Rückkehr nach Europa

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Rückkehr nach Europa
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Gerhard Deiss

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EUROPA

Roman


Für Claudia

Inhalt

Kapitel I

Kapitel II

Kapitel III

Kapitel IV

Kapitel V

Kapitel VI

Kapitel VII

Kapitel VIII

Kapitel IX

Kapitel X

Kapitel XI

Kapitel XII

Kapitel XIII

Kapitel XIV

Kapitel XV

Kapitel XVI

Kapitel XVII

Kapitel XVIII

Kapitel XIX

Kapitel XX

Kapitel XXI

Kapitel XXII

Kapitel XXIII

Kapitel XXIV

Kapitel XXV

I

Die Wellen ergießen sich in gleichmäßigem Rhythmus auf den flachen Strand, doch ist für den, der heimlich lauscht, ein leises, bedrohlich anmutendes Rauschen zu vernehmen, als würde eine riesige Spülung alles unter sich begraben wollen, ein Malstrom vergänglicher Fäkalien … auch wenn wir noch nicht so weit sind.

Und jetzt ein anderer, vielschichtiger Rhythmus, jener der Djemben, der aus dem Rauschen des Meeres emporzusteigen scheint, der aber vom Land kommt. Ein Dorf verabschiedet seine Jugend. Und sind es auch nur acht, wie ich von Badou weiß, sie fahren für alle, und alle haben für die Überfahrt beigesteuert, in der Hoffnung, dass ihnen ein Vielfaches vergolten wird, dann, wenn die Anweisungen eintreffen und die Erträge aus Europa zur Verteilung gelangen.

Die Trommeln in der Nacht verklären die trägen Tage, an denen sich im Dorf wenig bewegt. Mühsal und Plage werden sie gewesen sein, für alle jene, denen der Sinn nach mehr als den Jahreszyklen der Landwirtschaft steht. Mehr als der Perspektive, den Lebensabend unter dem großen Palaverbaum vor der Hütte des Dorfältesten zu verbringen und auf ein erstarrtes Leben zurückzublicken.

Im Dunklen kann ich den Horizont nur erahnen. Doch sehe ich die Silhouette der Ada Bintou, die draußen auf den Wellen schaukelt und am Anker zerrt. Ich soll hier warten, hat mir Badou bedeutet, hier inmitten der Büsche, die das letzte Grün darstellen, bevor der Strand beginnt. Über mir prangen die Sterne in einer Pracht, wie ich sie noch nie gesehen habe, und wie viele Nächte habe ich unter offenem Himmel geschlafen! In Dakar gab es immer Licht, auch wenn der Strom in letzter Zeit wieder häufig ausfiel, doch dann sprangen Hunderte Generatoren an. Und die Solarleuchten verhalfen der Corniche ohnehin zu ständiger Beleuchtung. Hier im Dorf kann man nur vor der Moschee und dem Haus des Dorfältesten die Sonne Afrikas auch in der Nacht scheinen lassen.

Da draußen auf dem Ozean werden uns die Sterne noch viel heller strahlen. Um wie viel leiser wird auch das Schlagen der Wellen gegen den Bootsrand sein als jenes fast wütende Aufklatschen des Wassers auf den Strand, wenn sich festes Land seiner ewig erscheinenden Bewegung entgegenstellt. Aber draußen wird es dann vor allem das Motorengeräusch sein, das nicht nachlassen darf, denn darauf gründet sich unser aller Hoffnung.

Coumba gleitet lautlos aus den Büschen und setzt sich dicht neben mich. Die letzten Tage haben wir wenig miteinander gesprochen, seit sie den Entschluss gefasst hat, die Reise gemeinsam mit mir anzutreten. Wäre ich ohne sie gefahren? Ein sinnloses Unterfangen wäre es gewesen.

Sie zittert leicht, die beginnende Nacht ist kühl. Der Rhythmus der Djemben wird gleichförmig, ruhiger und wird wohl bald zum Verstummen kommen. Der Aufbruch soll noch vor Mitternacht erfolgen, dann, wenn der Mond wieder untergegangen sein wird und die Ebbe einsetzt. Die erste Strecke müssen wir mit geringer Kraft fahren, das volle Motorengeräusch könnte die Aufmerksamkeit der patrouillierenden Küstenwache wecken, denn nur die Schlepperboote, nicht jene der Fischer, fahren um diese Zeit mit voller Kraft.

Badou hatte wegen der Küstenwache keine großen Bedenken. Auch wenn Spanier dabei sind, um Afrikaner noch vor deren eigener Küste abzufangen, ihre Aufmerksamkeit dürfte abgenommen haben, da in den letzten Jahren ohnehin kaum mehr jemand den weiten atlantischen Seeweg wagt, sondern sich lieber den Karawanen nach Algerien und dessen mediterranen Nachbarn anvertraut. Man habe auch genügend Netze zur Tarnung mit, bei Kontrollen sollten sich die Passagiere damit im Rumpf des Bootes bedeckt und versteckt halten. Mir fiel das Gleichnis des Menschenfischers ein; wieso kamen jetzt Erinnerungen aus der Kindheit auf, als mir Religion noch etwas bedeutete? Überhaupt nehme ich eine Wandlung an mir wahr, seit ich erkannt habe, dass ich nur die Wahl zwischen einem langsamen Verkommen in Afrika habe oder diesem einzigen Weg, mit Coumba gemeinsam nach Europa zu gelangen, als sei ich aus einem langen Dämmerschlaf erwacht.

Einzelne Gestalten tauchen aus der Dunkelheit auf. Im schwachen Schein des abnehmenden und untergehenden Mondes besteigen sie eine kleine Piroge. Ich erkenne, dass sie ausgelassen sind, sich auf Europa freuen. Selbst wenn sie flüstern, ist ihre Fröhlichkeit zu erkennen. Was zieht sie weg aus einem Erdteil, wo selbst die Armut von Fröhlichkeit überlagert zu sein scheint? Es sind offenbar nicht die acht Jugendlichen aus dem Dorf, sondern Angehörige einer anderen Ethnie, besonders groß gewachsene Männer, noch größer als die Lebous aus dieser Gegend.

Nach und nach treffen weitere Gruppen ein und lassen sich zur Ada Bintou übersetzen. Ich sehe nur die Umrisse unserer künftigen Schicksalsgenossen. Coumba und ich werden als Letzte an Bord gehen. Badou hat es so angeordnet. Badou ordnet alles an, er ist unser Kapitän und hat das Sagen, auch schon vor der Abfahrt. Er hat auch die Verantwortung, uns heil über das Meer zu bringen, nach Norden hin.

Coumba ist nicht eingeschlafen. Ihr Kopf ruht auf meiner Schulter, ich höre ihr gleichmäßiges Atmen, manchmal durchfährt ein leises Zittern ihren Körper. Dann presse ich sie noch enger an mich und beruhige damit auch mich. Gemeinsam sind wir stärker und gemeinsam werden wir dem, was auf uns zukommt, gelassen entgegentreten, auch wenn wir Außenseiter sind, die auf dem Boot eigentlich nichts verloren hätten.

Abdoulaye steht plötzlich vor uns und brüllt uns an, senkt jedoch gleich wieder die Stimme. Wo wir steckten, man warte nur noch auf uns. Badous Steuermann ist auch sein bedingungsloser Gehilfe. Er liebt es offenbar, herumzukommandieren und sich wichtigzumachen, anders als Badou, der zwar bestimmt auftritt, aber nie lauter spricht als nötig. Ich befühle meinen Seesack von außen und spüre die Umrisse des Pakets. Ich helfe Coumba auf und trage auch ihren Sack zum Boot. Gemeinsam mit Abdoulaye werden wir zur Ada Bintou übergesetzt und klettern an Bord. Die Dunkelheit breitet gnädig einen Mantel über uns aus.

Im Heck haben sich Badou und Abdoulaye einen größeren Platz ausbedungen, nicht nur um von dort aus das Schiff zu lenken und die Bootsinsassen im Blick zu haben, sondern auch um sich abwechselnd ausruhen zu können. Mittschiffs sind die begehrtesten Plätze, die auch schon alle belegt zu sein scheinen, zumindest streiten sich etliche darum. Acht aus Guinea, die der Ethnie der Peul angehören dürften, haben sich dort bereits niedergelassen, da sie als erste das Schiff bestiegen haben, dann kamen aber die acht Lebous aus dem Dorf und wollten ihnen die Plätze streitig machen. Sie hätten diese schon früher bei Abdoulaye reserviert. Die nachfolgenden Passagiere versuchten erst gar nicht, auch dort Platz zu bekommen, so heftig ist der Streit entbrannt, einer hat sogar das Messer gezogen. Derart abgelenkt haben die Passagiere unsere Ankunft mit Abdoulaye gar nicht mitbekommen. Dieser verweist uns mit einer kurzen Handbewegung in den Bug, wo wir uns vor dem halb überdeckten Bereich einigermaßen einrichten können. Neben Coumba befindet sich ein großer Wasserbehälter, auf der anderen Seite ist sie durch mich geschützt. Sie ist die einzige Frau an Bord. Mein Nachbar auf der anderen Seite, ein junger Mann, schläft trotz des Lärms bereits tief und fest. Abdoulaye versucht den Streit zu schlichten – offenbar hat er für etwas kassiert, das er nun nicht erfüllen kann –, aber erst Badous Einschreiten und die Angst, der Lärm könnte zu viel Aufmerksamkeit erwecken, bringen wieder Ruhe.

 

Badou wirft den Motor an. Nur sehr langsam kommen wir gegen die Flut voran. Ich höre, wie Coumba, die sich halb hinter mir versteckt hat, leise vor sich hin spricht, wohl eine Sure aus dem Koran. Bei all ihrer Weltoffenheit ist die Religion stets ein fester Bestandteil ihres Lebens gewesen, nie lässt sie ein Gebet ausfallen. Jetzt ist es offenbar aber die Angst, sie befindet sich schließlich überhaupt das erste Mal auf dem Meer, und das Auf und Ab des Bootes macht sich besonders im Bug bemerkbar. Hoch in die Luft und wieder hinunter wie auf der Hochschaubahn, jeder Aufprall im Wellental lässt das Boot erzittern. Die meisten anderen sind mit dem Element offensichtlich vertraut und rufen einander durch das Rauschen der Brandung Aufmunterungen und Scherzworte zu. Einige haben begonnen, aus ihrem Gepäck Proviant herauszuholen und verzehren mit Genuss wohl zum letzten Mal für längere Zeit frische mit Fischaufstrich gefüllte Weißbrote. Langsam wird es auch ruhiger. Der Mond ist untergegangen, und das Boot befindet sich mittlerweile schon weit von der Küste entfernt. Die Wellen werden kleiner und das Auf und Ab im Bug wird sanfter. Coumba ist eingeschlafen. Ich lege sie sacht neben mich und wickle sie in unsere gemeinsame Decke. Wir haben nur Platz für eine Decke, Coumba und ich müssen einander wärmen. In meiner Tasche finde ich einen geräucherten Fisch, verzehre ihn mit großem Appetit und fühle mich danach angenehm schläfrig. Ich krieche zu Coumba unter die Decke und suche den Schlaf. Auch die anderen sind zumeist schon eingeschlafen und träumen wohl davon, bereits auf Fuerteventura, beim großen Glück, angekommen zu sein. To sleep, to die … ab morgen kann alles anders sein.

II

Den afrikanischen Namen Mamadou hat mir Aziz gegeben. Aziz lebt von Wertkarten für Mobiltelefone, dort, wo die Corniche in Dakar nach links in das Plateau hineinbiegt und wo jeden Morgen der Verkehr zum Erliegen kommt. Manchmal stehen die Autokolonnen schon einige hundert Meter früher und die Straßenverkäufer müssen die Gunst des Morgenstaus rasch nutzen, um die verschiedensten Waren an den Mann, manchmal auch an die Frau zu bringen, denn wer nicht rasch genug handelt, wird von den wie aus dem Nichts auftauchenden Konkurrenten verdrängt. Sicherer ist das Geschäft jedenfalls vor der ersten Ampel des Boulevards, der das Plateau durchschneidet, wo man sich, aus der Weitläufigkeit der breiten Uferstraße kommend, plötzlich eingeengt fühlt und wo die Polizei öfters auch die Obdachlosen vertreibt.

Zu diesen zählte auch ich, nachdem mein Visum abgelaufen und meine Geldreserven erschöpft waren. Das Visum war bereits mehrmals verlängert worden, da aber mein Aussehen immer mehr dem eines Clochards glich, verwies man mich bei der Fremdenpolizei des Büros. Man wolle arbeitende Ausländer oder Touristen im Land, keine europäischen Aussteiger und Sozialfälle. Würde ich das Land nicht vor Ablauf des Visums verlassen, hätte ich bald Gelegenheit, ein Gefängnis des Landes kennenzulernen. Diese Drohung nahm ich zwar nicht sehr ernst, denn noch nie war man hier eines Ausländers mit illegalem Aufenthalt habhaft geworden, aber allein die Vorstellung ließ mich erschauern, hatte ich doch Fotos gesehen von überbelegten Massenzellen, wo alle seitlich, in dieselbe Richtung gedreht, schlafen müssen. Mir fiel die Geschichte mit der genormten Gurkenkrümmung ein, dieser bekannten bürokratischen Überregulierung in Europa, die eine bessere Verpackungskapazität bewirken sollte.

Nun war ich ein Illegaler in einem Land, das seinerseits selbst einige Illegale in meiner Heimat stellt. Meine Heimat – aber die gab es gar nicht mehr. Ich war von ihr in meiner Erinnerung durch ein dunstartiges Gebilde getrennt, eine Wolke, die mich nicht mehr erkennen ließ, woher ich kam. Und wohin ich wollte – ich wusste es noch weniger. Ich hatte damit aufgehört, über den Augenblick hinaus zu denken.

Dass es eine diplomatische Vertretung meines mir nicht mehr präsenten Heimatlandes in dieser Stadt gab, war mir wegen dieser Wolke konsequenterweise ebenso wenig bewusst.

Ich fing an, die Autokolonnen im Abendstau entlangzugehen und die Insassen um »ein Stück« (une pièce) anzubetteln. Une pièce, dabei handelte es sich um eine Geldmünze, die zwar einen dreistelligen Betrag aufwies, mit der man aber nur etwas mehr als ein halbes Weißbrot zu erstehen vermochte.

Ich erinnere mich noch deutlich an die erstaunten Gesichter und die Frage, warum ein Toubab jetzt anfinge, die Schwarzen anzubetteln. Es gab auch einige weiße Autofahrer – in der Stadt ist eine nicht unbeträchtliche Zahl von Botschaften, internationalen Organisationen, Sekretariaten und sonstigen internationalen Hilfsvereinen angesiedelt, die meist über stattliche Geländeautos verfügen, auch von Weißen chauffiert –, die mich erstaunt, teils teilnahmsvoll, teils verächtlich behandelten. »Ein Weißer, der bei den Schwarzen bettelt – wir verlieren den letzten Rest unseres Ansehens«, hatte mir einmal ein vierschrötiger Typ mit Strohhut vom Volant aus zugerufen und den elektrischen Fensterheber betätigt.

Aziz war am zweiten Tag auf mich aufmerksam geworden, als ich im dichten Verkehr fast unter die Räder gekommen wäre, nachdem ich von einem der ausladenden Außenspiegel umgerissen worden war. Zwei junge Burschen halfen mir auf und brachten mich an den Straßenrand in Sicherheit, ungeachtet des damit verbundenen Umsatzverlusts, denn an diesem Tag waren die Telefonwertkarten wegen einer Sonderaktion (100 Prozent plus!) besonders begehrt, und deren Erwerb hatte den Stau offenbar noch zusätzlich verstärkt. Ich lag neben einem der frisch gepflanzten Bäumchen, die das frühere Ödland zwischen der Corniche und dem Absturz hinunter zum Meer verzieren, seit sich die Stadtverwaltung im Angesicht der bevorstehenden Wahlen die Verschönerung der Küstenlandschaft auf die Fahne heften wollte.

Aziz war Capo der Wertkartenverkäufer. Ein wohl zwei Meter großer Mann mittleren Alters, der etwa ein Dutzend junger Burschen zu koordinieren versuchte. Es blieb wohl beim Versuch, denn die Verkäufer waren alle selbstständig und rechneten direkt mit dem Mobilfunkbetreiber Orange ab. Dennoch lieferten sie Aziz einen Teil ihres bescheidenen Verkaufsgewinns ab, und er sorgte dafür, dass in seinem Abschnitt keine neuen Konkurrenten auftauchten. Als Bettler war ich kein Konkurrent, und so versuchte er auch nicht, mich zu vertreiben. Als er mich im dürftigen Schatten des jungen Bäumchens liegen sah, wurde er zu einem barmherzigen Samariter: »Was musst du dich auch zwischen den Autos herumdrängen, überlass das doch den Jungen – oder den ganz Alten, denen gibt man eher une pièce als einem Weißen, der weder jung noch alt ist, weder besonders verwahrlost noch besonders durchgeistigt oder religiös wirkt.« Er gab mir eines seiner Trinkwassersäckchen, dessen lauwarmen Inhalt ich auf einen Zug leerte. Er hatte recht, damals war meine Kleidung noch nicht sehr zerrissen, Hemd und Hose wirkten recht europäisch, ich hätte mir wohl einen der afrikanischen Boubous umhängen sollen. Aziz brachte mir meinen Sack, der einige hundert Meter von meinem jetzigen Standort lag, so weit hatte sich der Anfang des Staus bereits hinaufverschoben.

»Was machst du eigentlich hier? Du bekommst doch sicher ohnehin von deiner Regierung oder deiner Botschaft Unterstützung? Davon hören wir immer wieder. Bei uns ist es die Familie, die zusammenhält und sich gegenseitig unterstützt. Hast du keine Familie – hier oder zu Hause?«

Ich konnte ihm keine Antwort geben, zu weit weg waren in Zeit und Raum Eltern und Geschwister oder die Frau, deren Namen ich verdrängt und deretwegen ich Europa einst verlassen hatte. Oder war es aus einem anderen Grund gewesen? Ich vermag es nicht mehr eindeutig zu sagen. Alles wollte ich vergessen, und schließlich war es mir auch gelungen, zumindest vorübergehend, damals am Festland, auch wenn jetzt das Schaukeln der Wellen wieder schemenhafte Figuren aufsteigen lässt, die aber von unserem Boot noch weit entfernt sind.

Aziz ließ mich damals am Abend an seinem Reis teilhaben, von dem ich gierig Hände voll herausschaufelte. »Mamadou« – er hatte mir auf einmal selbst einen Namen gegeben, ohne mich nach meinem echten Namen zu fragen, obwohl der Namen üblicherweise als erstes erfragt wird –, »Mamadou, nur mit der rechten Hand essen!«, ermahnte er mich mehrmals. Wir saßen etwas unterhalb der Kante, dort, wo das Plateau zum Meer hinunter abbricht, um nicht von den Polizisten, die abends die Corniche von Obdachlosen freizuhalten versuchten, vertrieben zu werden. Aziz hatte zwar eine Schlafstelle bei seiner Schwester, war aber gerade mit ihr zerstritten, weil er nicht genügend für den gemeinsamen Haushalt beisteuerte, und kam nur selten in ihr Haus, eigentlich einen Bretterverschlag am Rand des HLM-Marktes, um sich etwas zum Anziehen zu holen.

Von nun an war ich als Mamadou bekannt, einer der Unzähligen, die diesen Namen hier tragen, sicher der einzige mit weißer Hautfarbe, aber nichtsdestotrotz einer der vielen Mamadous, die täglich die stauenden Autos auf- und abliefen. Einige Monate vorher war ich fast noch wie ein Aussätziger behandelt worden, obwohl ich damals noch nicht gebettelt, sondern nur die Tage an der Corniche verbracht hatte, vielmehr auf der kahlen unbebauten Stelle hin zum Abbruch. Damals waren die ersten Vorbereitungen für die Verschönerung dieser verwahrlosten Stein- und Sandwüste getroffen worden. Die großen Betonröhren, die schon vor längerer Zeit dort abgeladen worden waren, ohne dass man wusste wozu, dienten mir als Schlafstätte. Diese musste ich oft verteidigen, manchmal sogar tätlich, wenn jemand behauptete, ich hätte ihm seinen angestammten Platz weggenommen und dann lautstark die Hilfe der anderen anforderte. Ich verstand es aber meist, mich durchzusetzen. Ich bin zwar kein Ringer, wie eines dieser Volksidole, doch hatte ich einmal Judo und Selbstverteidigung gelernt, und das reichte meist aus.

Irgendwie geschah es, dass ich vorübergehend bekannt wurde. Angeblich (ich hörte all das nur von einigen meiner täglichen Kontakte auf der Corniche) berichteten sogar mehrere Zeitungen über den europäischen Gestrandeten, den »Gefangenen der Corniche«, obwohl ich die Versuche der Journalisten, mir Aussagen zu entlocken, abwehrte. Sie waren recht zudringlich, einer quetschte sich sogar zu mir in die Betonröhre. Aus seinem Redeschwall war auch das Wort »Diogenes« zu vernehmen, womit er wahrscheinlich seine Bildung unter Beweis stellen wollte. Ich tat so, als ob ich des Französischen nicht mächtig sei und auch nicht des Englischen, als er ein paar Brocken in dieser Sprache anzubringen versuchte. Schließlich gab er es auf und erfand für seinen Artikel eine gute Story. Angeblich sei ich in meiner Heimat verfolgt worden, weil ich mich dort zu sehr für ausländische Flüchtlinge eingesetzt hätte und sei damit meinerseits zu einem Verfolgten geworden. Andere Zeitungen ergingen sich in weniger schmeichelhaften Vermutungen, von einem flüchtigen Betrüger war die Rede, von jemandem, der, da mit einem Fluch behaftet, aus seiner Gesellschaft verstoßen worden sei. Afrikanische Denkweisen wurden auf mich übertragen, die sich sogar zur Mutmaßung verstiegen, ich sei in Wirklichkeit ein heiliger Mann (wobei man nicht so weit ging, mich mit den Marabouts, die in diesem Land Bruderschaften gegründet hatten, zu vergleichen), der Wunder bewerkstelligt und Kranke heilt, wofür er von der europäischen Schulmedizin strengstens verfolgt werde.

Nach einer Woche erlahmte das Interesse, ein besonders grausamer und ungeklärter Mordfall am anderen Ende der Stadt hielt alle in seinem Bann.

Die anderen Okkupanten der Corniche hatten mich nunmehr aber akzeptiert. Mittlerweile hatte ich meine letzten Franc-Scheine aufgebraucht und begann mit dem Betteln. Es kostete mich erst einige Überwindung, die Hand auszustrecken und ein paar Worte auf Wolof, die mir ein alter Bettler beigebracht hatte, zu sagen. Dann merkte ich, es war wirklich ganz einfach, die Hand auszustrecken und Münzen einzusammeln. Einer der Weißen, die mich zur Rede stellten, meinte, diese Methode werde vom ganzen Land angewendet, auch von der Regierung, und da gehe es um mehr als nur um Münzen.

Müəllifin digər kitabları