Beten bei Edith Stein als Gestalt kirchlicher Existenz

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Dass eine noch näher zu qualifizierende Rede vom Gebet überhaupt möglich ist, und zwar auch eingedenk dessen, was in den Lagern der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft geschehen ist, das legitimiert vor allem unserer Autorin selbst. Sie selbst ist es, die noch in Gefangenschaft – täglich bedrängt von unsäglichem Leid bei sich und anderen – vom Gebet schreibt, und zwar ihrem eigenen. Hastig geschrieben sind entsprechende Sätze aus der Baracke 36 im Lager Westerbork das letzte schriftliche Zeugnis von ihr, das heute noch erhalten ist. Auf einem kleinen Zettel, flüchtig an die Priorin in Echt adressiert und erkennbar in Eile geschrieben, bittet sie am 6. August 1942, also drei Tage vor ihrem mutmaßlichen Tod in einer Gaskammer: „Ich hätte gern den nächsten Brevierband (konnte bisher herrlich beten)“.19

Das Adjektiv „herrlich“ liest man mit nachdenklicher Beachtung. Umso mehr, wenn man im Blick behält, dass die Ordensfrau zur Zeit der Abfassung dieser Zeilen ein tief trauernder Mensch war, dem die Aporie der Gefangenschaft hellsichtig einleuchtete. Einer Mitinhaftierten im Lager Amersfoort erscheint die Karmelitin in jenen Tagen gar wie eine „Pieta ohne Christus“. Johannes Hirschmann SJ, der Edith Stein im Karmel Echt in den Jahren vor ihrer Verhaftung wiederholt getroffen hatte, gibt diese Zeugenaussagen wieder: „Es gibt einige Berichte von letzten Begegnungen mit ihr im holländischen Konzentrationslager. Zwei Worte sind mir dabei vor allem unvergesslich geblieben. Das erste Wort von dem Eindruck, den sie im Lager machte: Viele der jüdischen Mütter, die mit ihr verhaftet worden waren, lebten ganz in der Not und Verzweiflung jener Tage – so sehr, daß sie fühllos wurden angesichts des Leids ihrer eigenen, mit ihnen im Lager gequälten Kinder. In dieser Situation, da übernahm diese beschauliche Schwester jene kleinen alltäglichen Dienste an Menschen in Not und Verzweiflung, die selbst in solchen Stunden das Zeichen und die Bewährung großer Liebe sind. Ein zweites Wort sagte eine Frau von dem Eindruck, den sie damals auf sie machte: Sie kam ihr vor wie die Pieta unter dem Kreuz, aber ohne den toten Sohn auf dem Schoß.“20

Beim Wort „Pieta“ schwenkt der Blick des posthumen Betrachters von ihrem Todesjahr 1942 etliche Jahre zurück und an einen anderen Ort. In den Jahren 1928 bis zum Eintritt in den Karmel betete die jungen Edith Stein wiederholt stundenlang vor einer Pieta, und zwar dem Gnadenbild in der Benediktinerabtei Beuron.21 Könnte es sein, dass etwas von diesem Beuroner Bildnis, von dieser Imago einer trauernden Mutter mit ihrem Kind im Schoß, im Leben der Edith Stein geistgewirkte Gestalt angenommen hatte? Dann träfe für diesen Menschen zu, was Heinrich Spaemann formuliert: „Was wir im Auge haben, das prägt uns, dahinein werden wir verwandelt. Und wir kommen, wohin wir schauen.“22

Die vorliegende Studie unternimmt den Versuch, auf die betende Erscheinung der Edith Stein zu schauen. Sie ist geleitet vom Anliegen, die dabei erblickte Kontur im Lichte der sie auslegenden, sinndeutenden Horizonte zu verstehen, und von dort aus die Entfaltung ihrer Gebetsexistenz aufzuweisen. Im Zuge dieser Betrachtung mag sukzessive die geistliche Gestalt ihres betenden Menschseins zu Gesicht kommen. Wo das gelingt, geleitet die Lektüre dieser Untersuchung in innere Nähe zu den eingangs angeführten Konzertbesuchern. Analog zu diesen tritt im Durchgang durch die Sichtung wesentlicher Facetten ihres Betens etwas nahe, das nicht in den einzelnen Gebetsmomenten aufgeht, wenn es sich auch in allen je neu zu Wort meldet. Es begegnet schließlich noch im Verschwinden aller Artikulationen ihres Betens, das im Tode vollends geschieht, etwas, das in allen Einzelaspekten den Charakter einer bedeutungserfüllten Spur aufweist. In diese Spur zu geraten, das sei der Lektüre der nachfolgend versuchten Darstellung des Betens im Leben der Edith Stein gewünscht.

1 Im Folgenden wird aus Gründen der Leserfreundlichkeit nur noch die männliche Form verwendet.

2 Stein, E.: „Ich bleibe bei Euch …“, in: Edith Stein Gesamtausgabe Bd. 19. Edith Stein. Geistliche Texte II. Bearbeitet von S. Binggeli, unter Mitwirkung von U. Dobhan und M. A. Neyer, Freiburg im Breisgau 2007, S. 179–182, hier S. 182. Die Formulierung „stammeln“ erinnert an den „Geistlichen Gesang“ des Johannes vom Kreuz. Er formuliert: „ein ‚ich-weiß-nicht-was‘, das sie ständig stammeln“ (CA 7). Johannes vom Kreuz. Der Geistliche Gesang (Cántico A).Vollständige Neuübertragung. Gesammelte Werk Bd. 3. Herausgegeben, übersetzt und eingeleitet von Ulrich Dobhan OCD, Barbara Henze, Elisabeth Peeters OCD, Freiburg 1997, S. 70. Das Wortspiel, in dem kunstvoll Stammeln und Sprechen verbunden werden, weckt im Spanischen Anklänge an Stottern. Edith Stein gelang eine meisterhafte Übersetzung, wie Ulrich Dobhan OCD hervorhebt: „Was Johannes vom Kreuz in seiner Muttersprache mit der Anhäufung des que erreicht, klingt in Edith Steins deutscher Übersetzung mit der Wiederholung des w und v an, was auch den Eindruck eines stammelnden und stotternden Redens hervorruft“. Edith Stein Gesamtausgabe Bd. 18. Edith Stein. Kreuzeswissenschaft. Studie über Johannes vom Kreuz. Neu bearbeitet und eingeleitet von Ulrich Dobhan OCD, Freiburg 2003, Vorwort S. XXIX. Edith Stein übersetzt: „Ich weiß nicht was, wovon sie stammelnd sprechen.“ (ebd. S. 186).

3 Edith Stein Gesamtausgabe Bd. 1. Edith Stein. Aus dem Leben einer jüdischen Familie und andere biographische Beiträge. Neu bearbeitet und eingeleitet von M. A. Neyer, Fußnoten und Stammbaum unter Mitarbeit von H.-B. Gerl-Falkovitz, Freiburg im Breisgau 2002, S. 374–375, hier S. 375.

4 Sich immer neu nach der je individuellen „Tonlage“ und Gestimmtheit dessen zu fragen, was im Gebet nahe kommen will, das ist wie bei der Sichtung und Rezeption von Lyrik unverzichtbar, soll es zu einer echten Begegnung kommen.Vgl. dazu Sorge, B.: Lyrik interpretieren. Eine Einführung, Berlin 1999, S. 8–9.

5 Stein, E.: Rezension zu „Briefe in den Karmel“ von Marie Antoinette de Geuser, in: ESGA 19, S. 211–216, hier S. 214.

6 Ebd.

7 Ebd. Die Steinsche Wortwahl lässt erneut Anklänge an die Lyrik des Johannes vom Kreuz erkennen. Der Kirchenlehrer zitiert im „Geistlichen Gesang“ die Schriftstelle Offb 14, 2 und greift die dortige Rede von spielenden Harfen in zweifacher Hinsicht auf. Zum einen wird ihm das Harfenspiel zum Bild für die Lobgesänge der Seligen, die „der heilige Johannes in der Offenbarung im Geist gesehen hat, nämlich die Stimme vieler Harfenspieler, die auf ihren Harfen spielten (Offb 14,2).“ (CA 13–14, 26). Zum anderen veranschaulicht dieses Bild von Instrumentalmusik die Stimme Gottes: „diese selbe Stimme sei so zärtlich gewesen, daß sie war sicut citharoedorum citharizantium in citharis suis. Das heißt, sie war wie die von vielen Harfenspielern, die auf ihren Harfen spielten.“ (CA 13–14,11). Johannes vom Kreuz, Der Geistliche Gesang, S. 117 und S. 105.

8 ESGA 19, S. 211.

9 Zu den verschiedenen Ortsbestimmungen einer Theologie nach Auschwitz im jüdischen und christlichen Kontext vgl. Tück, J.-H.: Gottes Augapfel. Bruchstücke zu einer Theologie nach Auschwitz, Freiburg 2016 sowie Reck, N.: Festhalten an der Unströstlichkeit: Die Gottesfrage in der katholischen Theologie nach Auschwitz, in: StZ 121 (1996) S. 186–196.

10 „Im Holocaust kamen 30% der jüdischen Weltbevölkerung um, darunter 80% aller Rabbiner, Gelehrten und Tora-Schüler, die Mehrheit aller mitteleuropäischen jüdischen Gemeinden wurde für immer ausgelöscht“. Reck, Festhalten, S. 186.

11 „Nimmt man die Zahl der Toten von Auschwitz, die allein zwischen 3,5 und 4,5 Millionen zu liegen scheint, sowie anderer ähnlicher Lager zum Ausgangspunkt eines Berechnungsversuchs, so ist leicht zu sehen, dass es insgesamt mindestens 8–10 Millionen Menschen gewesen sein müssen.“ Kogon, E.: Der SS-Staat. Das System der deutschen Konzentrationslager, München 1974, S. 66.

12 Im Holocaust kamen schätzungsweise eine Million Kinder zu Tode. Vgl. Reck, Festhalten, S. 187.

13 „Nicht selten wurden Kleinkinder, wenn die Kammern vollgepfercht waren, noch durch die Fenster hineingeworfen. Je nachdem wie viel Gas vorhanden war, dauerte der Erstickungstod bis zu vier und fünf Minuten. Währenddessen hörte man von drinnen das entsetzliche Schreien der Kinder, Frauen und Männer, denen es langsam die Lungen zerriss.“ Kogon, Der SS-Staat, S. 186.

14 Lau, E./Pampuch, S. (Hg.): Draußen steht eine bange Nacht. Lieder und Gedichte aus deutschen Konzentrationslagern, Frankfurt 1994, S. 23.

15 Zitiert nach Lenzen, V.: Sprache und Schweigen nach Auschwitz. in: Lesch,W. (Hg.): Theologie und ästhetische Erfahrung. Beiträge zur Begegnung von Theologie und Kunst, Darmstadt 1994, S. 183–200, hier S. 196.

16 Casper, B.: Verhaltenheit – Zum Stil des Denkens Bernhard Weltes, in: Wenzler, L. (Hg.): Mut zum Denken, Mut zum Glauben. Bernhard Weltes Bedeutung für eine künftige Theologie, Freiburg im Breisgau 1994, S. 148–162, hier 162.

17 ESGA 18, S. 156.

18 Ebd. S. 157.

19 Edith Stein Gesamtausgabe Bd. 3. Edith Stein. Selbstbildnis in Briefen. Zweiter Teil: 1933–1942. Einleitung von H. B. Gerl-Falkovitz, Bearbeitung und Anmerkungen von M. A. Neyer, 2. Auflage durchgesehen und bearbeitet von H. B. Gerl-Falkovitz, Freiburg 2002, S. 575.

20 Hirschmann, J.: Schwester Teresia Benedicta vom Kreuz, in: Herbstrith, W. (Hg.): Edith Stein. Ein Lebensbild in Zeugnissen und Selbstzeugnissen, Würzburg 2001, S. 131–136, hier S. 135–136.

 

21 Es handelt sich um eine oberschwäbische, um 1440 entstandene und aus Lindenholz geschnitzte Pieta. Siehe dazu Neyer/Müller, Edith Stein, S. 184.

22 Spaemann, H.: Orientierung am Kinde, Düsseldorf 1967, S. 29.

2 Aktueller Forschungsstand

2.1 Positionen zum Thema Gebet in der Systematischen Theologie

2.1.1 Der aktuelle Stand der Diskussion in geschichtlicher Verortung

In seiner Dissertation23 „Theologie des Gebetes – Forschungsbericht und systematisch-theologischer Ausblick“ stellte Ulrich Wüst-Lückel im Jahre 2007 fest, dass Monographien in systematisch-theologischer, problemgeschichtlicher oder religionsphilosophischer Perspektive zum Thema Gebet im Fachbereich der Systematischen Theologie „spärlich“ seien24. Dieses Defizit nimmt der Autor wahr im Vergleich mit den zahlreichen Büchern, die Gebetstexte, -anweisungen, -ermutigungen oder esoterische Literatur anbieten, die sich großer Nachfrage erfreuen.

Dieser Entwicklung gingen dem Autor zufolge Akzentverschiebungen in den vergangenen Jahrzehnten voraus. Nach einer in den sechziger Jahren des 20. Jhd. anhebenden grundlegenden Diskussion mit Fokus auf der Frage nach dem Sinn des Gebets insgesamt, habe in den Siebzigerjahren und der darauf folgenden Dekade das Thema Gebet in der Systematischen Theologie zwar zunehmend Erwähnung gefunden. Das lasse sich an der steigenden Anzahl von Veröffentlichungen, Aufsätzen und anderen Publikationsformen erkennen.25 Als Zusammenfassung hält er jedoch fest: „Es wurde deutlich, dass in der theologischen Diskussion des letzten Drittels des 20. Jahrhunderts die Fragen nach dem Was und dem Warum des Gebets diejenigen nach dem Wie zu ergänzen begonnen haben. Es fand eine Akzentverschiebung statt, die die Bedeutung des Gebetes in der systematisch-theologischen Diskussion neu zu beurteilen begann. Ein Blick in die Dogmatiken und Handbücher der letzten Jahre zeigt jedoch, dass das Gebet im Bereich der Gesamtdarstellungen nach wie vor stiefmütterlich behandelt wird. Oftmals wird es, wenn es dennoch zur Sprache kommt, nicht als ein Kernthema eingebettet, sondern höchstens anhand einer Einzelfrage diskutiert.“26 Diesem Befund ist der Tendenz nach, allerdings abgeschwächt, auch weiterhin zuzustimmen, wenn auch in jüngerer Zeit wiederholt Monographien und Sammelbände zum Thema erschienen sind, die mehr als nur Einzelaspekte des betenden Geschehens ins Zentrum rücken. So legt Michael Schneider SJ eine theologische Begründung des christlichen Gebets vor, das nach dessen Spezifika fragt.27 Diese Spezifika werden vor dem Hintergrund der neuzeitlichen Gebetskritik und der dogmatischen Perspektive der Teilhabe am Leben des dreifaltigen Gottes entfaltet. Michael Rosenberger erhellt aus moraltheologischer Perspektive das Gebet als Geschehen, bei dem der Mensch sich im Geheimnis geborgen erfährt.28 Der Linzer Moraltheologe sucht nach interreligiösen Perspektiven der Begründung und Vermittlung des Betens, die er mit frömmigkeitsgeschichtlichen und biblischen Zugängen zum Thema verbindet. Ein Sammelband von Ingolf U. Dalferth und Simon Peng-Keller sucht nach neuen Zugängen zu einer Hermeneutik des Gebets.29 In dieser Publikation finden die Dimensionen Sinnlichkeit, Leiblichkeit und das Spannungsfeld von persönlichem und gemeinschaftlichem Wesen des Gebets in religionsphilosophischer und dogmatischer Perspektive Beachtung. Akzentsetzungen aus reformierter und freikirchlicher Tradition werden ebenso aufgegriffen wie ostkirchliche Sichtweisen auf das Gebet. Ein Zitat von Viktor Frankel aufgreifend, erhellt der Sammelband der Trierer Autoren Johannes Brantl, Hans Georg Gradel, Mirijam Schaeidt und Werner Schüßler das Gebet als „die Intimität der Transzendenz“.30 Moraltheologische, exegetische, philosophische und spirituelle Zugänge finden darin Beachtung. Dem Thema Bittgebet wendet sich ein von Magnus Striet herausgegebener Sammelband zu und lässt darin kontroverse Positionen zu Wort kommen.31

Ebenfalls jüngeren Erscheinungsdatums ist der im Jahr 2016 von Matthias Arnold und Philipp Thull herausgegebene Sammelband „Theologie und Spiritualität des Betens: Handbuch Gebet“.32 Dort sind unter den Überschriften „Das Gebet in der Heiligen Schrift“, „Das Gebet in der Theologie“ sowie „Formen des Gebets“, „Das Gebet in der Praxis“, „Das Gebet in der christlichen Ökumene“ und „Multidimensionale Zugänge zum Gebet“ insgesamt 35 Beiträge namhafter Autoren aus der akademischen und monastischen Welt vertreten. Eine detailliertere Sichtung dieser Veröffentlichung kann im Rahmen dieser Studie nicht geleistet werden. Es sei aber darauf hingewiesen, dass die Breite der wissenschaftlichen Zugänge zum Gebetsgeschehen insgesamt ein zunehmendes Interesse der akademischen Theologie und ihrer verschiedenen Disziplinen am Thema erkennen lässt.

Einen Literaturüberblick über einige jüngste Veröffentlichungen zum Thema Gebet aus dem Bereich der Systematischen Theologie oder zumindest mit betontem Einbezug dieser theologischen Disziplin findet sich Anfang 2017 in einem Beitrag von Hilda Steinhauer. Sie fragt „Was ist Beten?“33 und sichtet dazu neben den oben schon thematisierten Arbeiten von M. Scheider und J. Brantl die Veröffentlichungen von A. Hunziker und S. Keller34, H. Schalk35, M. Schlosser36 und T. Keller.37 Neben den genannten Beiträgen finden auch jene von M. Egli38 und W. Eisele39 Erwähnung. Steinhauer kommt – ähnlich wie bereits Wüst-Lückl eine Dekade zuvor – zu der Auffassung, dass „auf Seiten der wissenschaftlichen Theologie eine meist nur implizite Wahrnehmung des Gebets als eines zentralen und spezifischen Ortes der theologischen Erkenntnis“ zu verzeichnen sei.40 Steinhauer zufolge weisen die von ihr gesichteten Publikationen vier gemeinsame Merkmale auf: „Gemeinsame, explizit angesprochene oder implizit vorausgesetzte Kernpunkte sind die biblische Fundierung des Betens, die Orientierung am Beten Jesu, die trinitarische Verankerung und die Betonung der Geschenkhaftigkeit.“41 Steinhauer bemerkt, dass dem Bittgebet eher weniger Beachtung geschenkt werde.42 Ans Ende ihres Überblicks über die aktuelle Literatur zum Thema stellt die Autorin ein Desiderat: „Das Gebet als eine Dimension der gesamten Wirklichkeit auszufalten, wäre aus systematischer Perspektive eine lohnende Aufgabe.“43

Vor dem skizzierten Hintergrund der angeführten aktuellen Publikationen zum Gebet konzentriert sich meine Darstellung auf zwei für unsere Fragestellung besonders bedeutsame religionsphilosophische Positionen des 20. Jahrhunderts und deren Anliegen. Diese sind die Beiträge von Berhard Welte und Bernhard Casper. Nach Sichtung dieser Zugänge, die einer deskriptiven Entfaltung des betenden Ereignisses Raum geben, und dem Schweigen und dem Gebet der Stille in systematischer Perspektive Beachtung schenken, kann das eigene Interesse anschließend dargelegt und eigene methodische Schritte begründet werden. Es mag sich erweisen, dass die beiden Zugänge zum Gebet einen hermeneutischen und methodischen Horizont ausspannen, in dem das Beten der Edith Stein angemessen gesichtet und verstanden werden kann.

2.1.2 Zugänge zum betenden Geschehen bei Bernhard Welte und Bernhard Casper

Die systematisch-theologischen Zugänge zum Geschehen des Gebets bei Bernhard Welte und Bernhard Casper können die Frage nach dem Beten der Edith Stein wertvolle Hinweise liefern. Die Auswahl dieser beiden Theologen geschah mit Blick auf die inhaltliche und methodische Affinität zum Werk Edith Steins. In gleicher Weise entscheidend für die Auswahl waren bisherige Forschungen zur Religionsphilosophie Edith Steins und zur spirituellen (Gebets-)Theologie, die im Arbeitsbereich Christliche Religionsphilosophie der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg im Breisgau von Bernhard Casper begleitet wurden.

Sowohl Bernhard Welte als auch Bernhard Casper stellen als ehemalige Inhaber des Freiburger Lehrstuhls für Christliche Religionsphilosophie Vertreter einer Tradition theologischen Denkens dar, die sich vom phänomenologischen Weltzugang und von der phänomenologischen Haltung maßgeblich hat beeinflussen lassen. Bei ihrem Anliegen, den christlichen Glauben in die Gegenwart hinein zu begründen und zu vermitteln, lieferten phänomenologisch ausgerichtete Denkansätze wertvolle Anregungen und wichtige methodische Hilfen. Insofern gibt es bei Bernhard Welte und Bernhard Casper methodisch und inhaltlich eine deutliche Entsprechung zu Edith Stein, wo diese sich in durchgängig phänomenologischer Manier unter Einbezug von Erkenntnisquellen der christlichen Offenbarung theologischen Themen widmet.

Bernhard Casper hat des Weiteren eigens ein Promotionsvorhaben seines damaligen Schülers Andreas Uwe Müller zur Religionsphilosophie Edith Steins betreut. Darin wird Edith Steins Position betont vor dem Hintergrund der Husserlschen Philosophie konturiert und die innovativen Momente der Steinschen Auffassung in ihrer Aufnahme von Beiträgen Schelers, Reinachs und Heideggers detailliert dargestellt.44 Außerdem ist bei Bernhard Casper ein betontes Verständnis für die zeitliche Verfasstheit und Erstreckung des Gebetsgeschehens als Einbruch von Diachronie entfaltet, was eine Lesehilfe für die geistlichen Gebetstexte der Edith Stein darstellen kann.

Bernhard Welte wird von Klaus Hemmerle ausdrücklich mit Edith Stein in einer Fluchtlinie gesehen, was ihr zentrales Anliegen betrifft, in dem sie übereinkommen: „Es sei verwiesen auf die andere Vermählung zwischen Phänomenologie und Denken des Thomas, auf die andere Wahrung und Reflexion des Verhältnisses von Philosophie und Theologie, auf die andere Weise der Nachbarschaft von phänomenologischer Ursprünglichkeit und interpretativem Mitgehen mit anderen Gedanken, die sich bei Bernhard Welte ausformulieren.“45 Insofern bietet es sich an, das Geschehen des Gebets bei Edith Stein unter Einbezug der gebetstheologischen Überlegungen Weltes zu sichten.

Was die beiden Freiburger Religionsphilosophen zur Theologie des Gebets erarbeitet haben, wird im Folgenden als Zugangsweise zum betenden Geschehen bei Edith Stein herangezogen. Den Ausgangspunkt dieser hermeneutischen Orientierung bildet die Theologie und geistliche Besinnung auf das Thema Gebet, wie sie bei Bernhard Welte begegnet.

2.1.2.1 Das Gebet bei Bernhard Welte

Bernhard Welte (1909–1983) war von 1958 bis zu seiner Emeritierung im Jahr 1973 Inhaber des Lehrstuhls für Christliche Religionsphilosophie an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Das wissenschaftliche Interesse Weltes galt von seinen frühen Werken an den Fragen der Glaubensbegründung, die mit Blick auf die scholastische Tradition und existenzphilosophische Positionen unter Einbezug der Phänomenologie angegangen wurden. Schon seine Habilitationsschrift46 von 1946 fragte nach der Möglichkeit einer Deutung philosophischen Glaubens bei Karl Jaspers durch die thomistische Philosophie. Stephanie Dietrich formuliert als „Grundanliegen“ Weltes: „Auf dem Hintergrund und in Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen Philosophie, für Welte besonders der Philosophie Heideggers und Jaspers, sollten die traditionellen theologischen Quellen der Tradition neu beleuchtet und ohne jedes apologetische Interesse verständlich gemacht werden.“47 Bernhard Casper sieht in gleicher Weise in der Konvergenz von Thomasrezeption, Existenzphilosophie und Phänomenologie ein Grundanliegen Weltes: von Heideggers dessen „hermeneutische Phänomenologie“ und von Jaspers dessen „Existenzdenken […] aufnehmend, interpretiert W. die thoman. Zugänge zu der Frage nach Gott neu.“48 Dabei leite den Vorgänger Bernhard Caspers auf dem Freiburger Lehrstuhl für Christliche Religionsphilosophie das Anliegen, die „Möglichkeitsbedingungen des menschlichen Glaubens an Offenbarung darzustellen.“49

Bernhard Welte formuliert seinen religionsphilosophischen Ansatz50 betont ausgehend vom Menschen.51 Dieser sucht im Widerfahrnis sowohl von schmerzlichen wie zum Staunen einladenden Lebenserfahrungen nach Möglichkeiten zu Glauben. In dieser Konfrontation ist er unausweichlich in die Dimensionen Zeit52, Geschichte53, Sprache54, Begegnung55 und Gemeinschaft56 gestellt, die jeweils auf einander verweisen. Die genannten Dimensionen des Existenzvollzugs finden Ausdruck in den Titeln der bedeutendsten Werke Bernhard Weltes.57 Vom Umfang her kleinere Publikationen – z. B. seine Predigten und geistlichen Schriften58 – illustrieren deutlich Weltes seelsorgliches Anliegen, das ihn durchgehend in seinem Denken prägt. Es fällt auf, dass es ihm dabei stets um „eine Verbindung von Religionsphilosophie und gelebtem Glauben, Theorie und Praxis, Leben und Lehre“59 ging.

 

Das für meine Studie bedeutsame Thema des Betens60 wird Welte als seelsorglich denkendem Philosophen daher sowohl im religionsphilosophischem Diskurs zum Thema,61 als auch in der Predigt und der geistlichen Besinnung. Der dabei betont vom Menschen und seinen Daseinserfahrungen ausgehende Zugang zum Thema Glaube und Gebet geschieht bei Welte unter Einbezug der Phänomenologie. Diese versteht er als das „Freilegen und Bergen des sich selbst Zeigenden“.62 Bei der Frage nach einer „Phänomenologie der Liebe“ formuliert Welte in ähnlicher Weise. Dort ergänzt er aber, dass das sich Zeigende schon im Verborgenen anwesend war, bevor der interessierte Blick des Menschen ihm begegnet: „Wir wollen durch die Bemühung des Denkens das zum offenen Sichselberzeigen bringen, was schon im Verborgenen gegenwärtig ist.“63

Die phänomenologische Methode verwendet Welte, um beschreibend die „anthropologischen Grundstrukturen aufzudecken, die dem Menschen einen Zugang zum Heiligen, zum Glauben ermöglichen.“64 Dabei legt Welte einen „Hauptakzent“ auf die „im Spielfeld von Endlichkeit und Unendlichkeit“65 erfahrene „Faktizität des Daseins und seiner Endlichkeit, der Erfahrung des Nichts, der Grenze, der Angst.“66 Angesichts der sich radikal zu Wort meldenden Frage nach dem „Sinn“67 seiner Existenz, besonders angesichts des unbedingten Nichts des Scheiterns und des Todes, der alle gleichermaßen angeht, rührt der Mensch an die Möglichkeit eines unbedingten Sinnes.

Der Mensch erfährt sich dabei auf zweierlei Weise mit der Frage nach dem Sinn konfrontiert. Zum einen stellt sich ihm diese in einer „tranzendierenden Seinsverwunderung“68 und in einem Staunen darüber, dass „überhaupt etwas ist und nicht vielmehr nichts“. Zum anderen erfährt er sich in Tod und Schuld mit dem radikalen, unbedingten „Nichts“ konfrontiert, das ihm jedoch die Möglichkeit eines ebenso unbedingten Sinns ins Denken hebt und die Idee eines alles Sein bergenden Grundes. Die Alternative des „nichtenden Nichts“, das radikal alles verschlingt und Sein fundamental negiert, bleibt dabei unhintergehbar bestehen, so dass die Begegnung mit dem Nichts zweideutig bleibt. Die solcherart ambivalente Erfahrung des Nichts wird aber im menschlichen Postulat69 nach einem absoluten und den Menschen begründend-bewahrenden und tragenden Sinn transzendiert.

Der alles begründende Grund, auf den der Mensch sich in seinem Postulat nach Sinn hinwendet und transzendiert, erscheint als abgründiges „Geheimnis“. Das damit Gemeinte beschreibt Welte als „das verborgene Warum, die verschwiegene Herkunft, der unbedingte Grund.“70 Dieses Geheimnis ist unsagbar. Es übersteigt die sprachlichen Zugangsmöglichkeiten. Daher ist der Begegnung mit diesem Geheimnis das Schweigen angemessen, in dem der Mensch seine Grundanlage des Hörens aktualisiert und zugleich damit offen ist für das Gesamte des Seins. Schweigend geschieht dem Menschen so eine „Sammlung“71 seiner Zerstreuung in das Umgetriebensein von vielen Einzeldingen. Zugleich mit der Sammlung widerfährt ihm eine vertiefte Begegnung mit allem, was ist und darin mit dem, was alles „gewährt“ und alles dem Menschen „gönnt“.72 Das schweigende Beten ist Welte zufolge somit: „Nichts umzutreiben und von nichts umgetrieben werden. Nichts bereden und sich nicht mehr in die Bewegung des Redens treiben lassen. […] Schweigend wird der Mensch also alles ‚etwas‘, d. h. Dinge und alle Anliegen loslassen aus dem Begriff des Begreifens oder des Begreifenwollens. […] Dieses Schweigen […] ist wie reines Hören, das zwar kein ‚Etwas‘ hört, aber offen und bereit ist, alles zu hören. Oder es ist wie die reine Helle des Schauens, das zwar an keinem ‚Etwas‘ mehr hängt, aber Offenheit ist für alles.“73

Dabei wird dem Freiburger Priester das Gebet des Schweigens74 ausgehend von der Sammlung und der darin anhebenden Andacht zur grundlegenden Weise der Begegnung mit dem verborgenen Geheimnis im Raum der Sprache. „Sammlung“ ist für Welte Ausdruck einer Transzendenzbewegung über das Ganze des Seins hinaus, wie er im Beitrag „Zeit und Gebet“ ausführt: „Die Sammlung des Schweigens ist aber mehr als Sammlung bloß der inneren und äußeren Welt. Sie ist die reine Freiheit und Offenheit, die zwar alle Welt umfängt, aber zugleich und vor allem auch alle Welt übersteigt. Das, worin die Welt versammelt wird, ist größer als alle Welt. Es ist die abgründige Weite der Unendlichkeit des Geheimnisses, das alles trägt und alles gewährt und auf alles wartet.“75 Bei dieser Transzendenzbewegung bezeichnet „Andacht“76 die Richtung, in der sich der menschliche Grundimpuls entfaltet. Im selben Beitrag „Zeit und Gebet“ kennzeichnet Welte Andacht als Ausrichtung des menschlichen Denkens: „Andacht bezeichnet eine Richtung des Denkens. Die Silbe ‚an‘ gibt die Richtung an, die Silbe ‚dacht‘ das Denken. Denken darf aber in unserem Zusammenhang genommen werden für das ganze lebendige und nun ins Schweigen versammelte Dasein des Menschen. Das Wort Andacht soll also im Ganzen die Richtung oder Transitivität des ins Schweigen versammelten Daseins bezeichnen. […] In der Transitivität des lebendigen Weggehens von sich und des Übergehens zum Ewigen liegt für die Andacht das Ganze und das Höchste.“77 Das in Worten artikulierte Gebet78 gründet in dieser schweigenden Begegnung und wächst aus ihr hervor.

Mit Blick auf die Zeiterfahrung des Menschen im Geschehen des Gebets erweist sich betendes Schweigen als Ort, wo der sonst häufig im Alltag bestimmende Grundzug des betriebsamen „Ausmessens“79 der Zeit unterbrochen wird. Statt der funktionalisierenden Vernutzung von Zeiteinheiten begegnet eine „ursprüngliche Zeit“. Sie zeigt sich von sich selbst her dem, der inne hält: „Wird es wohl gelingen, uns einmal aus dem Betrieb zu lösen, diesen hinter uns zu lassen und auch das Messen der Zeit mit der Uhr für eine Weile aufzugeben: um auf den stillen Gang der Zeit selber zu achten, der ursprünglichen Zeit sozusagen, wie sie sich anfänglich von sich selber her zeigt? […] In der Tat, sofern uns dieser Schritt zurück in die Ursprünge einigermaßen gelingt, dann können die Stunden sich verwandeln. Sie können die gewährte Weile werden, etwas Freies und Freigebendes, das sich uns öffnet und uns einen Raum des Atmens und des Lebens einräumt.“80 Unverzweckte Zeit erscheint in ursprünglicher Form als „gewährte Weile“. Dazu schreibt Welte: „Wir wollen diese Weise der Zeitlichkeit Weile nennen, weil sie nicht etwa ein bloßer geometrischer Punkt des Umschlags ist, sondern etwas Weilendes, ein freier Spielraum, sich darin umzusehen und handelnd sich darin zu bewegen. Und wir nennen diese Weile eine gewährte, weil sie sich von sich her öffnet, ohne daß wir sie selber machen könnten. Sie gewährt sie je und je aus ihrem eigenen Ursprung. Wer ist der Gewährende? Keines Menschen Hand kann es machen. Es bleibt Geheimnis. Das sich so Gewährende ist auch ein Gönnendes. Es ist etwas wie eine stille Einladung: Atme und lebe in mir! Und dann haben wir auf einmal Zeit. Nicht freilich durch unsere Kraft und unseren Willen, sondern weil sie sich selber uns gewährte aus ihrem eigenen, geheimnisvollen Ursprung“81 und durch ihre „Einmaligkeit und Vergänglichkeit“, in der zugleich ihre „gönnende Kostbarkeit“82 gegründet ist. Bernhard Welte charakterisiert diese verdichtete Erfahrung von Zeit: „Die gewährte Weile trägt das Zeichen der Einmaligkeit an sich und damit das der Vergänglichkeit. Beides gehört zusammen. Die Weile ist das Kostbare, weil sie einmal sich öffnet und schenkt und dann niemals wiederkehrt. Diese Vergänglichkeit, dieses Niemals-Wiederkehren ist gerade das Siegel ihrer gönnenden Kostbarkeit. […] Wer gönnt und gewährt sie? Wohin geht sie, in welches Niemals? Wer wüsste es zu sagen? Ihre Herkunft und ihr Hingang sind voller Geheimnis.“83 Die biographische Zeitspanne als Prozess ist dem Mensch von „Morgen der Geburt bis zum Abend des Sterbens“ geschenkt. Welte schreibt: „Die gewährte Weile eines Augenblicks gehört in die größere gewährte Weile unseres ganzen Lebens vom Morgen der Geburt bis zum Abend des Sterbens. […] Die gewährte Weile ist wirklich voll von Geheimnis, in ihrem gewährenden Sich-Öffnen, in ihrem verweilenden Verlauf, in ihrer gestimmten Gliederung, in ihrer einmaligen Kostbarkeit, in ihrem Weggang und Heimgang. Voll von einem Geheimnis, das uns herausfordert und einlädt, nicht nur es geschäftig zu vernutzen, was wir freilich bisweilen müssen, sondern mehr noch werden wir eingeladen, bisweilen des Geheimnisses selbst zu gedenken, ja ihm Antwort zu geben, dem Geheimnis, das sich uns öffnet in der Zeit als gewährten Weile.“84 Diesem Geheimnis und „Zuspruch“ antwortet der Mensch im Gebet der Sprache, wo er dazu gelangt, dem Geheimnis, das ihn anspricht, responsorisch zu entsprechen. Welte führt dazu aus: „Darum ist es der Sache angemessen, dem Gewährenden der gewährten Weile und dem Geheimnis, das in ihm spricht, Antwort zu geben: durch das Gebet. Das gewährende Geheimnis also zu nennen und anzurufen: Mein Herr und mein Gott!“.85