nicht, daß er gut untergebracht war bei Frau Schyschka, einer Frau, die zwar aus Bielitz-Biala stammte, aber dennoch durchaus zuverlässig war. Sie verwaltete auch die Pfaidlerei, die ganz gut ging. Insoweit war Mizzi Schinagl zufrieden. Sie trug ein tief ausgeschnittenes, weißes Seidenkleid, und von Zeit zu Zeit nestelte sie an ihrem rechten Strumpfband, offenbar um sich zu überzeugen, daß ihr Geld, ein Zehnguldenschein, den sie heute erworben hatte, noch vorhanden war. Obwohl sie wußte, daß der Baron nur aus Gewohnheit zu der Josephine Matzner gekommen war, begann sie sich nach zwei Gläsern Champagner einzureden, er sei ihretwegen allein gekommen. Alsbald schien es auch dem Rittmeister so, daß er der Mizzi wegen heute den Weg hierher genommen hatte. Der Baron hatte ein kleines Herz, aber es war ebenso schnell gerührt wie vergeßlich. Er mochte die Mizzi noch sehr gerne, und er fragte sich, warum er sie eigentlich verlassen habe. Er begehrte sie sogar, aber es gab nun ein gewaltiges Hindernis: es schien ihm einfach unschicklich, eine Frau zu kaufen, die man umsonst gehabt hatte, sozusagen umsonst, abgesehen von der Pfaidlerei. Es war ebenso unschicklich, wenn nicht noch unschicklicher, eines der anderen Mädchen zu nehmen, sozusagen vor den Augen der Mizzi. In der Hoffnung, daß er dadurch allen peinlichen Überlegungen entgehen könnte, gab er der Mizzi zuerst ein Geldstück, ein goldenes Fünfguldenstück. Sie nahm es in die Hand, spuckte darauf und sagte: »Gehn wir hinauf, zu mir, ich hab’ ein nettes Kabinett!«

 

Der Baron ging ins Kabinett und blieb dort bis Mitternacht, in Erinnerungen versunken. Er versprach, oft wiederzukommen, und er hielt auch sein Versprechen. Er wußte nicht, ob ihn ein Fluch trieb oder ein Segen; ob er eigentlich die Gräfin liebte oder die Mizzi; ja ob er überhaupt liebte; ob er überhaupt noch der alte Taittinger war. Es fehlte nur noch wenig, und er wäre imstande gewesen, sich selbst in die dritte und letzte Kategorie der Menschen einzureihen: in die Kategorie der »Langweiligen«.

IX

Der mächtige Herr von Persien, der Herr der dreihundertfünfundsechzig Frauen und der fünftausenddreihundertzehn Rosen von Schiras war nicht gewohnt, ein Begehren, geschweige denn eine Begierde zu unterdrücken. Kaum hatte sein Auge die Gräfin W. auserkoren, und schon winkte er dem Großwesir. Der Großwesir neigte sich über die Sessellehne. »Ich hab’ dir was zu sagen«, flüsterte dar Schah. »Ich möchte«, sagte der Schah weiter, »die kleine jungenFrau heute, die silberblonde, du weißt, welche ich meine.«

»Herr«, wagte der Großwesir zu erwidern, »ich weiß, welche Eure Majestät meinen. Aber es ist, es ist – « Er wollte »unmöglich« sagen, aber er wußte wohl, daß solch ein Wort das Leben kosten konnte. Also sagte er: » – – es ist hierzulande sehr langsam!«

»Heute!« sagte der Schah, dem nichts von dem, was er befohlen hatte, unausführbar erschien.

»Heute!« bestätigte der Minister.

Der Tanz war eine Weile unterbrochen. Der Herr und der Diener begaben sich würdig und langsam zu ihren Plätzen zurück. Der Kaiser lächelte ihnen freundlich entgegen. Die Musik setzte wieder ein. Der Tanz begann aufs neue.

Vor Mitternacht erhoben sich die Majestäten. Sie verschwanden, die doppelflügelige Tür hinter den Thronsesseln verschlang sie. Der Schah wartete in einem Nebenraum. Ihm gegenüber und so, daß er sie genau betrachten kann, steht eine Diana aus Silber auf einem schwarzen, runden Brett. Sie scheint ihm das getreue Abbild der begehrten Frau zu sein. Alles in diesem Raum erinnert überhaupt an die begehrte Frau: der dunkelblaue Diwan, die seidene, blaßblaue Tapete, der Flieder in der schlankhalsigen Majolikavase, der kristallene Lüster sogar, der wunderbare Schwung des vierfüßigen Leuchters mit den vier schlanken Ärmchen und das silberne Ornament auf dem tiefblauen, samtenen Teppich zu Füßen des Herrn von Persien. Man wartet, man wartet! Und der Schah ist nicht gewohnt zu warten.

Er muß leider warten. Kaum zwanzig Meter von ihm entfernt, findet eine Konferenz statt, deren Teilnehmer sind: der Großwesir, der Hofzeremonienmeister und der Adjutant Seiner Majestät. Man beschließt, auch den Polizeipräsidenten herbeizurufen. Und man sieht trotzdem keinen Ausweg: der Großwesir möchte seinen Freund, den Adjutanten Kirilida Pajidzani, zur Seite haben, er wird ihn suchen lassen, er läßt ihn schon suchen. Man findet ihn nicht, den jungen, lebenslüsternen, schönen Pajidzani.

Was steht zur Debatte? Es handelt sich darum, ob man die Gesetze des Anstands oder ob man die Gesetze der Gastfreundschaft verletzen darf.

Der Hofzeremonienmeister lehnte mit würdiger Entschiedenheit ab; der Adjutant des Kaisers ebenfalls. Es war selbstverständlich. Es kam für keinen von den beiden Herren in Betracht, etwa Seine Majestät in Kenntnis zu setzen von dem sonderbaren Wunsch des hohen Gastes. Aber es kam auch nicht in Betracht, dem hohen Gast einen Wunsch zu verweigern.

Der Polizeipräsident sagte schließlich, daß man einen geeigneten Mann finden müsse, einen vom privaten Festkomitee. Und kaum war das Wort vom »privaten Festkomitee« gefallen, als der Hofzeremonienmeister den Namen Taittinger ausrief.

Man beschloß, eine Pause eintreten zu lassen. Zwei Herren begaben sich in den blauen Raum zum wartenden Schah. Er saß würdig in seinem Sessel, spielte mit seinem Perlenarmband und fragte nur: »Wann?« – »Es handelt sich nur darum«, log der Großwesir, »die Dame zu finden. Im Gewirr des Festes ist sie verschwunden. Wir suchen sie mit allen Kräften.«

»Mit allen Kräften« suchte man indessen nicht die vom Schah ersehnte Dame, sondern den Taittinger.

Der Schah winkte mit der Hand, er sagte nur: »Ich warte!«

Es war Geduld und Nachsicht, aber auch Drohung in der Stimme der Majestät.

Einer der mondänen Spitzel, deren Aufgabe es war, das Gehn und Kommen, die Sitten und Gewohnheiten, die Unsitten und die Unarten und die Freundschaften und die Beziehungen der Herrschaften zu beobachten, meldete dem Polizeipräsidenten, daß sich der Baron Taittinger seit einer Stunde im Vestibül befinde, in der Kammer des Lakaien, beschäftigt mit der Tochter Wesselys, des Kommandierenden der Garderoben. Der Polizeipräsident ging unverzüglich an den angegebenen Ort. Der zur besonderen Verwendung abkommandierte Rittmeister erhob sich, als es klopfte. Er ging zur Tür. Er fürchtete sich keineswegs etwa vor der Schande, auf einer jener Missetaten ertappt zu werden, die nicht nur selbstverständlich waren, sondern sogar geboten erschienen: es handelte sich ihm darum, vor der Welt zu verbergen, daß er sich mit der Wessely abgab, der Tochter des Garderobemeisters. Er wußte nicht, der arme Taittinger, daß der Geheime Vondrak ihn längst schon beobachtete.

Taittinger richtete seine Bluse und ging zur Tür. Er erkannte den Polizeipräsidenten, schloß daraus, daß man bereits von der kleinen Wessely wußte, und bemühte sich infolgedessen auch gar nicht mehr, die Tür hinter sich zuzuziehn, als er in den Korridor trat.

»Baron, ich bitte Sie, sofort!« sagte der Polizeipräsident.

»Servus!« rief Taittinger zur offenen Tür hinein der Wessely zu.

Er fragte, während er neben dem Polizeipräsidenten die flachen Stufen emporstieg, nicht, warum man ihn gerufen hatte. Er ahnte schon, daß es sich um eine äußerst schwierige Angelegenheit handeln würde, eine Angelegenheit im Zusammenhang mit seiner Verwendung.

Ja, nicht umsonst hatte man ihn seinerzeit abkommandiert. In gewöhnlichen Situationen versagte er vielleicht; in außergewöhnlichen funktionierte seine Phantasie. Dort, wo die drei Herren entgeistert und ratlos waren, im kleinen Zimmer, erschöpft vom Nachdenken, bleich aus Furcht, beinahe krank vor Ratlosigkeit, erschien der Rittmeister Taittinger munter wie ein junger Wind. Und nachdem ihm die andern in ängstlich geflüstertem Französisch ihre Sorgen erzählt hatten, rief er, wie gewöhnlich, als säße er beim Tarock, in seinem ärarischen Deutsch, das an alle Kronländer der Monarchie gleichzeitig zu erinnern schien: »Aber meine Herren! Das ist ja sehr einfach!«

Alle drei horchten auf.

»Es ist sehr einfach!« wiederholte Taittinger. Im Nu, in der gleichen Sekunde, in der er gehört hatte, daß es sich um die Gräfin W. handelte, war in ihm ein ihm bis dahin noch fremd gewesener Haß erwacht, eine Art erfinderischer Rachsucht, einer äußerst erfinderischen, einer phantasiereichen, einer geradezu dichterischen Rachsucht. Sie sprach aus ihm: »Meine Herren!« sagte er. »Es gibt viele, unzählige, es gibt unzählige Frauen in Wien! Seine Majestät, der Schah – ich will nicht sagen, daß er einen schlechten Geschmack hat, im Gegenteil, ganz im Gegenteil! Aber Seine Majestät hat begreiflicherweise niemals Gelegenheit gehabt zu erfahren, was es für – für – sagen wir, Annäherungen gibt.«

Er dachte an sich und selbstverständlich an Mizzi Schinagl. Es schien ihm auf einmal – und zum erstenmal in seinem unbeschwerten, leichtfertigen Leben schien es ihm, daß er Herz und Seligkeit für immer verloren habe. Ein unerklärlicher Haß gegen die Gräfin W. ergriff ihn, und es erfüllte ihn der ihm selbst noch weniger erklärliche Wunsch, der Schah möchte sie wirklich besitzen. Eine nie gekannte Wirrnis wütete in seiner Seele: während er noch wünschte, die Frau, die er geliebt hatte und die er in diesem Augenblick aufs neue zu lieben glaubte, möchte schändlicherweise dem Perser ausgeliefert werden, begehrte er auch schon und im gleichen Augenblick, diesen schimpflichen Vorgang um jeden Preis zu vermeiden. Er erfuhr plötzlich, daß er immer noch unglücklich liebte; daß er rachsüchtig war – aus unglücklicher Liebe; daß er aber zugleich den Gegenstand seiner Rachsucht und seiner Liebe zu bewahren hatte, als gehörte er ihm allein; daß er nicht einmal die Doppelgängerin der geliebten Frau, die Schinagl nämlich, ausliefern durfte; und daß er dennoch, auf einem Umweg zwar, aber dennoch, verraten, verkaufen, beschämen und beschimpfen müßte.

»Es ist leicht, meine Herren«, sagte er, und während er dieses aussprach, schämte und freute er sich zugleich, »es ist leicht, Doppelgänger im Leben zu finden. Fast jeder von uns – nicht wahr, meine Herren? – hat einen. Die Damen haben Doppelgängerinnen, warum auch nicht? Die Damen haben Doppelgängerinnen – nun, sagen wir: auch unter den kasernierten Damen. Der Herr Polizeipräsident wird wissen, was ich meine! – Dadurch ersparen wir uns sehr viel Ärger. Ich meine, wir ersparen uns eine äußerst peinliche, um nicht zu sagen: penible Belästigung Seiner Majestät, alle Ratlosigkeit, alle Unfreundlichkeit.« Er hielt »penibel« für stärker als »peinlich«.

Die Herren verstanden im Nu, um was es sich handelte. Sie sahen nur, ein wenig besorgt, den Großwesir an, der aber sein konstantes, höfliches Lächeln nicht aufgab. Er wollte – man begriff es – nicht zugeben, daß auch er verstanden hatte. Auch er bewunderte die ingeniöse Phantasie des Rittmeisters. »Die Herren sind einig?« fragte er auf französisch, gleichsam um zu unterstreichen, daß er nicht imstande gewesen sei, das Deutsch Taittingers zu verstehen. »Darf ich meinem Herrn Nachricht geben?«

»Wir werden die Dame bald ausfindig machen, Exzellenz!« sagte Taittinger und verneigte sich.

Fünf Minuten später sahen die beharrlich Neugierigen, die trotz der späten Stunde auf der Straße warteten, in der vagen und armen Hoffnung, einen Grafen, einen Fürsten, einen Erzherzog gar in eine der Kutschen und Fiaker einsteigen zu sehen, nicht weniger als achtzehn Herren in Zylinder und Frack herauskommen. Ach, es waren keine Prinzen. Es waren die Geheimen von der Spezial-Abteilung, die »Spezis«, wie man sie nannte, die Kenner, Beobachter und Spitzel der Oberwelt, der Halbwelt und der Unterwelt. Die zwei Wachleute, die vor dem Eingang patrouillierten, erkannten sie wohl. Die Wachmänner pfiffen, die Gummiradler kamen heran. Die Herren stiegen ein.

Alle diese Männer kannten die Damen und die Herren aller drei Welten, wie gesagt: der Ober-, der Halb- und der Unterwelt. Ihr Anführer war ein gewisser Sedlacek. Er hatte vor der Abfahrt dem Polizeipräsidenten versichert: »Keine Angst, Exzellenz! In einer halben Stunde, in einer Stunde höchstens, ist die Frau Gräfin hier, ich will sagen: ihre Zwillingsschwester.« Man konnte sich auf Sedlacek verlassen. Er brauchte keine Photographien. Alle Gesichter hatte er im Kopf. Er kannte die Gräfin W. Er kannte den Baron Taittinger. Er kannte die hoffnungslose Liebe des Rittmeisters zu der Gräfin. Er kannte auch die Art, in der sich Taittinger getröstet hatte. Er kannte Mizzi Schinagl, ihren heutigen Aufenthaltsort und nicht nur das: ihre Herkunft, den Laden in Sievering und ihren Vater. Dennoch hatte er, ganz im Gegensatz zu dem Baron, die deutliche Empfindung, daß Mizzi Schinagl der von der persischen Majestät so ersehnten Gräfin sehr wenig ähnlich sah, insbesondere, weil sie sich wahrscheinlich im Hause der Frau Matzner arg verändert hatte. Immerhin: sie blieb noch zu verwenden, für den Fall, daß seine Leute nicht ein noch ähnlicheres Modell ausfindig machen konnten.

Alles schien – vorläufig wenigstens – in Ordnung gebracht worden zu sein, und für die Dauer einer Stunde, oder einer halben Stunde zumindest, hofften die in die Affäre verwickelten, beziehungsweise mit ihr vertrauten Herren, ein wenig aufatmen zu können. Da aber geschah etwas in den Annalen der kaiser- und königlichen Hofgeschichte noch nie Dagewesenes: der Gast des Kaisers von Österreich erschien wieder im Saal. Man teilte es sofort dem Kapellmeister mit, und sofort auch intonierte die Kapelle die persische Nationalhymne. Wie Blei legte sie sich auf alle Glieder.

Er aber sah nichts, hörte nichts, grüßte nicht. Nach einigen Minuten mischte er sich einfach unter die Gäste. Er wandelte durch den Saal. Er bemerkte gar nicht, daß ihm die Leute auswichen und daß sie ganze breite Straßen vor ihm bildeten und daß sich gleichsam die Welt vor ihm spaltete. Unentwegt spielte die Musik Walzer von Strauß, aber ein Unmut lähmte alle Anwesenden.

Der Baron Taittinger hatte ihn sofort erspäht. Er wußte sofort, nach wem der Schah Ausschau hielt. Die Zeit rann unaufhaltsam, bald mußten die »Spezis« kommen. Es mußte auf jeden Fall verhindert werden, daß der Schah innerhalb der nächsten halben Stunde etwa in ein Gespräch mit der Gräfin geriet. Man konnte diesen Schah jedenfalls nicht aus dem Redoutensaal entfernen. Man mußte also die Gräfin nach Hause schicken.

 

Um das Allerschlimmste zu verhüten, beschloß der Baron, mit dem Grafen W. zu sprechen.

Er näherte sich dem kleinen Tisch, an dem der Graf allein saß. Er tanzte nicht gern. Er spielte nicht gern. Er trank nicht einmal gern. Eifersucht war seine einzige Leidenschaft. Er freute sich an ihr, er lebte von ihr. Es bereitete ihm ein wüstes Vergnügen, wenn er so zusah, wie seine junge Frau dahintanzte. Er haßte die Männer. Es schien ihm, daß sie alle auf seine Frau lauerten. Von allen Männern, die er kannte, war und blieb ihm der Rittmeister Taittinger der liebste, der einzig liebe. Den hatte er bereits erledigt, vernichtet, er kam nicht mehr in Betracht. Taittinger ging unmittelbar auf die Hauptsache ein.

»Graf«, sagte er, »ich muß mit Ihnen ernstlich sprechen. Unser persischer Gast ist verliebt in Ihre Frau!«

»Nun?« sagte der kaltblütige Graf. »Es ist kein Wunder. Viele lieben sie, lieber Baron!«

»Ja aber, lieber Graf, der Schah, wissen Sie, nun Sie kennen ja den Orient!« Er schwieg eine lange Weile. Er sah inbrünstig, gewalttätig und doch zugleich auch flehentlich das kalte, stumpfe, blonde Gesicht des Grafen an, eine Art blonden Karpfens …

»Sie kennen ja den Orient!« begann er, schon verzweifelt, von neuem.

»Der Orient interessiert mich nicht«, sagte der Stumpfe, und seine blaßblauen Augen suchten nach der schönen Frau.

Um Gottes willen! dachte Taittinger. Weiß der wirklich nicht, was der Schah will? Wie kann er so gleichgültig sein? Er ist ja sonst so eifersüchtig.

»Wissen Sie, der Schah geht mich gar nichts an!« sagte der Graf. »Auf die Orientalen bin ich nicht eifersüchtig.«

»Gewiß, gewiß! Nein, nein!« rief der Rittmeister. Nie in seinem Leben hatte er sich in solch einer peniblen Situation befunden. Übrigens begann in ihm schon der stille Vorwurf zu nagen, daß er sich ja selbst in diese penible Situation gebracht hatte! Er spürte auf einmal die zudringliche Hitze der Kerzen, einen leuchtenden Wüstensturm, und die eigene Torheit, die ihm außerdem eine innere Hitze verursachte. Schon fing er zu schwitzen an, aus Angst hauptsächlich. Es mußte heraus, er konnte es nicht länger zurückhalten. Und in einem wahren Anfall von Attackengeist sprudelte er den Satz heraus: »Ich meine, man muß die Gräfin für eine Weile aus dem Saal retten!«

Der Graf, der eben noch so stumpf und fade dagesessen war, wurde rot im Gesicht. Ein böser Zorn verdunkelte seine hellen, blassen Äuglein. »Was erlauben Sie sich?« rief er. Taittinger blieb sitzen. »Bitte, mich ruhig anzuhören«, sagte er. Er nahm seine letzten Kräfte zusammen und fuhr fort: »Es handelt sich darum, die Ehre Ihrer Frau, Ihre, die Ehre all dieser Damen hier im Saal zu behüten. Der Herr aus Teheran darf heute der Gräfin keinesfalls mehr begegnen. Sehen Sie hin, wie er beutegierig durch den Saal wandelt. Er ist der Gast Seiner Majestät. Er ist ein gekröntes Haupt. Er ist auch ein politischer Gast. Seine Schamlosigkeiten können wir nur durch eine List abwenden. In einer halben, einer Viertelstunde«, der Rittmeister sah auf die Uhr, »ist alles geregelt. Ich beschwöre Sie, Graf, bleiben Sie ruhig, erlauben Sie mir, mit der Gräfin fünf Minuten zu sprechen.«

Der Graf setzte sich, kalt und wieder blaß, wie er von Natur war. »Ich werde sie holen!« sagte der Rittmeister.

Er erhob sich sofort, erleichtert und trotzdem Bangnis im Herzen.

Pulsuz fraqment bitdi. Davamını oxumaq istəyirsiniz?