Sozialstruktur und sozialer Wandel in Deutschland

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Sozialstruktur und sozialer Wandel in Deutschland
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Bernhard Schäfers

Sozialstruktur und sozialer Wandel in Deutschland

9., völlig überarbeitete Auflage

UVK Verlagsgesellschaft mbH · Konstanz mit UVK/Lucius · München

Bernhard Schäfers ist emeritierter Professor der Soziologie an der Universität Karlsruhe (jetzt KIT)

Online-Angebote oder elektronische Ausgaben sind erhältlich unter www.utb-shop.de.

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten

sind im Internet über <http://dnb.ddb.de> abrufbar.

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede

Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne

Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für

Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und

Verarbeitung in elektronischen Systemen.

8. Auflage: © Lucius & Lucius Verlagsgesellschaft mbH, Stuttgart 2004

9. Auflage: © UVK Verlagsgesellschaft mbH, Konstanz und München 2012

Einbandgestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart

Lektorat: Claudia Hangen, Hamburg

Satz und Layout: Claudia Wild, Konstanz

UVK Verlagsgesellschaft mbH

Schützenstr. 24 · D-78462 Konstanz

Tel.: 07531-9053-0 · Fax 07531-9053-98

www.uvk.de

UTB-Band Nr. 2186

ISBN 978-3-84633-827-8

eBook-Herstellung und Auslieferung:

Brockhaus Commission, Kornwestheim

www.brocom.de

Vorwort zur neunten Auflage

Das in neunter Auflage vorgelegte Studienbuch zur Sozialstruktur und zum sozialen Wandel Deutschlands erschien erstmals im Jahr 1976. Jede Neubearbeitung spiegelt den stattgehabten sozialen und kulturellen Wandel. Hatten die Ausgaben nach 1990 die Auswirkungen der unverhofften Vereinigung der beiden deutschen Staaten zu berücksichtigen, so ist seit den letzten Bearbeitungen hervorzuheben, in welchem Umfang die digitale Revolution mit ihren neuen Kommunikations- und Informationsmöglichkeiten alle Bereiche der Sozialstruktur verändert, und zwar viel schneller als prognostiziert wurde.

So zeigt sich abermals: Prognosen über die gesellschaftliche Entwicklung können allenfalls mögliche Pfade beschreiben, nicht aber den Wandel, wie er sich ereignet und sich auf das soziale Handeln und die Institutionen auswirkt. Relativ stabil waren hingegen Voraussagen im Hinblick auf die Bevölkerungsentwicklung seit den 1970er Jahren; sie führten jedoch auf keinem Gebiet zu konsequentem politischem Handeln. Der jetzige Zustand der Gesellschaft resultiert daher auch aus der Anhäufung nicht erledigter Aufgaben aus der Vergangenheit. Die wachsende Verflechtung der deutschen Gesellschaft mit der Europäischen Union und ihren gegenwärtig 27 Mitgliedsstaaten schafft einen zusätzlichen Problemstau, wie in mehreren Kapiteln des Bandes deutlich wird, öffnet aber zugleich Perspektiven für die Zukunft.

Bewährte didaktische Prinzipien wurden beibehalten. Großes Gewicht wird auf die Definition relevanter Begriffe gelegt, auch auf ihren Zusammenhang mit soziologischen, politologischen und ökonomischen Theorien. Begriffe und wichtige Sachverhalte werden kursiv hervorgehoben; das ausführliche Sachregister lässt sie leicht auffinden. Am Ende eines jeden Kapitels findet sich das Literaturverzeichnis für den Themenbereich. Verweise auf Internetadressen erfolgen im Text selbst. Die für die Empirie wichtigsten Grundlagen werden im ersten Kapitel genannt.

Für Hilfen bei der Textgestaltung danke ich meiner Frau Christa, Herrn Gerd Tehler in Münster und Herrn Alexander Hercht M. A., gegenwärtig Promovent im Fach Geschichte an der Universität Konstanz. Die freundliche Unterstützung von Frau Sonja Rothländer M. A., Lektorin im UVK-Verlag, in allen Arbeitsphasen, war unentbehrlich wie auch die kritische Durchsicht des gesamten Textes durch Frau Dr. Claudia Hangen.


Karlsruhe, im Juni 2012Bernhard Schäfers

Inhaltsübersicht *

Verzeichnis der Tabellen

Verzeichnis der Abbildungen

Abkürzungen

Kapitel I

Gesellschaft, Sozialstruktur und sozialer Wandel

Kapitel II

Gründung und Grundlagen des bundesrepublikanischen Staats- und Gesellschaftssystems

Kapitel III

Vereinigungsprozess. Seitherige Entwicklung

Kapitel IV

Bevölkerungsstruktur. Wanderungen. Ausländer und Integration

Kapitel V

Familie, Ehe und Lebensgemeinschaften

Kapitel VI

Elemente des kulturellen Systems: Bildung, Religion, Netzwerke und Medienkultur

Kapitel VII

Struktur und Wandel des politischen Systems

Kapitel VIII

Grundlagen und Wandel des Wirtschaftssystems

Kapitel IX

Struktur und Wandel des Sozialstaats

Kapitel X

Soziale Ungleichheit. Wandel der Klassen- und Schichtungsstruktur

Kapitel XI

Wandel der Siedlungsstruktur, Städte und Wohnverhältnisse

Kapitel XII

Deutschland in Europa

Sachregister

* Ein ausführliches Inhaltsverzeichnis findet sich vor dem jeweiligen Kapitel

Verzeichnis der Tabellen

Nr. Inhalt der Tabellen

1 Bevölkerungsentwicklung in Deutschland 1871–2009 in Mio.

2 Einwohner der Länder/Stadtstaaten in Mio. 2009; Größe in qkm

3 Entwicklung der Altersstruktur. Jugend- und Altenquotienten

4 Ausländische Arbeitnehmer nach ausgewählten Herkunftsländern

5 Ausländische Wohnbevölkerung am 31.12.2010

6 Personen je Haushalt nach Gemeindegröße 2010

 

7 Durchschnittliche Haushaltsgrößen/Anteil der Einpersonenhaushalte 2010

8 Lebensformen der Bevölkerung

9 Familien mit Kindern unter 18 Jahren 1996 und 2010

10 Erwerbsquoten von Müttern und Vätern 2009

11 Kinder unter 3 bzw. 6 Jahren 2010 in Kindertagesbetreuung

12 Austritte aus der evangelischen und der katholischen Kirche

13 Internetaktivitäten im Jahr 2010

14 Mitgliederentwicklung bei SPD und CDU 1950–2007

15 Mitgliedschaft bei CSU, FDP, Die Grünen, Die Linke 2009

16 Wahlen zum deutschen Bundestag seit 1998

17 Bundestagswahl/Zweitstimmen 2009 nach Berufsgruppen

18 Bevölkerung und Struktur des Arbeitsmarktes 1991–2010

19 Erwerbstätige nach Stellung im Beruf 1950–2010

20 Berufliche Stellung von Frauen mit und ohne Migrationshintergrund

21 Anteile der Erwerbstätigen in den Produktionssektoren seit 1950

22 Beiträge der Wirtschaftsbereiche zum BIP

23 Entwicklung der Arbeiterschaft 1882–2010

24 Anteile der Selbstständigen und mithelfenden Familienangehörigen an den Erwerbspersonen 1881–2010

25 Registrierte Arbeitslose seit 1950

26 Frauenanteile in Spitzenpositionen verschiedener Institutionen

27 Schichtung der Bevölkerung nach relativen Einkommenspositionen

28 Betroffenheit von Armut nach verschiedenen Kriterien

29 Hartz IV-Empfänger mit Kindern in den Bundesländern

30 Subjektive Schichtzugehörigkeit 1990 und 2010

31 Städtewachstum in der Hochindustrialisierungsphase

32 Zahl der Gemeinden über 20 Tsd. Einwohner

33 Entwicklung des Kraftfahrzeugbestandes seit 1950

34 Einteilung des Bundesgebietes in siedlungsstrukturelle Typen

35 Wohnqualität in einigen europäischen Ländern

36 Museumsarten und Zahl der Besuche im Jahr 2009

37 Fläche und Bevölkerung in den 27 EU-Staaten im Jahr 2010

38 Personalbestand der EU-Organe im Jahr 2011

Verzeichnis der Abbildungen

Nr. Inhalt der Abbildungen

1 Altersaufbau und Migrationshintergrund der Bevölkerung

2 Zu- und Fortzüge in Deutschland 1994 bis 2000

3 Das Bildungswesen in Deutschland

4 Drei Säulen des Systems sozialer Sicherheit

5 Haushalte mit Bezug von Wohngeld

Abkürzungen


BRDBundesrepublik Deutschland. Diese Abkürzung ist nicht amtlich
BVerfGEBundesverfassungsgerichtsentscheidungen
DDRDeutsche Demokratische Republik
et al.et alii (lat.) und andere
GGGrundgesetz
i. d. R.in der Regel
i. e. S.im engeren Sinn
KZfSSKölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie
rdeRowohlts deutsche Enzyklopädie
St. Jb.Statistisches Jahrbuch für die Bundesrepublik Deutschland
stwsuhrkamp taschenbuch wissenschaft
u.ö.und öfter (bei Auflagen von Büchern)
w.u.weiter unten
z. T.zum Teil
Hist. Lex.Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, hrsg. v. Otto Brunner, Werner Conze, Reinhart Koselleck, Stuttgart 1972 ff. (alle Bände in neueren Auflagen)
Hist. Wb.Historisches Wörterbuch der Philosophie, Hrsg. Joachim Ritter et al., der Phil. Basel 1971 ff. (alle Bände in neueren Auflagen)

Kapitel I

Gesellschaft, Sozialstruktur und sozialer Wandel

1.Begriffe. Empirische Grundlagen

1.1 Gesellschaft – Vergesellschaftung – Vergemeinschaftung

1.2 Gesellschaft im soziologischen Verständnis

1.3 Sozialstruktur und Sozialstrukturanalyse

1.4 Empirische Grundlagen

2.Theoretische Ansätze der Sozialstrukturanalyse

3.Sachdominanz, Raum und Zeit als Elemente der Sozialstruktur

4.Theorien und Trends des sozialen Wandels

4.1 Definition und theoretische Ansätze

4.2 Theorie der gesellschaftlichen Mobilisierung und Modernisierung

4.3 Sozialer Wandel im Strukturfunktionalismus

4.4 Kultur und Wertideen als Quellen des Wandels

5.Globalisierung als Quelle des Strukturwandels

Literatur

1. Begriffe. Empirische Grundlagen

1.1 Gesellschaft – Vergesellschaftung – Vergemeinschaftung

Beim Begriff Gesellschaft* besteht die Gefahr, ihn vorschnell zu objektivieren und als real leicht nachweisbar anzusehen. Bereits Georg Simmel (1858–1918) hatte davor gewarnt. Seinem Werk »Soziologie« stellte er einen Exkurs voran: »Wie ist Gesellschaft möglich«? (1908/1968 : 21–30)**. Gesellschaft ist nach Simmel nicht nur die Summe der vergesellschafteten Individuen, von den sozialen Gruppen bis zu komplexen Organisationen und dem Staat, sondern zugleich die Summe aller möglichen Wechselwirkungen, die daraus entstehen können.

Gesellschaft ist auch im Alltagsverständnis ein vielschichtiger Begriff, der von der Tischgesellschaft bis zur Reisegesellschaft, von der Gesellschaft der Musikfreunde bis zur Aktiengesellschaft reicht. Die Verbundenheit oft sehr unterschiedlicher Personen mit einem bestimmten Zweck, ob kurz- oder langfristig, ist entscheidend. Das besagt auch der Wortursprung. Danach bedeutet Gesellschaft »den Inbegriff räumlich vereint lebender oder vorübergehend auf einem Raum vereinter Personen«, so der Soziologe und Begründer der Schichtungssoziologie Theodor Geiger (1891–1952) im ersten deutschsprachigen »Handwörterbuch der Soziologie« (1931/1957).

Für die Geschichte des Gesellschaftsbegriffs ist bis heute die griechisch-römische Tradition wegweisend (einen Überblick gibt Riedel 1975). In allen Etappen der europäisch-abendländischen Geschichte blieb bewusst, was Platon (428–348) und Aristoteles (384–322) in ihren Werken über Staat und Gesellschaft ausführten. Der Mensch »ist von Natur ein nach der staatlichen Gemeinschaft strebendes Wesen« (Aristoteles, Politik, 1278 b), aber erst die Polis, der griechische Stadtstaat, lässt seine Anlagen im Zusammenspiel mit den Aktivitäten anderer Menschen zur Entfaltung kommen. Die Bürger sind zur Selbstverwaltung aufgerufen. Der Staat sorgt vor allem für den Schutz der Bürger nach innen und außen in einem territorial klar definierten Gemeinwesen.

Diese Gemeinwesen sind heute komplexe, nationalstaatlich verfasste Gesellschaften. In soziologischer Perspektive sind zwei Begriffe hilfreich: Vergemeinschaftung und Vergesellschaftung. In der Vielfalt ihrer Formen und in ihren Wechselwirkungen spiegelt sich die Lebenswirklichkeit der vergesellschafteten Individuen. Vergemeinschaftung und Vergesellschaftung sind Begriffe, die der wohl bekannteste deutsche Soziologe, Max Weber (1864–1920), im Anschluss an ein frühes Hauptwerk der deutschen Soziologie, Ferdinand Tönnies’ »Gemeinschaft und Gesellschaft« (zuerst 1887), bildete.

»›Vergemeinschaftung‹ soll eine soziale Beziehung heißen, wenn und soweit die Einstellung des sozialen Handelns (…) auf subjektiv gefühlter (affektueller oder traditionaler) Zusammengehörigkeit der Beteiligten beruht. ›Vergesellschaftung‹ soll eine soziale Beziehung heißen, wenn und soweit die Einstellung des sozialen Handelns auf rational (wert- oder zweckrational) motiviertem Interessenausgleich oder auf ebenso motivierter Interessenverbindung besteht« (Weber 2002 : 694 f.).

Vergemeinschaftung umfasst also alle Formen des sozialen Handelns, die auf persönlicher Nähe, Bekanntschaft und Vertrautheit beruhen. Neben der Familie, Verwandtschaft und Nachbarschaft ist die Mehrzahl der sozialen Gruppen zu nennen. Es gibt ein ausgeprägtes Wir-Gefühl, das Du als Anrede ist vorherrschend.

Vergesellschaftung setzt die weitgehende personale Anonymisierung der sozialen Strukturen und ein funktionales Rollenverständnis voraus. Es basiert auf der Trennung von Familie/Haushalt und Arbeitsplatz, von Arbeit und Freizeit, von Privatheit und Öffentlichkeit. Das Sie gehört zur vorherrschenden Umgangsform, die Stadt zum typischen Umfeld.

 

1.2 Gesellschaft im soziologischen Verständnis

Gesellschaft im soziologischen Verständnis bezeichnet sozial- und soziologiegeschichtlich zunächst jene Form des menschlichen Zusammenlebens, die als bürgerliche Gesellschaft die ständisch-feudale Ordnung überwand.

Die Aufklärung und die bürgerlichen Revolutionen seit dem 17. Jahrhundert verstärkten den Trend zur Herausbildung eigenständiger Handlungssphären für die Bürger. Die Entwicklung wurde durch die Französische Revolution 1789 ff. und die Herausbildung der Nationalstaaten – mit den Bürgern als Staatsbürgern (citoyens) – beschleunigt. Der Rechtsstaat soll die Gleichheit aller Bürger garantieren, die bürgerliche Handlungssphäre schützen und zugleich dem Staatsbürger die Grenzen seiner individuellen Freiheit aufzeigen. Eine für Deutschland wichtige Konzeption dieses Modells der bürgerlichen Gesellschaft stammt von Georg Friedrich Wilhelm Hegel (1770–1831). In seiner »Philosophie des Rechts« (zuerst 1821) werden die bürgerliche Familie, die Gesellschaft und der Staat als Basisinstitutionen in ein Verhältnis gesetzt.

Sieht man von Vorläufern ab – Wilhelm Heinrich Riehl (1823–1897), Lorenz von Stein (1815–1890) –, so hat erst Ferdinand Tönnies (1855–1936) einen spezifisch soziologischen Gesellschaftsbegriff entwickelt. In »Gemeinschaft und Gesellschaft« analysierte er die Entwicklung von der ständisch-feudalen, agrarischen Gesellschaft zur modernen städtisch-industriellen Gesellschaft mit ihren Trends der Anonymisierung sozialer Beziehungen und der Verselbstständigung der Individuen als autonom handelnden Personen. So lässt sich nach Tönnies Gesellschaft denken, »als ob sie in Wahrheit aus getrennten Individuen bestehe, die insgesamt für die allgemeine Gesellschaft tätig sind, indem sie für sich tätig zu sein scheinen« (Tönnies 1963 : 251).

Dieses Gesellschaftsmodell hatte theoriegeschichtlich Aufklärung und Liberalismus, materiell-praktisch die Industrielle Revolution zur Voraussetzung. Der englische Sozialhistoriker Eric Hobsbawm spricht daher von der Doppelrevolution (1962 : 1), in der sich die jeweiligen Elemente in einem Prozess der Beschleunigung wechselseitig vorantreiben, wobei die Forderungen nach Freiheit und Gleichheit sowie die Verbesserung der Lebenssituation die Haupttriebfedern sind (über Beschleunigung als Grundkategorie der Moderne vgl. Koselleck 1989 : 76 ff.). Zu den Grundlagen dieser industriell-bürgerlichen, liberal-rechtsstaatlichen Gesellschaft gehören:

 Freisetzung des Einzelnen zu selbst gewählter Familienbildung, Berufswahl, freier Wahl von Wohnort und Arbeitsplatz, Zugehörigkeit zu Vereinen.

 Ablösung ständischer und städtischer Formen der gesundheitlichen und sozialen Fürsorge durch gesamtgesellschaftliche bzw. staatliche Institutionen.

Voraussetzung für das Wirksamwerden dieser Forderungen und Trends der gesellschaftlichen Entwicklung war die Ausdifferenzierung und relative Autonomie der gesellschaftlichen Teilbereiche: Recht, Politik, Wirtschaft, Religion und Kirche, Kultur und Bildung, Arbeit und Freizeit.

Gesellschaft in diesem Verständnis wird in allen soziologischen Makrotheorien thematisiert. Im Strukturfunktionalismus, der für die Entwicklung der Sozialstrukturanalyse wichtig war, von Talcott Parsons (1902–1979) und Robert K. Merton (1910– 2003), in der Systemtheorie von Niklas Luhmann (1927–1998), in der Theorie der Frankfurter Schule und in der Modernisierungstheorie. Für Luhmann ist Gesellschaft »das umfassende soziale System, das alle anderen sozialen Systeme in sich einschließt« (1998 : 78).

1.3 Sozialstruktur und Sozialstrukturanalyse

Der Begriff Struktur findet sich in allen Wissenschaften; er zielt auf den Zusammenhang der jeweils konstitutiven Elemente in einem abgrenzbaren Bereich der dem Menschen zugänglichen Wirklichkeit. In der Soziologie gehört der Begriff – wie Institution, Organisation, System – zu den ältesten einer spezifisch soziologischen Begriffsgeschichte. Im Strukturfunktionalismus erlangte er einen zentralen Stellenwert. Struktur verweist für alle sozialen Systeme zunächst auf den Tatbestand, dass diese durch Normen, soziale Rollen, durch Institutionen und Organisationen relativ dauerhaft eingerichtet sind und Handlungen anderer in ihrem Verlauf berechenbar werden.

Sozialstruktur bezeichnet die Gesamtheit der relativ dauerhaften Norm- und Wertgefüge, der Rechtsgrundlagen, der politischen, ökonomischen und weiteren Institutionen und Handlungsmuster in einer Gesellschaft. Hierbei kommt jenen Elementen eine besondere Bedeutung zu, die die Integration und Identität des gesellschaftlichen Systems sichern.

Rainer Geißler versteht unter Sozialstruktur »die Wirkungszusammenhänge in einer mehrdimensionalen Gliederung der Gesamtgesellschaft in unterschiedliche Gruppen nach wichtigen sozial relevanten Merkmalen sowie in den relativ dauerhaften sozialen Beziehungen dieser Gruppen untereinander« (2011 : 19; dort und bei Huinink/Schröder 2008 finden sich weitere Definitionen zu Sozialstruktur).

Die Sozialstrukturanalyse hebt aus der Vielzahl der relevanten Elemente jene hervor, die für ein gesellschaftliches System und seine Integration zentral sind. Die Sozialstrukturanalyse ist zwar eine Momentaufnahme, berücksichtigt aber die Prozesse des sozialen Wandels, die zum gegebenen Zustand geführt haben und Ausgangspunkt weiterer Entwicklungen sind.

Felder der Sozialstrukturanalyse:

 Bevölkerungsstruktur, Binnen- und Außenwanderungen (Migrationen);

 Familien, Lebensgemeinschaften und Haushalte;

 politisches System, Institutionen des Rechts und des staatlichen Handelns;

 Wirtschaftssystem: Eigentumsstrukturen, Produktionsstätten, Handel;

 Bildung und Ausbildung, Kultur, Kirchen und religiöse Gemeinschaften;

 Siedlungsformen wie Dörfer und Städte, Infrastruktur für Verkehr und Energie;

 Informations- und Kommunikationssysteme, deren Ausweitung auf allen Ebenen des sozialen Handelns die Basis der »Netzwerkgesellschaft« sind;

 Wandel der Klassen- und Schichtungsstrukturen, der Sozialmilieus und zeittypischen Ausprägungen der sozialen Ungleichheit.

Die in der Soziologie übliche Unterteilung der Handlungs- und Strukturebenen in einen »Mikrobereich« des konkreten sozialen Handelns, einen »Mesobereich« der Institutionen und Organisationen und einen »Makrobereich« der gesellschaftlichen Strukturen lässt sich auch auf die Sozialstruktur und ihre Analyse übertragen. Karl Lenz (2002 : 336 f.) bezieht, die genannte Unterscheidung von Max Weber aufnehmend, makrosoziologische Fragen auf alle Prozesse und Strukturen der Vergesellschaftung, mikrosoziologische Fragen auf Prozesse und Strukturen der Vergemeinschaftung. Bei den Handlungsformen der Vergesellschaftung sind die Beziehungsmuster indirekt und anonym, bei den gemeinschaftlichen sind sie am Handeln naher und bekannter Personen orientiert.

1.4 Empirische Grundlagen

Für die Analyse der Sozialstruktur der deutschen Gesellschaft sind folgende Quellen und Datengrundlagen wichtig:

 Sozialstatistische Aspekte der Sozialstruktur, die sich in den Statistischen Jahrbüchern der Bundesrepublik, der Bundesländer, der Städte und Landkreise finden (sozialstrukturanalytisch aufbereitet im seit 1983 alle zwei Jahre erscheinenden Datenreport).

 Berichte der Bundes- und Landesministerien, der Städte und Landkreise über Zuwanderung und Integration, über Armut und Gesundheit, über Wohnversorgung usw.

Datenhandbücher mit sozialstatistisch aufbereiteten langen Zeitreihen für verschiedene europäische Länder, die um die Mitte des 19. Jahrhunderts beginnen (Flora 1983 und 1987) und Auswertungen auf der Basis des Sozio-Ökonomischen Panels (SOEP) und des ALLBUS (»Allgemeine Bevölkerungsumfrage der Sozialwissenschaften«) unterstützen die Analysen der Sozialstruktur und ihre Entwicklung (vgl. Habich 2011 : 432 f.; dort auch Hinweise auf die Internetadressen).

 Das SOEP ist eine repräsentative Längsschnittuntersuchung zur empirischen Beobachtung des sozialen Wandels, in der es seit 1984 zwei Ausgangsstichproben (Deutsche und Ausländer) gibt. Das SOEP hat eine hohe Stichprobenstabilität, mit anfangs 5 921 Haushalten und über 12 Tsd. befragten Personen.

 Bei ALLBUS handelt es sich um eine seit 1980 durchgeführte repräsentative Befragung im zweijährigen Turnus. Verantwortlich ist die Forschungsgruppe »Dauerbeobachtung der Gesellschaft« beim Leibniz-Institut für Sozialwissenschaften in Mannheim.

2. Theoretische Ansätze der Sozialstrukturanalyse

Die Begriffe Struktur und Sozialstruktur tauchen in allen Paradigmen der soziologischen Theoriebildung auf, in mikro- und makrosoziologischen Ansätzen, in marxistischen und phänomenologischen, in verhaltenswissenschaftlichen und systemtheoretischen (vgl. zu den Ansätzen der soziologischen Theoriebildung Rosa et al. 2007). Der Streit um die »richtige« soziologische Theorie liegt jenseits der Grundlagen und Grundelemente des Sozialen und jener sozialen Tatsachen (faits sociaux, nach Émile Durkheim, 1858–1917), die das Grundgerüst einer Gesellschaft bilden.

Wichtige Grundlagen für die Analyse der Sozialstruktur finden sich in der soziologischen Theorie des Strukturfunktionalismus und der Systemtheorie bei Talcott Parsons, Robert King Merton und Niklas Luhmann für den Ansatz einer funktionalstrukturellen Systemtheorie. Die Prämissen des Strukturfunktionalismus schließen ein, dass sowohl die individuellen Handlungen als auch die Aktivitäten der Gruppen und Institutionen auf Integration und Stabilität eines als Einheit gedachten sozialen Systems und damit auf die Sozialstruktur einer Gesellschaft bezogen werden. Diesem Ansatz ist weiterhin zu eigen, dass die mikrotheoretische Perspektive auf die individuellen Handlungen und die makrotheoretische auf die gesamtgesellschaftliche Dimension wechselseitig bezogen sind. Die Systemtheorie von Niklas Luhmann durchbricht die im Strukturfunktionalismus gegebene Vorrangigkeit der Struktur und des Strukturerhalts. Der bei Luhmann wichtige Begriff der Kontingenz verweist auf die Möglichkeit, dass alles auch anders sein könnte (zur vielfachen Bedeutung des Kontingenzbegriffs, auch im Zusammenhang der jeweils dominanten Semantik von Begriffen und Bedeutungen für die Sozialstruktur und ihre Teilbereiche, vgl. Luhmann 1997).

Die marxistische Sozialstrukturanalyse geht davon aus, dass in allen Sozialbereichen und auf allen Handlungsebenen die Verfügung über Produktionseigentum maßgeblich ist. Desweiteren sind die damit verbundenen Formen der Aneignung, der Macht- und Herrschaftsbeziehungen und daraus resultierender Klassenstrukturen bestimmend. Unter dem Aspekt der weiterhin bestehenden Klassenspannungen ist die modifizierte Klassentheorie von Pierre Bourdieu (1930–2002) hervorzuheben. Seine Theorie der »feinen Unterschiede« und der »gesellschaftlichen Urteilskraft« (2003) basiert auf einer Reformulierung des Kapitalbegriffs. Das ökonomische Kapital der marxistischen Tradition bildet weiterhin die Basis, ist aber zu unspezifisch und muss durch weitere Kapitalbegriffe ergänzt werden:

 Kulturelles Kapital, das vor allem durch Bildung und Ausbildung und entsprechende Zertifikate erworben wird;

 soziales Kapital, das auf sozialen Beziehungen und Netzwerken beruht.

Die auf der Grundlage dieser »Kapitalvermögen« erfolgenden »Distinktionen« (Bourdieu) und die Herausbildung »feiner Unterschiede«, die im Habitus, also in grundlegenden Formen des Verhaltens, zum Ausdruck kommen (wobei dem Sprachverhalten zentrale Bedeutung zukommt), führen letztlich zur Herausarbeitung eines weiteren Kapitalbegriffs: symbolisches Kapital. Es bezieht sich auf den sozialen Rang und das Prestige von Individuen und sozialen Gruppen. Auf dieser Basis unterscheidet Bourdieu eine primäre Ungleichheit von einer sekundären Ungleichheit. Eine große Anzahl von »Klassenfraktionen« ist nach den genannten Differenzierungen des Kapitalbegriffs denkbar. Der Habitus ist die Schnittstelle, er ist »Erzeugungsprinzip objektiv klassifizierbarer Formen von Praxis und Klassifikationssystemen dieser Formen« (Bourdieu 2003 : 277).

Theoretische Ansätze zur Analyse der Sozialstruktur (Smelser, 1988) behandeln auch die Frage nach der Genese sozialer Strukturen. Ausgangspunkte liegen auf der Mikro-, der Meso- und der Makroebene der Sozialstruktur:

 Die Theorie des Strukturfunktionalismus betont den stets neu auszuhandelnden gesellschaftlichen Konsens über bestimmte Werte und Normen, der zielgerichtetes Handeln in den Institutionen und Organisationen überhaupt erst ermöglicht.

 Soziale Strukturen entstehen nach Émile Durkheim im Zusammenhang mit einer immer differenzierteren Arbeitsteilung oder, nach Georg Simmel, durch die unablässige »Verschränkung sozialer Kreise«, wie er dies im »Gesetz der sozialen Differenzierung« (1890) herausgearbeitet hatte.

 In marxistischer Perspektive sind es die Eigentumsverhältnisse und Klassenspannungen als gesellschaftlicher Grundwiderspruch, die durch immer neue Formen der Herrschaft und der sozialen Zwänge die gesellschaftliche Evolution blind vorantreiben. Erst wenn die Ausbeutung der Menschen durch Menschen an ihr Ende gekommen ist, kann die planvolle Gestaltung des menschlichen Zusammenlebens beginnen.

Auch die Ansätze von Rainer Geißler (2011), von Gerd Nollmann et al. (2007), die Formen sozialer Ungleichheit ins Zentrum von Sozialstrukturanalysen rücken, sind an dieser Stelle zu nennen. Weitere Ursachen der Genese oder der Veränderung sozialer Strukturen werden im Zusammenhang der Theorien des sozialen Wandels dargestellt.

3. Sachdominanz, Raum und Zeit als Elemente der Sozialstruktur

Das soziale Handeln ist durch materielle Artefakte, bebaute oder unbebaute Räume und i. d. R. durch Zeiteinteilungen vorstrukturiert. Émile Durkheim sprach vom »materiellen Substrat« oder von der Dinghaftigkeit des Sozialen (faits sociaux), zu denen er auch das Geld rechnete. Hans Linde prägte, nicht zuletzt im Ausgang von Durkheim, den Begriff der Sachdominanz in Sozialstrukturen. Es werde zumeist übersehen, »dass der von profanen Artefakten ausgehende Anpassungszwang durch eine hochselektive, spezifische ›Gebrauchsanweisung‹ bereits handlungsrelevant ist« (Linde 1972 : 9).