Kitabı oxu: «Die Heimkehr der Jäger»

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Impressum

Die Heimkehr der Jäger

Mitja Peter

published by: epubli GmbH, Berlin, www.epubli.de

Copyright: 2013 Mitja Peter

Coverbild: 2013 Ingrid Becker

ISBN 978-3-8442-5510-2

“Wir fühlen, daß selbst, wenn alle möglichen

wissenschaftlichen Fragen beantwortet sind,

unsere Lebensprobleme noch gar nicht berührt sind.“

Ludwig Wittgenstein (Tractatus logico-philosophicus, 6.52)

„I’ve searched the secret mists, I’ve climbed the highest peaks, caught the wild wind home to hear her soft voice speak, no matter where I roam, I will return to my English Rose, for no bonds can ever keep me from she.”

“English Rose”, The Jam

I.

Als Piero zum ersten Mal von einem verschollenen Wissenschaftler mit Namen John Marr hörte, ging er noch zur Schule und verträumte gerade eine Physikstunde in einer der hinteren Bankreihen. Für einige Minuten gelang es dem Lehrer die Aufmerksamkeit des Jungen zu fesseln, die zuvor nur dem Stift gegolten hatte, mit dem er am Rand des vor ihm aufgeschlagen liegenden Heftes winzige Landschaften zeichnete, in denen sich seine Phantasie aber wie in endlosen Weiten bewegte. Das Gesicht des Physiklehrers, eines in Pieros Erinnerung bedrückten, freudlosen Menschen, war für Augenblicke von Begeisterung erhellt, als er über Heisenberg und dessen Begriff der Unschärferelation sprach. Er erzählte, dass es Vermutungen gebe, ein gewisser John Marr habe die von Heisenberg und so vielen anderen Physikern gesuchte so genannte Weltformel, eine Verbindung der großen, bisher unvereinbaren Theorien der modernen Physik, schon vor langer Zeit entdeckt. Marr, in Deutschland geboren, sei 1946 als Siebzehnjähriger (etwa in meinem Alter, dachte Piero) nach England und dann später in die USA gekommen, wo aus Johannes Maar John Marr geworden sei. Das von ihm gefundene einheitliche Modell der Natur habe Marr 1966 in einem Vortrag an der New Yorker Columbia Universität veröffentlichen wollen, doch kurz vor dem Termin sei er verschwunden und bis heute unauffindbar geblieben, obgleich es Beweise gebe, dass er noch lebe. Einige seiner damaligen Studenten beschworen später, dass Marr ihnen die Formel und ihre Herleitung erläutert habe. Sie hätten sich aber keine Notizen dabei machen dürfen und könnten sich daher nur noch bruchstückhaft erinnern. Sie zweifelten jedoch nicht daran, dass Marr eine herausragende Entdeckung gelungen war, möglicherweise sogar ein Vorstoß in eine Region vollkommener Klarheit. Nach diesem Exkurs fiel der Lehrer, der im Jahr darauf an einer zu spät entdeckten Krankheit starb, wieder in seinen gewohnten Trott zurück und Pieros Augen schweiften von ihm ab hinaus, wo die Dächer der Stadt in der Mittagssonne glänzten, während in gleichmäßigen Wellen eine matte Stimme, die kaum mehr jemand beachtete, über den trägen Köpfen der Schüler rollte.

Er begegnete Marie in einem Waschsalon in der Rue de la Santé. Dort verbrachte er manchmal die Abende und las in den Werken irgendeines antiken Philosophen, während die Maschine mit seiner Wäsche lief. Die Geräusche der Maschinen, das meist grelle Licht und die gleichmütige Geschäftigkeit beruhigten ihn. An diesem Frühsommerabend aber war Piero der einzige Kunde. Die Bedienstete des Salons, eine alte dunkelhäutige Frau, war an ihrem Pult neben der Kasse eingenickt. Eine Zeitschrift hing ihr lose in den Händen. Die Beleuchtung war, trotz der fortgeschrittenen Dämmerung, noch nicht eingeschaltet; statt der üblichen Lichtgrelle, strahlten nur die Lämpchen an den Armaturen der Waschanlagen; in dem Halbdunkel - von der Straße drang noch das Licht des nachglühenden Himmels herein - wirkten sie wie die Signale eines nächtlichen Flughafens. Nahe des Boulevard de Port–Royal war die Rue de la Santé nur auf einer Seite von einer Folge recht kleiner Häuser gesäumt. Gegenüber verlief eine mehr als zwei Meter hohe Mauer, die das dahinter liegende unbebaute Gelände zwar verbarg, aber sehr viel Aussicht auf den Himmel und die schier ewigen, stillen Veränderungen der Wolken ließ. Die offenbar brach liegende Fläche jenseits der Mauer erweckte den Eindruck eines noch für alles offenen, ungenutzten Raums, wie es ihn im Inneren der Stadt selten gab, doch vermutlich gehörte das Areal zu dem in einiger Distanz sichtbaren modernen Krankenhaus, und vielleicht würden dort schon bald weitere Gebäude entstehen. In der Nachbarschaft des Waschsalons befanden sich ein Bistro, mit dessen Wirt Piero gut bekannt war, ein Blumenladen, eine Wohnungsagentur, ein Lebensmittelgeschäft und ein Frisör, ein kleines Ensemble des Notwendigen also, wie es in Paris fast in jeder Straße anzutreffen ist, nur dass es in der hellen und zu allen Stunden ruhigen Rue de la Santé kaum möglich scheinen mochte, eine ausreichende Kundschaft zu finden. Piero saß oft vor dem Bistro an einem der drei Holz–Klapptische, die zu jeder Jahreszeit an der Hauswand lehnten und bei Bedarf auf dem schmalen Bürgersteig aufgestellt werden konnten. Die Fassade des Lokals zeigte nach Westen und war dank der fehlenden Bebauung der anderen Straßenseite dem freien Einfall des Sonnenlichts ausgesetzt, so dass man auch an schönen Wintertagen draußen sitzen konnte. Im Übrigen lagen an der Rue de la Santé ausschließlich Klinikgebäude, darunter auch ein Schwesternheim des Augustinerordens. Als Marie eintrat, sah Piero zuerst nur flüchtig von seinem Buch auf, um den Blick sogleich nochmals zu heben. Sie war von zierlicher, schlanker Statur und bewegte sich ein wenig wie ein Junge, und zwar wie ein Junge, der seine Unsicherheit hinter aufgesetzten Gesten der Stärke verbergen will, doch Piero entging auch nicht die wachsame, stolze Verlorenheit des kleinen Mädchens, das zum ersten Mal allein mit dem Zug verreist. Sie mochte kaum zwanzig Jahre alt sein. Sie trug Turnschuhe, weite Baumwoll-Hosen und darüber ein hellblaues Herrenhemd, ihr blondes Haar war kurz geschoren. Über ihren Schultern hing ein Wanderrucksack. Sie trat an das Pult und beugte sich über die schlafende Frau, "Excusez Madame!", sie wiederholte etwas lauter "Excusez Madame!" Hilfesuchend blickte sie hinüber zu Piero: "Kann ich vielleicht trotzdem meine Wäsche schon einlegen." Piero hielt sie dem Akzent nach für eine Amerikanerin. Er sagte: "Nein, Du musst bei Ihr eine Marke kaufen. - "Na gut, ich habe es nicht eilig. Sie wird wohl bald aufwachen." Sie setzte sich zu ihm an den roten Plastiktisch und zog aus einer Einkaufstüte eine Wassermelone hervor, die sie mit einem Taschenmesser anschnitt. Sie sagte, die Melone werde ihr jetzt gut tun, denn sie habe soeben allein zu Abend gegessen und dabei eine ganze Flasche Wein getrunken. Das kurze Haar stand ihr wundervoll, denn es lenkte den Blick auf ihren schönen, beflaumten Nacken und die zierlichen Ohren. Wie selbstverständlich, als seien sie längst miteinander vertraut, reichte sie ihm eine Scheibe Melone über den Tisch. Er dankte ihr und biss vorsichtig hinein. Sie schnitt eine weitere Scheibe ab und schaute ihn, an dem Fruchtfleisch nagend, über den Rand des grünen Halbmonds hinweg an. Mit vollem Mund zog sie eine kindliche Grimasse. Als er verlegen einige Kerne aus dem Mund in seine hohle Hand träufeln ließ, reichte sie ihm ein Papiertaschentuch. Während sie weiter aßen, erfuhr er, dass sie aus New York stammte und seit einigen Wochen in Europa umherreiste, um etwas über ihren Vater herauszufinden, der seit bald fünfunddreißig Jahren als verschollen galt. Der einzige Hinweis dafür, dass er noch leben könnte, seien sporadische Veröffentlichungen von wissenschaftlichen Aufsätzen in vorwiegend schweizerischen und britischen Fachzeitschriften, für die manche ihn als Urheber annähmen. Und außerdem sei sie selbst der Beweis, dass er zumindest vor gut zwanzig Jahren noch gelebt habe. Als sie den Namen ihres Vaters nannte, sagte Piero dieser zunächst nichts; erst am nächsten Morgen, als er gerade zu Hause eine Leinwand aufspannte, fiel ihm ein, dass im Schulunterricht irgendwann von einem John Marr die Rede gewesen war. Er setzte sich, starrte auf die weiße, sonnenbeschienene Leinwand, schüttelte den Kopf und wunderte sich doch ein wenig, eine solch prominente Bekanntschaft gemacht zu haben. Marie war erst seit vier Tagen in Paris und wohnte bisher in einem Studentenwohnheim am Boulevard Arago, hatte dort aber nur noch für kurze Zeit ein Zimmer. Piero schlug ihr vor, bei einer Freundin von ihm unterzukommen. Es sei eine Wohngemeinschaft, die gerade noch eine Mitbewohnerin suche. Das Mädchen willigte sogleich ein. Unterdessen war noch etwa ein Drittel der Melone übrig geblieben. Sie bot ihm eine weitere Scheibe an. Als er ablehnte, schob sie schmollend die Unterlippe vor, und einen Augenblick später rückte sie mit ihrem Stuhl um den Tisch herum neben ihn. Dann schnitt sie kleine Melonenstückchen zurecht, entkernte sie, hielt sie ihm zwischen zwei Fingern entgegen und redete ihm wie einem unwilligen Kind liebevoll zu. Als er in ihrer Stimme eine Verheißung wahrzunehmen glaubte, stand er abrupt auf und kramte seine längst fertige Wäsche aus der Maschine. Er packte rasch alles in eine Tasche, gab Marie noch die Adresse von Carla, seiner Freundin, die er telefonisch von allem unterrichten werde, und verließ überstürzt den Waschsalon. Im flüchtigen Umdrehen nach ihr, sah er noch, wie sie sich achselzuckend ein Melonenstückchen in den Mund schob. Die Schwarze an der Kasse war inzwischen aufgewacht und sandte Piero ein müdes, wissendes Lächeln nach. Kaum auf der Straße nannte er sich einen Idioten, doch er kehrte nicht um, sondern lief hastig weiter, warf dann und wann den Kopf in den Nacken und schaute nach den ersten Sternen. Er lief die Rue de la Santé hinab und hatte für eine Weile die halb eingerüstete, sandhelle Kuppel von Val de Grace vor Augen, die in der violettblauen Abendluft leuchtete. Er überquerte den Boulevard de Port–Royal und bog in die schmale Rue Saint Jacques ein, der er bis zum Platz vor dem Pantheon folgte. Fast atemlos betrat er schließlich ein Kino, und während auf der Leinwand ein junger und ein alter Mann über Jahre hin nach einem von Indianern entführten Mädchen suchten, bereute er seine Flucht und empfand doch in der Selbstverachtung zugleich eine lang entbehrte Gewissheit. Im Waschsalon wunderte sich unterdessen Marie über die Tollkühnheit, mit der sie sich Piero genähert hatte, und sie vermutete, dass es neben der Not des Alleinseins vor allem der Wein gewesen war, der sie zu diesem forschen Auftritt getrieben hatte. Piero war ihr bereits wieder gleichgültig, doch als sie gemeinsam die Melone gegessen hatten, war sie von einer spontanen Zuneigung bewegt worden, wie es ihr lange nicht bei einem Jungen widerfahren war. Es sollte nicht noch einmal geschehen, beschloss sie, und sie umgab sich wieder mit dem Schild aus Indifferenz und Traurigkeit, hinter dem sie schon all die vergangenen Wochen des Reisens Schutz gesucht hatte.

Marie zog zwei Tage später bei Carla ein; an Gepäck brachte sie nichts weiter mit, als eine etwas größere Ausgabe des Rucksacks, den sie im Waschsalon dabei gehabt hatte.

Eine Woche verging und Piero hatte über der drängenden Arbeit an zwei Gemälden für eine kleine Galerie im Marais die Begegnung und den in seinen Augen beschämenden Abgang fast vergessen, da rief Marie ihn noch sehr früh am Morgen an und bat ihn in hastigen Worten um ein Treffen innerhalb der nächsten Stunde. Weil er ohnehin dort fotografieren wollte, schlug er ihr die Grande Arche vor, jenen neuen, gewaltigen Triumphbogen im Westen von Paris.

Etwas später saß er schon auf den sonnenhellen Stufen der Freitreppe und beobachtete den weiten Platz von La Defense, der sich vor ihm öffnete wie eine Hochebene zwischen künstlichen Hügeln und Felstürmen, in deren Mitte sich ein leeres Kinderkarussell drehte. Plötzlich sah er auch Marie, die bereits am Fuß der Treppe stand und mit suchenden Augen die zahlreichen Lagernden streifte, bis sich ihre und Pieros Blicke endlich trafen. Das monumentale Bauwerk glich aus ihrer Perspektive der tiefen Laibung eines Fensters zum Himmel. Es war ein revidierter Turm zu Babel, der der Kommunikation der Nationen und der Humanität geweiht war. In der Antike hätte man diesen offenen Kubus wohl zu den Weltwundern gezählt. Piero erinnerte er wegen seiner zwar vollkommen anderen, aber ebenso klaren und schlichten geometrischen Form an die ägyptischen Pyramiden, so als habe sich hier ein moderner Pharao ein Denkmal setzen wollen. Marie war zu Piero hinauf gestiegen. Sie setzte sich lächelnd, aber grußlos neben ihn und nahm ihren Rucksack ab. "Hallo du Wanderin zwischen den Welten", sagte er, wobei seine Stimme nicht den lockeren Klang annahm, den er ihr geben wollte. Er versuchte ihrem Verhalten abzulesen, was sie denn nach seinem fluchtartigen Aufbruch im Waschsalon nun von ihm denken mochte. Sie schwieg zunächst und ihre Augen strichen unruhig über den Platz. Nach einer Weile lehnte sie sich gegen Pieros Schulter: "Siehst du den Mann dort am Karussell?" - Piero erkannte eine einsame Gestalt, die auf der Plattform des Karussells hockte und offenbar zu ihnen hinauf schaute. Er war einen Augenblick versucht, ihr sofort zuzuwinken. Marie schien seine übermütige Laune zu bemerken, denn sie legte eine Hand auf seinen Unterarm. - "Was ist mit ihm", fragte Piero, "ein schüchterner Verehrer?" - "Schüchtern nicht gerade", sagte Marie, "es ist ein Detektiv und er folgt mir vielleicht schon seit Wochen. Meine Mutter hat ihn engagiert. Vor einigen Tagen hat er sich mir vorgestellt. Meine Leibgarde. Ich habe ihm gesagt, dass er sich zurück nach New York scheren solle. Aber er ist nicht der Typ, der sich leicht abweisen lässt. Ich war heute Morgen in der Nationalbibliothek. Er saß zwei Tische hinter mir, über ein Buch gebeugt, aber ich spürte, dass er nicht las, sondern mich beobachtete. Drehte ich mich um nach ihm, so lächelte er mir freundlich zu. Nach einer Weile verließ er den Lesesaal. Ich atmete schon auf. Doch später, als ich mir in der Nähe der Oper ein Sandwich holte, sah ich ihn an der Ecke gegenüber aus einem Café kommen. Er blieb kurz stehen und wandte mir für einen Augenblick sein Gesicht zu, dann verschwand er rasch in einer Metrostation. Ich lief in ein Kaufhaus, wo ich mit der Rolltreppe ins oberste Stockwerk fuhr und gleich darauf mit dem Aufzug wieder hinab. Dann nahm ich die Metro, schaute mich unruhig im Abteil um, aber er war nicht unter den Fahrgästen. Doch als ich ausstieg, trat auch er zwei Wagen weiter aus der Bahn. Er blieb stehen, zog einen Plan aus einer Tasche seiner Jacke und studierte ihn. In einem Pulk von Menschen ging ich an ihm vorüber. Erst als ich hier unten an der Treppe stand, blickte ich zurück - und dort saß er dann, an dem Karussell." Piero schaute nachdenklich in die Ferne, wo der Tag der Weltstadt unter einem Meer von Dunst Sekunde für Sekunde sein einmaliges Geflecht webte. Er fühlte einen leichten Stoß in der Seite. "Hey! Hörst du mir denn auch zu?" -"Hast du etwas gefunden?" fragte Piero, "ich meine, über deinen Vater." - "Einige frühe Publikationen von ihm waren in der Kartei, aber nichts zu seiner Biographie." Sie kramte ein Notizbuch aus ihrem Rucksack und las in den Aufzeichnungen, die sie sich in der Bibliothek gemacht hatte.

Piero fasste den Mann am Karussell wieder ins Auge und hörte nur nebenbei Marie zu, die ihm mit leicht belustigtem Tonfall die Titel der von ihr entdeckten Aufsätze vorlas: "Einige beiläufige Aspekte der Steady-State-Theorie, Notwendige Anmerkungen zum zweiten Hauptsatz der Thermodynamik, Das Bose-Einstein-Kondensat und seine potentielle Bedeutung, Die Natur der mathematischen Wahrheit, Das Gibbs-Phänomen und die Äquivalenz von Mikro- und Makrokosmos." Er scheint noch jung zu sein, dachte Piero, etwa in meinem Alter, Ende zwanzig vielleicht. Die Menschen, die sich unten auf dem Platz bewegten, glichen beweglichen Figuren in einem Modell einer Stadt der Zukunft, die in den wechselseitig sich spiegelnden Türmen der internationalen Unternehmen im Umkreis schon verwirklicht war. Der Fremde hatte sich unterdessen nicht bewegt; aber auf den hinter ihm kreisenden Karussellfiguren saßen nun einige Kinder. Tatsächlich war er sieben Tage zuvor in das Studentenheim am Boulevard Arago gekommen, wo Marie eines der karg eingerichteten Zimmer bezogen hatte, die vorübergehend auch an Reisende vermietet wurden. Sie kniete soeben an dem hohen, fast bis zum Fußboden reichenden Fenster ihres Zimmers, da fiel das schwere Eingangstor, durch das man von der Allee aus den kiesbestreuten Hof betrat, ins Schloss. Sie hielt den Ankömmling für einen Studenten. Er wirkte etwas erschöpft, denn er lehnte sich zuerst an einen der schweren mit tiefgrünen Sträuchern bepflanzten Terrakotta–Kübel, die seitlich des Einganges standen und zog seine Jacke aus – eine alte hellbraune Lederjacke mit Strickbünden. Er ließ sie an einem Finger über die Schulter hängen und überquerte langsam, sich umschauend, den kleinen, stillen Hof. Gerade rauschten die Kastanien des Boulevards in einer Böe mächtig auf. Marie spähte zwischen den weißen Unterkleidern hindurch, die sie an den Voluten des kunstvoll geschmiedeten Geländers zum Trocknen drapiert hatte. Auch zwischen den breiten Lamellen des alten Fensterladens hatte sie einige Slips und Hemdchen zum Trocknen ausgehängt und auf dem schmalen Fenstersims standen ihre geputzten, schwarzen Wanderstiefel. Der Blick des Besuchers verharrte unweigerlich an dem mit Wäsche sozusagen dekorierten Fenster inmitten der lehmgelben Fassade. Es war ein städtisches Palais von schlichter Schönheit, vermutlich erbaut im 18. Jahrhundert. Sie wusste plötzlich, dass er aus New York kam und nach ihr suchte. Er trug ein kleines Bärtchen auf Oberlippe und Kinn und während er näher kam, fuhr er sich mehrmals durch das dunkle Haar und strich es nach hinten, bis keine Strähne mehr in die Stirn fiel. Marie richtete sich auf und lehnte sich mit den Unterarmen auf das Eisengestänge. Er rief in fragendem Ton ihren Namen und als sie nickte, stellte er sich vor und bat sie um ein Gespräch.

Sie waren dann in den Garten auf der Rückseite des Hauses gegangen, wo unter Bäumen geschwungene Kieswege um Rasenstücke führten und anschließend hatte er sie noch in ein Café am Place Denfert–Rochereau eingeladen. Sie war kühl und abweisend geblieben. Sie fand das Vorgehen ihrer Mutter empörend und hatte es ihn spüren lassen. Ihn aber hatte ihr Zorn überhaupt nicht beeindruckt; er hatte vielmehr unentwegt so getan, als seien sie bereits ein großartiges Team und in manchen Augenblicken hatte seine jungenhafte Unverfrorenheit ihr wider Willen ein Lächeln abgenötigt. Sie traute ihm manche Tolpatschigkeit zu, doch zugleich spürte sie, dass er seine Arbeit ernst nahm und ihr professionell, wenn auch mit einem Hang zur Pose nachging. Nun wusste sie also um seine Gegenwart; die bisherige Freiheit des Reisens war ihr genommen und das lähmte sie. Sie war nicht mehr allein. Aber war ich nach all den Wochen des Fahrens, so dachte sie, nicht ohnehin an einem Punkt angekommen, an dem ich das Alleinsein nicht mehr auszuhalten begann? War ich nicht in Aix kurz davor gewesen, heimzukehren? Habe ich denn nicht deshalb auch die Bekanntschaft mit Piero auf diese becircende Weise angeknüpft und bin bereitwillig auf sein Angebot eingegangen, bei Carla zu wohnen? Also meinetwegen auch noch dieser Detektiv! Sie fühlte sich einige Tage lang hilflos; sie vermochte sich nicht zu wehren gegen die Sorge ihrer Mutter. Was hätte ein wütender Anruf genutzt? Doch sie war entschlossen, ihre Mutter zumindest für einige Wochen mit Stillschweigen zu strafen. Diese hatte ja nun jemanden vor Ort, von dem sie alles erfahren konnte über das Wohlergehen ihrer Tochter.

"Lass uns einmal nach oben fahren", rief Marie aufspringend zu Piero und schob das Notizbuch in eine Seitentasche des Rucksacks.

Sie starrte die schwindelnd hohen Wände rauen hellen Marmors hinauf; die schimmerten wie Meeresfelsen. Die abgeschrägten Seiten des Würfels, die auf einen Fluchtpunkt im Unendlichen verwiesen, erinnerten sie an die Portalgewände der gotischen Kirchen, die sie in den Wochen zuvor besichtigt hatte. Sie rannte die Stufen empor. Piero folgte ihr zur Plattform im Hohlraum des Kubus, der so groß war, dass in ihm die Kathedrale von Notre-Dame Platz gefunden hätte. Unter der so genannten Wolke, einem mit Stahlseilen zwischen den Innenfassaden ausgespannten Zeltdach, hatten sich vor den an einem freien Gerüst in die Höhe führenden Aufzügen zwei Warteschlangen gebildet. Während Marie sich schon einreihte, lief Piero zu einem Pavillon unter dem Sonnensegel aus weißem Kunststoffgewebe, das von fern - vor allem sobald es in der Dämmerung von Lampen beleuchtet wurde - auch einer Welle oder einem Gebirge gleichen konnte. Die den Raum umschließende und zugleich öffnende Bogenarchitektur ließ die Weite der Erde erahnen und Piero empfand eine unbestimmte Sehnsucht und Erwartung, die erst die Federwolken aus Eiskristallen in großer Himmelshöhe aufnahmen und weiter trugen. Er betrat den gläsernen Pavillon, in dem die Tickets für den Aufzug verkauft wurden und Schautafeln über die Entstehung des Bauwerks und seine technischen Fakten informierten. Eine Reihe großer, bepflanzter Terrakotta-Kübel trennte den Bereich eines Cafés ab, wo Piero für sich und Marie noch zwei Waffeln mit Eis holte. Als sie dann in dem gläsernen Kasten nach oben schwebten, sahen sie auch die Gebiete jenseits des Bogens im Westen. Ihnen fiel ein Friedhof auf, der sich inmitten eines zersiedelten Niemandslandes erstreckte. Dort waren zwar Häuser, Lagerhallen, Schuppen und Werkstätten, ja auch verwahrloste Gärten und Felder zu erkennen, aber dennoch schien diese flache, ausgedehnte Zone am Rand der Stadt ein unbewohntes Brachland zu sein, ein disharmonischer, befremdlicher Bezirk, wie ihn die großen Städte mit der Zeit an ihren Rändern bilden. Im Osten ragten die Bürotürme auftrumpfend empor, so als riefen sie: Hier ist das wahre Zentrum von Paris - doch frei und grandios war die Sicht auf den alten Triumphbogen in der Ferne. Der Aufzug fuhr in das Dach hinein und kam zum Stillstand. Sie betraten einen überraschend großen, hallenartigen Raum, der in mehrere Ebenen unterteilt war, die durch Rampen und Rolltreppen verbunden waren. Es handelte sich um das sogenannte "Forum der Erde", einen Ort der internationalen Kommunikation. Alle Länder hatten hier die Möglichkeit, sich in ihrer Eigenart zu präsentieren. In der Mitte des Raums drehte sich, als größte Attraktion, ein Globus mit dreidimensionaler Oberfläche, der von der tiefsten Ebene bis fast zur Decke reichte. Auf einer Spiralrampe konnten die Besucher der Ausstellung rund um die Erdkugel vom Süd- bis zum Nordpol spazieren und dabei alle Regionen des Planeten in Augenschein nehmen. Die Struktur der Erdoberfläche war plastisch wiedergegeben: die Gebirge mit ihren Gletschern, die glänzenden Meere, die Wüsten und Tiefebenen, die Wälder und Städte, alles war mit einem jeweils anderen Material gestaltet worden, um eine möglichst naturalistische und dennoch naive Wiedergabe des Originals zu schaffen. Marie und Piero liefen die Spirale hinauf, bis sie etwa in Höhe des vierzigsten Grads nördlicher Breite waren. Das Mittelmeer zog gerade an ihnen vorüber, eine leuchtende, transparente Fläche, über deren mal blauem mal türkisfarbenem Grund elektronisch simulierte Wellen strömten, entlang den Küsten weiß schimmernde Bänder.

- "Irgendwo auf dieser Kugel lebt er", sagte Marie.

- "Wie alt warst Du, als er deine Mutter verließ?" fragte Piero.

- "Oh, sie trennten sich noch vor meiner Geburt wieder. Ich bin wohl das Kind einer sehr kurzen Affäre."

- "Wo bist du geboren?" fragte Piero.

- "In New York."

- "Wo auch dein Vater verschwand?"

- "Ja. Er war von der amerikanischen Regierung in eine Forschungsstation in den Rocky Mountains eingeladen worden. Von dort kam er nicht zurück. Meine Mutter erhielt irgendwann einen Anruf. Zunächst hieß es, er sei verhaftet worden, er werde der Spionage verdächtigt. Später sagte man ihr, er sei bei einer Wanderung in den Bergen verschwunden. Der Ort der Station ist mehr oder weniger geheim."

Sie waren die Rampe wieder ein wenig hinab gegangen. Das Sternenmeer, ein mit Seen gesprenkeltes Hochland im Himalaya, glitt langsam vor ihre Augen.

- "Was war es für eine Forschungsstation", fragte Piero.

"Ich vermute, es war ein Laboratorium zur Entwicklung atomarer Waffen," sagte Marie, "ich war dort vor einigen Monaten in der Gegend, am Rand eines verbotenen Gebiets, und habe einen Indianer kennen gelernt, einen Arzt, dessen Großvater Wächter einer Kultstätte seines Stammes war, die seit alter Zeit an der Stelle gelegen haben soll, wo das Laboratorium errichtet wurde. Sie bauten die Station also auf den Indianern heiliger Erde. Als die ersten Baufahrzeuge angerückt seien, habe sein Großvater noch immer vor seiner winzigen Hütte auf dem geweihten Grund gesessen, erzählte mir der Indianer. Polizisten trugen ihn fort. Dabei starb er. Er wurde plötzlich schwer in ihren Händen. Wie eine Statue hatte er vor der Hütte gesessen, stumm, mit ausdruckslosem Gesicht; und als sie ihn hochhoben, behielt er die Haltung des Schneidersitzes bei. Sein Enkel beobachtete die Szene. Er lief zurück ins Reservat, sprach mit niemandem, holte sich Pfeile und Bogen. Als er zurückkam, stand an der Stelle, wo einige Tage zuvor noch seines Großvaters Hütte gewesen war, eine Gruppe von Männern. Die Männer, Weiße, trugen Anzüge und Krawatte, im Kreis um sie parkten schwarze Limousinen. Der Indianerjunge ging zur Hälfte um den Wagenring herum, hob dann plötzlich den Bogen und schoss einige Pfeile in rascher Folge auf die Gruppe ab, noch bevor einige Polizisten eingreifen und ihn überwältigen konnten. Einer der Männer sank von einem Pfeil verwundet nieder. Wegen seiner damals erst zwölf Jahre musste der Täter nicht ins Gefängnis, verbrachte aber einige Monate in einer Art Heim für jugendliche Straftäter, bevor er ins Reservat zurückgebracht wurde. Wie er mir erzählte, gelang es ihm später sogar höhere Schulen zu besuchen und zu studieren. Und heute arbeitet er also als Arzt in dem noch immer bestehenden Reservat."

Marie und Piero waren nun fast wieder am Fuß der Rampe angelangt und Piero wies Marie auf ein Walfischhaupt in den Weiten des Süd-Pazifik hin. Bald erhoben sich vor ihnen die Hänge der Anden mit ihren Schnee- und Eiskappen.

- "Warum hat deine Mutter nichts weiter unternommen, um ihn wiederzufinden?" fragte Piero. - "Sie hatten sich ja schon getrennt zu diesem Zeitpunkt. Ich weiß nicht, ob sie ihn noch liebte, das heißt...." Sie starrte nachdenklich ins Leere. - "Aber du warst doch noch gar nicht geboren, als er verschwand." - "Nein, das ist eben rätselhaft, sie müssen sich später noch einmal begegnet sein," sagte Marie, "oder er ist überhaupt nicht mein Vater; doch Mutter will darüber nicht sprechen." - "Was stand denn damals über den Fall in den Zeitungen?", fragte Piero. Sie verließen die Spirale und gingen zwischen den Ständen und Schaukästen der einzelnen Nationen umher. - "Ich habe einige Artikel in New Yorker Archiven aufgetrieben", sagte Marie, "darin wird zunächst von einer Festnahme berichtet. Später heißt es, er sei freigelassen worden. Ein Verdacht auf Spionage habe sich nicht bestätigt. Dann aber, etwa drei Monate später, erhebt eine Zeitung die Vermutung, er sei tot, die Festnahme wird in Frage gestellt. Tatsächlich folgt kurz darauf die offizielle Version, verkündet von einem hohen Regierungsbeamten, und sie lautete, John Marr sei bei einer Gebirgswanderung tödlich verunglückt. Davon müsse ausgegangen werden, wenn auch die Leiche nicht gefunden worden sei. Diese Behauptungen wurden natürlich einige Jahre später in Zweifel gezogen, als neue Artikel meines Vaters publiziert wurden. Fortan galt er als verschollen."

- "Ich habe übrigens schon in der Schule von einer Gleichung gehört, die er entdeckt haben soll", sagte Piero, "eine Art letztgültige, alles umfassende Theorie zur physikalischen Erklärung des Seins."

Sie blieben jetzt an einem hohen Pult stehen, auf dem ein Buch lag, so groß, dass es von einem Menschen allein nicht getragen werden konnte. Piero blätterte in dem riesigen Band, der nur Fotografien mit kurzen Kommentaren enthielt. Die Bilder zeigten Landschaften der Erde. Piero sah einen mit einem Poncho gekleideten Jungen, der Flöte spielend einen Hochweg in Bolivien dahinschritt; das Muster der Felder im Tal begleitete seinen Weg. Dann sah er wilde Pferde, grasend auf einem Gebirgsplateau in Wyoming; im Hintergrund ragte ein zylinderförmiger, an seinem sanft ansteigenden Fuß mit niedrigen Bäumen bewaldeter Felsen gegen den Himmel auf und das Schwarz-Weiß-Grau der Fotografie schien Piero dem wahren Bild dieser Landschaft näher zu sein als alle Farben. In dem Himmel schwebte eine einzelne leichte Wolke, deren Form an einen Fächer erinnerte. Während Piero noch in dem Buch blätterte, war Marie schon einige Stände weitergegangen. Sie setzte sich an einen Bistrotisch und eine Frau asiatischer Herkunft brachte ihr eine Tasse Tee. Piero blätterte eine weitere Seite auf und sah einen Berg, dessen schnee- und eisbedeckte Flanken sich gleichsam unvermittelt aus dichtbewaldeten Hügeln erhoben. Der breite, weiße Kegel ruhte zwar, leuchtend in der Abendsonne, in der Landschaft, schien aber nicht allein ein Teil von ihr, sondern ebenso auch des Himmels zu sein, dessen Farbtöne er gedämpft erwiderte. Es war, als könne man sich diesem Berg niemals nähern. Die Entfernung, aus der diese Aufnahme entstanden war, war die äußerste Nähe, die er zuließ. Jedem Aufbruch in seine Richtung würde er sich verweigern. In ewig unveränderlicher Größe würde er im Wandel der Zeit dort ruhen und bloß den Veränderungen des Lichts folgen, während sich die Expeditionen bereits in den Wäldern zu seinen Füssen zerschlugen. Piero schloss langsam das Buch. Sein Blick blieb an dem kreisrunden Foto auf dem Einband haften; es zeigte ein schwarzes, von Lichtreflexen besticktes Meer, im Vordergrund türmten sich mächtige, glänzende Steinquader auf. Die Wolken waren wie leuchtende Schwämme, die das Licht aus dem Raum aufgesaugt hatten, um für ihren Weg durch die Nacht gerüstet zu sein. Nachdem er es lange betrachtet hatte, löste sich Piero von dem Bild und ging zu Marie. Sie empfahl ihm den Tee, den sie trank. Er bestellte ebenfalls eine Tasse davon. Sie saßen an einer bis zum Boden reichenden Fensterfront und schauten nach Westen, wo das Meer war. Er dachte an das tollkühne Kunstexperiment, dem er sich seit einiger Zeit hingab. Die Frage stellte sich ihm, ob es eine Malerei geben könne, die zugleich vollkommen abstrakt und vollkommen gegenständlich war, die nichts abbildete und dennoch ein Sujet hatte.

9,08 ₼
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9783844255102
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