Chronik von Eden

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Kapitel III - Sandra

Nach einer rasanten Fahrt durch menschenleere Straßen voller Autowracks und Müll kam Frank an die Auffahrt der Severinsbrücke. Er bremste den Wagen ab, schaltete erst die Musik aus, dann den Motor. Vor ihm schlängelte sich eine erstarrte Lawine aus Blech die Brücke entlang. In Richtung Außenbezirke war der Stau zwar größer und dichter, aber auch in Richtung Innenstadt hatten sich während der großen Panik einige Flüchtlinge verirrt. Eine Straßenbahn der Linie 4 stand mitten auf der Brücke. Frank sah Schemen hinter den staubigen Scheiben. Auf beiden Fahrbahnseiten der Brücke gab es reichlich Versteckmöglichkeiten für die Reanimierten.

Oder Ghoule?

Oder Zombies?

Der abkühlende Motor tickte leise, während Frank den vor ihm liegenden Weg ausspähte. In dem Mercedes, der direkt am Stauende der Brückenauffahrt stand, regte sich was. Das war Heinrich, wie Frank ihn bei einem seiner letzten Erkundungsausflüge getauft hatte. Zu Lebzeiten schon ein Hut- und Mantelfahrer, der seinen auf Hochglanz polierten und scheckheftgepflegten Wagen nur bei Sonnenschein ausführte, war Heinrich jetzt dazu verdammt, bis in alle Ewigkeit in seinem Liebling auszuharren.

Frank hatte während seiner Expeditionen allmählich erkannt, dass die Reanimierten zwar gefährlich, aber nicht sonderlich schnell oder helle im Kopf waren. Durch ihren Tod hatten sie offenbar viele Erinnerungen und einen großen Teil ihrer Feinmotorik eingebüßt. Gefährlich wurden sie, wenn man leichtsinnig wurde, oder sie in Scharen auftraten. Heinrich drehte sich in seinem Sitz so weit herum, dass er durch die Heckscheibe Frank in seinem Wagen sehen konnte. Heinrichs Mund öffnete sich, seine linke Hand griff verzweifelt nach dem frischen Stück Fleisch, das so nah, und doch unerreichbar fern für ihn war. Der obligatorische Wackeldackel, der sich den Platz auf der Hutablage mit einer umhäkelten Klopapierrolle teilte, nickte Frank versonnen zu.

Ja, das Leben konnte selbst nach dem Tod noch grausam sein. Man bekam eben nie das, was man verdiente oder sich sehnlichst wünschte.

Frank sah genauer hin. Heinrichs Hut hing sehr tief in dem eingefallenen Gesicht, dessen Haut wie altes Pergament über erschlafften Muskeln herabhing. Beim letzten Mal hatte er … irgendwie frischer gewirkt.

Verwesten die Viecher am Ende doch?

Wenn ja, so dauerte es aber länger, als Frank es für möglich gehalten hätte. Dreißig Tage dauerte der Kampf gegen die Grippe bereits an, als die ersten wandelnden Leichen gesichtet worden waren. Das war fast zwei Monate her. Wie lange brauchte eine Leiche, bis sie nur noch Matsch war? Oder würden sie irgendwann austrocknen, wie die alten Mumien ägyptischer Pharaonen? Würden sie dann endlich Ruhe geben?

Auf alle Fälle dauerte es zu lange.

Frank schnallte sich ab und verfluchte den Hersteller der Batterien. Eine hatte schon am ersten Tag des großen Stromausfalls den Geist aufgegeben. Die Zweite an jenem denkwürdigen Abend, den sich seine Tante für ihren Besuch bei ihm ausgesucht hatte. Nur die Dritte der ach so hochgelobten U-Boot-Batterien für den heimischen Solarstrom konnte er verwenden. Aber die Solaranlage auf dem Dach war zu schwach, sie vernünftig aufzuladen.

Deswegen saß er jetzt hier.

Wieder einmal.

Seine Tiefkühltruhen waren aufgetaut, die letzten der tiefgekühlten Lebensmittel endgültig verdorben. Er hatte nur noch Konserven, die er sich nicht einmal warm machen konnte, weil die Gaswerke auch nicht mehr arbeiteten, und er so dumm gewesen war, nur auf seine Solaranlage als Energieversorgung zu setzen. Seufzend zog er den Helm und die Schutzmaske aus. So gern Frank beides anbehalten hätte, aber der Helm verringerte sein Sichtfeld und dämpfte verdächtige Geräusche.

Das hatte er gelernt, als er vor zwei Wochen zum ersten Mal die Häuser in dieser Gegend nach Lebensmitteln oder brauchbarer Ausrüstung durchsucht hatte. Eines von diesen Dingern war aus einer offenen Wohnungstür direkt neben ihm herausgekommen. Frank hatte den Zombie im Hausmeisterkittel erst bemerkt, als dieser ihn von hinten mit einer Hand an der Schulter gepackt hatte, um sich ein Häppchen Frank zu genehmigen. Nach einem kurzen Gerangel war es Frank gelungen, den Untoten über das Treppengeländer zu stoßen. Bis zum Aufschlag auf Höhe der Kellertreppe blieb der Hut auf dem Kopf des Zombies, als sei er festgeklebt gewesen. Seitdem trug Frank den Helm nur noch, um bei einem eventuellen Autounfall während einer Expedition so gut wie irgend möglich abgesichert zu sein.

Mit einer fahrigen Bewegung strich er sich über seine kurz geschorenen Haare. Noch etwas, was er durch die kurze Begegnung mit Hausmeister Krause gelernt hatte. Sollte es zu einem Nahkampf mit einem von diesen Dingern kommen, wollte er verhindern, dass es sich in seinen Haaren festkrallen konnte. Die Zombies mochten vielleicht langsam sein, aber wenn sie einen erstmal zu packen bekamen, war es verflucht schwer, sie wieder loszuwerden.

Im Rückspiegel sah er die ersten Untoten aus ihren Verstecken kommen, angelockt durch den Lärm seines Wagens. Sie wankten unbeholfen, und nicht wenige der Ghoule krochen sogar auf abgenagten Beinstümpfen. Aber sie wirkten ebenso fest entschlossen wie eine Horde Hausfrauen auf der Jagd nach einem Schnäppchen beim Sommerschlussverkauf. Diesen kleinen Imbiss wollten sie sich auf keinen Fall entgehen lassen.

Frank stieg aus und ging vorsichtig zum Kofferraum des Wagens … und zuckte mit einem leisen Fluch zurück. Er stellte sich breitbeinig über den Arm, der an der Stoßstange hing, öffnete die Klappe und hievte eine Konstruktion heraus, die eine wirre Mischung aus Ghettoblaster und Lkw-Batterie war. Ächzend stellte er die Konstruktion auf den Boden. Die ersten wandelnden Leichen waren schon gefährlich nahe.

Frank kontrollierte noch einmal die Spannung der Batterie, prüfte den Ghettoblaster und die eingelegte CD. Dann stieg er schnell wieder ins Auto. Er fuhr den Wagen nur wenige Meter weiter in eine Seitenstraße und parkte ihn so, dass er seine Konstruktion gut im Auge behalten konnte. Dann holte er aus dem Handschuhfach eine Fernbedienung. Die ersten Ghoule wankten in der Nähe des Kastens herum. Sie suchten scheinbar nach Frank. Er hielt den Atem an und drückte auf die Fernbedienung. Die ersten Takte von Henry Mancinis Theme from a summer place wehten über die verlassene Straße.

Einkaufsmusik.

Aber seine Mutter hatte diesen Song geliebt.

Gebannt wartete Frank, ob sein Plan funktionieren würde.

Die Streicher setzten mit ihrem sanften Klang ein, und tatsächlich … die Ghoule hielten inne! Verwirrt schauten sie sich um, nicht wenige blickten hoch in den Himmel … und dann erstarrten sie.

Frank schluckte.

Die Dinger lauschten wahrhaftig der Musik! Einige schwankten sogar leicht hin und her, die Augen geschlossen … Gab ihnen die Musik etwa den Frieden, den sie im Leben nach dem Tod nicht finden konnten? Weitere der Wesen strömten heran, kamen aus Hauseingängen, aus Seitenstraßen und von der Brücke herunter, nur um plötzlich stehen zu bleiben, und der Musik zu lauschen.

Frank atmete tief durch. Jetzt kam es darauf an. Mit so einem durchschlagenden Erfolg seines Plans hatte er nicht gerechnet.

Ablenkung?

Ja.

Verzückung?

Niemals!

Egal! Das, was hier passierte, war wesentlich besser, als eine reine Ablenkung. Er griff nach seinen Waffen, öffnete leise die Fahrertür und stieg aus.

Keine Reaktion.

Er schloss so leise wie möglich die Autotür. Selbst die Zombies, die nahe genug waren, um ihn zu bemerken, schlurften wie Schlafwandler in Richtung der Musik, ohne ihn zu beachten. Langsam ging Frank auf die Einmündung der Straße zu, immer bereit, den sofortigen Rückzug anzutreten, wenn die Lage sich doch noch zuspitzen sollte. Jetzt hatten beinahe alle anwesenden Untoten die Köpfe in den Nacken gelegt und starrten in den hellen Sommerhimmel. Immer noch strömten weitere von ihnen auf die Straße, viele blieben einfach dort stehen, wo sie die Musik zum ersten Mal vernommen hatten. Sie sahen aus, als wären sie in einer verzückten Trance gefangen.

Frank schlich die nächste Seitenstraße entlang, weg von den erstarrten Zombies, zu der Schule, die während der Krise zu einem Lager der Noteinsatzkräfte umfunktioniert worden war. Er hatte sie während seiner letzten Expeditionen wegen ihrer Größe ebenso gemieden, wie das Einkaufscenter an der Kalker Hauptstraße, und sein Glück lieber in kleinen Häusern versucht. Ein Einkaufscenter machte sich vielleicht in Filmen als Versteck gut, aber im realen Leben war das seiner Meinung nach tödlicher Schwachsinn. Wie hätte er so ein großes Gebäude denn im Alleingang jemals ausreichend sichern können? Ein Einkaufsbummel in dem Center wäre für ihn zudem sinnlos gewesen, weil es dort keinen Camping- oder Outdoorshop gab. Alle anderen Lebensmittel, die dort vielleicht noch zu finden wären, waren bestimmt schon verdorben und Konserven hatte er genug. Damit würde er bei strenger Rationierung noch einige Zeit hinkommen. Was er aber benötigte, waren Batterien für sein altes Kofferradio und vielleicht einen kleinen Campingkocher. Er mochte zwar Eierravioli und mexikanischen Feuertopf aus der Dose, aber bitte etwas wärmer, als nur zwei Grad über der Betriebstemperatur eines herkömmlichen Speiseeises.

Also hatte er es zuerst in den Häusern der näheren Umgebung versucht. Vergeblich. Danach hatte er immer längere Wege auf sich genommen, und war zuletzt bis hierher nach Deutz gelangt. Aber egal wo er auch sein Glück versuchte, er fand keine brauchbare Ausrüstung. Jetzt blieb ihm nichts anderes übrig, als sich für das vermeintlich kleinere Übel der Schule zu entscheiden. Die Flure der umfunktionierten Schule waren bestimmt enger als die Gänge in einem Einkaufscenter, aber dort hoffte er auf größere Chancen, sich mit weiterer Ausrüstung eindecken zu können. Vielleicht fand er sogar ein paar der Notrationen, die die Bundeswehr ihren Männern für den Feldeinsatz mitgab, und die hier vor dem totalen Zusammenbruch an die Bevölkerung verteilt worden waren.

 

Er kam an die große Glasflügeltür der Schule. Dahinter herrschte trotz des hellen Tages nur Dämmerlicht. Er konnte keine verdächtige Bewegung entdecken.

Ein letzter Blick in die Runde.

Die Zombies lauschten am anderen Ende der Straße immer noch den Klängen der Musik. Hoffentlich wurden es nicht noch mehr, denn die Letzten in der Meute standen schon gefährlich nah an seinem Wagen. Er hätte ihn vielleicht doch weiter weg parken sollen. Vorsichtig zog er die Tür zum Hausflur der Schule auf und spähte in die geräumige Vorhalle. Links und rechts führten zwei Treppen in die oberen Stockwerke. Der Platz in der Mitte war frei, wenn man von dem Müll absah, der auf dem Boden herumlag. Das Licht von der Straße verlor sich in den Tiefen der Vorhalle. Überall waren Ecken und Nischen voller Schatten.

Verdammt!

Er hatte seine Taschenlampe vergessen!

Zurück?

Nein, das war keine Alternative.

Lauschen.

Nichts zu hören. Frank ging vorsichtig weiter, die Augen in ständiger Bewegung. Plötzlich krachte es hinter ihm.

Die Tür!

Er hatte sie zufallen lassen!

Frank wirbelte herum, sah etwas aus den Schatten auf sich zufliegen und ein Schlag erschütterte seinen Kopf. Seine Beine wurden schwach, Decke und Boden tauschten die Plätze und sein Blickfeld schrumpfte.

Dann war da nur noch gnädige Dunkelheit.

*

Zuerst war da nur ein dumpfes Pochen. Vergleichbar mit einer Horde Zwerge auf schlechtem Ecstasy, die sein Hirn malträtierten. Dann kam ein stechender Schmerz hinzu, der sich bis in die Rückseiten seiner Augäpfel bohrte. Sprengten die Zwerge da gerade neue Tunnel in seinen Kopf? Frank stöhnte auf. Auf seiner Zunge spürte er einen intensiv blauen Geschmack.

Blauer Geschmack?

Gehirnerschütterung.

Das musste es sein. Niemand konnte einen blauen Geschmack auf der Zunge haben. Erinnerungen wehten als Nebelfetzen durch sein Denken, wollten die Sicht auf die vagen Schatten dahinter nicht freigeben. Dann die jähe Erkenntnis.

Er war unterwegs!

Er war angefallen worden!

Ein entsetztes Wimmern kroch seinen Hals empor, ein Laut der Angst, den schon seine Vorfahren in der Steinzeit von sich gegeben haben mussten, wenn ihnen ein Säbelzahntiger über den Weg gelaufen war. So schnell er konnte rappelte er sich auf die Knie, die wässrige Schwere seiner Arme und Beine ignorierend, die Zwerge in seinem Kopf verfluchend. War er etwa jetzt einer von ihnen? Fühlte man sich so, wenn man reanimiert worden war?

»Hübsch langsam, mein Freund«, erklang eine helle Stimme neben ihm. Langsam drehte er den Kopf und sah im Dämmerlicht zwei schlanke Beine in dunklen Hosen und abgewetzten Lederstiefeln. Sein Blick wanderte langsam höher. Eine schmale Taille, darüber ein ebenfalls schwarzes T-Shirt, das oberhalb eines flachen Bauches eindeutig gut gefüllt war. Zwischen der üppigen Füllung des Shirts glotzte ihn das dunkle Auge seiner eigenen Maschinenpistole an.

»Wenn du kotzen willst, dann mach es jetzt und hier. Oben sind zwar Toiletten, aber die Spülkästen sind leer.«

Aus einer dichten Mähne feuerroten Haares blitzten zwei katzengrüne Augen auf. Sommersprossen tanzten auf milchig blasser Haut um eine gerümpfte Nase.

»Ich bin keiner von denen.« Frank erkannte seine eigene Stimme nicht wieder. »Könntest du also bitte das Ding in irgendeine andere Richtung halten?«

»Wenn du einer von denen wärst, wäre dein Gehirn gerade auf dem Weg in einen geostationären Orbit.«

»Und warum dann das da?« Frank deutete betont langsam auf die Waffe. Nur keine falsche Hektik an den Tag legen!

»Du könntest ein Plünderer sein.«

»Plünderer? Ich? Ich bin ein Überlebender auf der Suche nach Ausrüstung und Essen.«

Die Rothaarige nickte.

»Sag ich doch. Ein Plünderer. Wo sind deine Kumpane?«

»Ich habe keine Kumpane. Ich bin alleine.«

Die Frau schien nicht sonderlich überzeugt zu sein. Langsam trat sie einen Schritt zurück, die Waffe immer noch auf Franks Kopf gerichtet.

»Und was sollte das Open Air da draußen? Wolltest du von diesen Dingern etwa Eintritt verlangen?«

»Nein. Ich habe festgestellt, dass sie vor allem auf Geräusche und Bewegung reagieren. Geräusche scheinen aber einen größeren Reiz auf sie auszuüben. Deswegen die Musik. Ich wollte sie ablenken.«

Ein leises Lachen.

»Und da hattest du nix besseres im Repertoire, als diese dünnbrüstige Einkaufsmucke? Nix Härteres? AC/DC oder Iron Maiden vielleicht?«

»Es war eines der Lieblingslieder meiner Mutter.«

»Oh!«

»Darf ich aufstehen?«

Die Frau zögerte. Dann nickte sie und ließ die Waffe sinken. Nur ein wenig, aber immerhin ein Anfang. Frank stand auf und verzog das Gesicht. Die Zwerge in seinem Kopf legten eine Extraschicht ein.

»Ich bin Frank. Frank Martinsen.«

»Sandra.«

Frank neigte fragend den Kopf.

»Einfach nur Sandra?«

»Willst du mich etwa heiraten und machst dir Sorgen um deinen neuen Nachnamen?«

»Nein, nat...«

»Also«, fuhr ihm Sandra ins Wort. »Ich Sandra, du Frank. Ende der Vorstellung.«

Frank sah sie jetzt etwas besser, obwohl das Licht, das durch die Fenster einfiel, nur sehr schwach war. Sandra schien höchstens Mitte zwanzig zu sein, und hatte eine verdammt aufregende Figur. Erst jetzt bemerkte er, dass sie immer noch im Hausflur der ehemaligen Berufsschule waren. Draußen wurde es allmählich dunkel und …

Dunkel?

Wo war die Musik?

»Wie lange war ich weg?«

»Gut und gerne vier bis fünf Stunden. Warum?«

»Wann ist die Musik ausgegangen?«

»Zehn Minuten, nachdem ich dir einen technischen Knock-out verpasst habe. Ich habe das Gedudel beendet.«

Frank schluckte.

»Wie?«

Sandra grinste schief und hob die Waffe leicht an.

»Scheiße!«, rief Frank. »Wie sollen wir hier ohne Probleme rauskommen? Hast du darüber mal nachgedacht?«

»Hast du mal darüber nachgedacht, dass du nicht der Einzige auf der Suche nach Futter bist? Deine Scheißmusik konnte man bis auf die andere Rheinseite hören. Bist wohl doch ein Plünderer, und wolltest deine Kumpel herlotsen!«

Die Waffe ruckte wieder hoch. Frank hob langsam die Hände.

»Sandra, ich bin kein Plünderer. Ich habe ein Haus in Ostheim. Vor diesem ganzen Mist habe ich es so gut es ging gesichert, eine dicke Solaranlage auf dem Dach und im Keller drei verfluchte Batterien, die den Geist aufgegeben haben. Meine Tiefkühltruhen sind aufgetaut. Deswegen bin ich hier. Ich suche Vorräte, um diese ganze Sache irgendwie zu überstehen.«

»Ah ja. Und deine beiden Zimmerflaks hatte der Aldi letzten Monat im Angebot, nicht wahr? Ach nein! Das war ja der Baumarkt, der die Dinger plötzlich in seinem Sortiment führte.«

Frank atmete tief durch. Adrenalin pumpte heißkalt durch seine Adern. Ein unangenehmes Kribbeln hatte sich in seinem Bauch festgesetzt.

»Die Waffen habe ich einem Polizisten abgenommen.« Sandra hob die Augenbrauen, senkte die Waffe aber nicht. »Er war schon tot. Oder untot. Wie auch immer.«

»Aha. Hast du ihm denn was von Roger Whittaker vorgeträllert, oder hast du lieber zu einem Hit von James Last gegriffen, damit du an ihn rankommen konntest?«

»Weder noch. Er torkelte stundenlang um mein Haus herum. Sein rechter Arm war …« Frank schluckte, bevor er fortfuhr.

»Ich habe mich von einem Fenster aus auf die Lauer gelegt, und ihm mit einer Druckluftnagelpistole eine in den Schädel verpasst.«

»Du hast ihn also festgenagelt?«

»So ungefähr. Ja.«

Langsam sank die Mündung der Maschinenpistole nach unten. Sandra schien immer noch skeptisch, aber ihre Feindseligkeit wich einer großen Müdigkeit.

»Ich hänge hier drin schon seit drei Wochen fest. Du bist der erste Normale, den ich treffe. Wenn du ein Plünderer wärst … « Sie ließ den Satz unvollendet und zuckte nur mit den Schultern.

»Und wie machen wir jetzt weiter?«, fragte Frank.

Sandra schulterte die Waffe, und ihr Zeigefinger deutete wie ein Dolch auf Franks Brust.

»Regel Nummer Eins: Auch wenn ich ziemlich pralle Möpse habe, kann ich mich wehren. Gucken darfst du, wenn´s nicht zu aufdringlich wird. Anfassen kostet dich mindestens einen Finger.« Frank nickte nur. »Regel Nummer Zwei: Hier bin ich der Boss. Du bist nur zu Besuch. Regel Nummer Drei: Wenn du gebissen wirst oder sonst irgendeine Scheiße versuchst, male ich mit deinem Spatzenhirn ein Rohrschachtmuster auf die nächstbeste Tapete.«

Frank deutete auf seine erbeutete Dienstwaffe, die in Sandras Hosenbund steckte.

»Bekomme ich die wenigstens zurück?«

Sandra schnaubte ein Lachen.

»Vergiss es. Und jetzt komm mit nach oben. Wenn es dunkel wird, sind die da draußen besonders gefährlich.«

Ohne ein weiteres Wort abzuwarten, ging sie voraus und die breiten Treppen nach oben. Frank zögerte noch einen Moment, dann folgte er ihr mit einem tiefen Seufzen.

Kapitel IV - Belagert

Sie erreichten den ersten Treppenabsatz, als Frank ein Gedanke kam.

»Sag mal, willst du die Tür da unten nicht sichern?«

»Wofür«, sagte Sandra über die Schulter hinweg, ohne stehen zu bleiben.

»Diese Dinger könnten hier reinkommen!«

Sandra blieb stehen, und sah ihn über die Schulter mit dem pädagogisch geschulten Blick einer Lehrerin an, die es mit einem besonders begriffsstutzigen Exemplar der Gattung hohle Nuss zu tun hatte.

»Das da unten ist eine Paniktür.«

»Ja und?«

»Wie geht eine Paniktür im Notfall auf?«

»Nach außen, zur Straße hin.«

»Na bitte. Hast du jemals eines von diesen Dingern gesehen, das sich rückwärts bewegte? Die kennen nur eine Richtung. Vorwärts, immer dem Frischfleisch entgegen.«

Frank spürte, wie ihm das Blut ins Gesicht schoss. Glücklicherweise war es im Hausflur dämmerig. Aber er wollte dennoch nicht wie ein kompletter Trottel dastehen.

»Sie könnten lernen.«

»Ja. Und wenn ein Schwein Flügel hätte, würde es im Herbst nach Süden fliegen.« Kopfschüttelnd ging Sandra weiter. »Am nächsten Absatz bleibst du hinter mir stehen und wartest.«

Frank atmete tief durch und folgte Sandras Anweisung. Sie stand etwa zwei Stufen unter dem nächsten Absatz und fingerte an einem eiförmigen Gebilde, das mit Klebeband an einer Stange des Geländers festgeklebt war. Frank sah einen Draht aufblitzen, und er wusste plötzlich, was sie da tat.

»Okay, weiter geht’s. Warte da vorne. Ich sichere die Treppe wieder.«

Frank ging an ihr vorbei. Dann kam Sandra die letzten Stufen hoch, ging in die Hocke. Mit geschickten Fingern befestigte sie den Draht wieder am Abzugsring der Handgranate.

»Warst du beim Militär?«, fragte er, und hoffte, dass Zittern in seiner Stimme würde ihr nicht auffallen.

»Nein. Ich habe alle Rambofilme gesehen.«

Frank beschloss, ihr keine weiteren Fragen zu stellen. Auch wenn es ihm nicht gefiel, keine Kontrolle über die Situation zu haben, blieb ihm keine andere Wahl. Sie hatte seine Waffen, draußen wurde es dunkel und er war hier gefangen. Zumindest bis morgen.

Ohne ein weiteres Wort ging Sandra den Korridor entlang. Alle Türen standen offen. Offenbar hatte Sandra sie geöffnet, damit das Tageslicht aus den ehemaligen Klassenzimmern den Gang beleuchtete. Frank sah im Vorbeigehen in die ehemaligen Schulklassen, die man zu Laboratorien und Krankenzimmern umfunktioniert hatte. Sandra entschärfte auf ihrem Weg zwei weitere Sprengfallen, bevor sie an eine Kreuzung des Korridors kamen und sich links hielten. Sie deutete mit dem Daumen hinter sich.

»Da runter sind die Waschräume und die Toiletten. Nimm aber einen Eimer und kipp es aus dem Fenster. Ich habe keine Lust, hier drin zu ersticken.«

Am Ende des Korridors führte sie Frank in ein Klassenzimmer. Mehrere Betten standen an der langen Wand gegenüber den Fenstern. An der Schmalseite des Raumes, gegenüber der Wand mit der Schiefertafel, stapelten sich mehrere Kisten, in denen sich laut Beschriftung Notrationen befanden, sowie ein kleiner Tank für Frischwasser. Sandra setzte sich seufzend auf eines der Betten. Sie legte Franks Maschinenpistole über ihre Knie, rutschte bis zum Kopfende des Bettes hoch, und machte es sich bequem. Ihr Kopf lehnte an der Wand. Sie starrte nachdenklich die Decke an.

 

»Fühl dich wie daheim. Wenn du Hunger oder Durst hast, bedien dich. Morgen früh entscheiden wir, wie es mit dir weitergeht.«

»Hast du keine Angst, dass ich im Dunkeln über dich herfalle? Immerhin bin ich doch ein Wildfremder. Und wahrscheinlich ein Plünderer noch dazu!«

Sandra senkte ihren Blick und grinste ihn müde an.

»Wenn du wirklich etwas im Schilde führen würdest, hättest du längst was in diese Richtung versucht. Außerdem wirkst du auf mich eher … hm … hilflos, sobald du einer starken Frau gegenüberstehst.« Sie zwinkerte ihm zu.

»Danke.«

»Gern geschehen.«

Frank suchte sich eine Notration aus und setzte sich auf das Bett neben Sandra.

»Was hast du vor dieser ganzen Sache gemacht?«, fragte er kauend.

»Soll das ein Smalltalk wie bei einem Blind Date werden?«

»Naja, immerhin bin ich bis morgen früh dein Gast. Warum sollten wir uns nicht besser kennenlernen, bevor wir entscheiden, wie es weitergeht?«

»Willst du zurück in dein Haus?«

»Ja. Da fühle ich mich irgendwie sicherer. Nur das Problem mit den Vorräten hat mich da rausgeholt. Ich habe zwar eine gute Solaranlage auf dem Dach, aber die Speicherbatterien sind nicht ganz das, was die Herstellerangaben versprochen haben. Meine Tiefkühltruhen sind aufgetaut, und kalte Konserven sind auf Dauer auch nicht das Wahre.«

»Ich fühle mich hier sicherer. Dieses Gebäude ist groß genug, dass ich im schlimmsten Fall abhauen oder mich verstecken kann. Ein Haus wäre mir zu klein.«

Frank wühlte in dem Paket der Notration herum und fand einen Schokoriegel. Er beugte sich zur Seite und hielt ihn Sandra hin. Lächelnd nahm sie ihn an.

»Ganz Kavalier der alten Schule, nicht wahr? Was hast du vorher gemacht?«

»Ich bin eigentlich Diplom Ingenieur. Nach meinem Studium bin ich in die Entwicklungsabteilung eines Autoherstellers gegangen, und von da aus als Boxenmechaniker in das Werksteam für die DTM.«

»Ein hochqualifizierter Mann, der lieber KFZ-Mechaniker an Rennautos spielt, anstatt die dicke Kohle einzuheimsen?«

»So toll verdient man als diplomierter Ingenieur auch nicht. Das Angebot des Rennstalls war da schon um einiges besser. Und was hast du gemacht, bevor das alles hier passierte?«

Sandra druckste herum.

»Meistens Filme.«

»Du warst Schauspielerin?«

Sandra seufzte. Täuschte Frank sich, oder wurde sie etwa verlegen?

»Eher eine Darstellerin.«

»In welchen Filmen warst du denn dabei?«

»Keine, die du kennst.«

»Meinst du?«

»Ja. Es waren Erwachsenenfilme, in denen ich mitgespielt habe. Die von der Sorte, die du ohne Ausweis in der Videothek nicht ausleihen darfst.«

»Oh!«

Sandra sah auf und in ihren Augen funkelte Zorn.

»Mach nicht OH, als wäre das etwas Ansteckendes. Ich habe gutes Geld verdient, und solche verklemmten Typen wie du konnten sich dafür unter der Bettdecke einen aus der Leiste hobeln, wenn sie gerade keine Frau zur Hand hatten. Und nur damit du es weißt: Es läuft nichts, mein Freund. Noch habe ich die Knarren, also bilde dir nichts ein, klar?«

Frank sah betreten auf seine Hände. Schweigen legte sich zwischen die beiden. Eine Stille, in der eine gehörige Portion Peinlichkeit mitschwang. Sie waren zwei Menschen, die durch äußere Einflüsse aneinandergekettet worden waren. Unter normalen Umständen wären sie sich vielleicht niemals begegnet. Und wenn doch, so wären sie beide einfach aneinander vorbeigegangen, ohne den jeweils anderen zu bemerken. Frank verkniff sich die naheliegende Frage, wie Sandra denn ausgerechnet in dieses Gewerbe geraten war. Allmählich wurde es draußen dunkler. Vereinzeltes Stöhnen drang durch die Fenster nach oben.

»´tschuldige«, murmelte Sandra und stand auf. »Ich wollte dich nicht beleidigen.« Sie ging zum Fenster. Frank stand auf und stellte sich hinter sie.

»Du hast mich nicht beleidigt. Wenn ich deine Filme gekannt hätte … nun … meine Reaktion auf deine Darstellungen wäre bestimmt angemessen gewesen.«

Sandra sah ihn über die Schulter an. Im Licht der untergehenden Sonne schienen ihre Haare Flammen gleich um ihr Gesicht zu lodern.

»Angemessen?«

Frank grinste.

»Ich bin ein Mann. Ein total triebgesteuertes Wesen eben.«

Sandra lächelte. Mit einer lässigen Geste schubste sie ihn an der Schulter.

»Ferkel. So etwas erzählt man einer Frau nicht.«

Frank setzte zu einer Erwiderung an, als er einen Schatten bemerkte, der über die dunkle Straße huschte.

»Was war das?«

Sandra folgte seinem Blick.

»Das war einer von ihnen. Ich sagte doch schon, dass sie im Dunkeln sauschnell werden.«

Frank schluckte.

»Ich habe daheim abends alle Fenster verriegelt und die Rollos heruntergelassen, damit sie das Licht nicht sehen. Ich wusste nicht, dass sie nachts so schnell sind.«

Frank bemerkte, dass er ziemlich nah an Sandra herangekommen war. Er sehnte sich nach einer weiteren Geste, einer weiteren Berührung durch ein anderes menschliches Wesen. Er hatte die Hand schon erhoben, wollte sie freundschaftlich auf ihre Schulter legen, ließ sie dann aber sinken. Diese einfache Geste des Trostes und Zusammenhalts könnte sie falsch auslegen.

»Weißt du, wo die Soldaten und Einsatzkräfte sind, die hier stationiert waren?«, fragte er. Sandra wandte sich wieder dem Fenster zu.

»Als ich hier ankam, waren schon alle weg. Ich bin mit einem Trupp anderer Flüchtlinge von der anderen Rheinseite bis zum Deutzer Bahnhof gekommen. Dort … « Sie stockte. Ihr Blick schien in eine weite Ferne zu gleiten. »Der letzte Zug war schon weg. Wir waren etwa vierzig Leute und wir beschlossen, am nächsten Tag die Gleise entlang unser Glück zu versuchen. Wir hatten zwar gehört, dass hier noch ein intaktes Notlager der Einsatzkräfte sein sollte, aber sicher war keiner von uns. Die Informationen über sichere Zonen und was die Einsatzkräfte planten oder taten, tröpfelten nur spärlich nach unten zu uns. Jeder wusste was anderes zu berichten und keiner war sich sicher, ob diese Meldungen überhaupt stimmten, oder einfach nur verzweifelte Gerüchte waren.

Es war Nacht, wir hatten uns in der Halle zusammengesetzt und Wachen an den Eingängen aufgestellt. Es wurde dunkel. Dann kamen ganze drei Stück von denen da draußen. Sie müssen über die Gleise in den Bahnhof, und schließlich in die große Halle gelangt sein.

Nur drei von ihnen.

Aber das reichte aus.

Vollkommen.

Es war ein einziges Chaos aus Blut und Schreien und Angst. So schnell, wie die meisten in ihren Blutlachen starben, so schnell standen sie auch wieder auf. Ich habe nur noch die Beine in die Hand genommen und bin gelaufen. Einfach nur gelaufen, ohne auch nur einen einzigen Blick zurückzuwerfen.

Das Gerücht über das Notlager stimmte. Aber als ich endlich hier ankam, war es verlassen. Keine Soldaten, keine Ärzte, keine Hilfe. Netterweise haben sie aber vor ihrem Abzug alle Zugänge verriegelt. Bis auf den Haupteingang unten. Als ich hier ankam, war das Gebäude frei von … denen da draußen. Das Letzte was ich gehört habe war, dass sich alle Einsatzkräfte nach Bonn zurückziehen mussten. Köln gilt wohl als verloren.«

»Du bist ganz schön mutig.«

»Findest du?«

»Ja. Ich hätte es hier niemals so lange alleine ausgehalten. Von deiner Flucht mal ganz abgesehen.«

»Allein zu sein macht mir nichts aus. Die Ungewissheit, was da draußen in der Welt vor sich geht, ist viel schlimmer für mich.«

Frank beschloss, das Thema zu wechseln. Es gab Wichtigeres zu besprechen, als die Vergangenheit. Sie waren hier, sie lebten, und alles andere zählte vorerst nicht.

»Hm … ich gebe es nur ungern zu, aber beim Ausbau meines Hauses zu einer Festung habe ich tatsächlich vergessen, mir ein Funkgerät zu besorgen. Ich war vollkommen abgeschnitten. Ohne Strom eben kein Fernsehen oder Radio. Hast du hier vielleicht eines? Oder ein Funkgerät? Dann könnten wir versuchen, etwas über die aktuelle Lage herauszufinden.«