Simonetta

Mesaj mə
Müəllif:
0
Rəylər
Fraqment oxumaq
Oxunmuşu qeyd etmək
Simonetta
Şrift:Daha az АаDaha çox Аа

Paul Ott

Simonetta

Ein Leben in der Renaissance

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

Toskana

1

2

3

4

5

6

7

8

Toskana

9

10

11

12

13

14

Toskana

15

16

17

Toskana

Impressum neobooks

Toskana

Golden glühten die Hügel der Toskana in der trockenen Hitze des Spätsommertags, als ich zum wiederholten Mal im Verlauf meines Urlaubs den weiteren Weg zurück zu meiner Herberge wanderte, einfach deshalb, weil er abseits der Überlandstraße durch die Rebberge führte. Zwischen zwei Platanen, die wie Wächter auf einer kleinen Anhöhe thronten, führte das steinige, jetzt im Herbst staubtrockene Sträßchen hinunter zu einem Rebgut. Außerhalb des Hauptgebäudes, das in seiner schlossähnlichen Pracht dem Besitzer als zeitweiliger Wohnraum diente, duckten sich niedrige, ziegelbedeckte Steinhäuschen in den Lehm des Weinberges.

Ich war eben an der ersten Türe vorübermarschiert, als ich den Alten erblickte, der vor dem mittleren Haus auf einer hölzernen Bank hinter einem grob geschnittenen, sonnengebleichten Tisch saß. Er grüßte mich wie jedes Mal mit einer Handbewegung, welche das Lüften eines Hutes andeuten sollte, obwohl er sich barhäuptig im Schatten eines Olivenbaumes befand. Diesmal jedoch ließ er es nicht beim Begrüßen bewenden, sondern winkte mich mit einer ungeduldigen Geste zu sich heran.

Als ich vor ihm stand, lächelte er mir zu und lud mich zum Sitzen ein. Ohne ein weiteres Wort erhob er sich von der Bank, auf der ich eben Platz genommen hatte, begab sich ins Innere des Hauses und kam nach kurzer Zeit zurück, unter den Arm ein breites, fladenartiges Brot geklemmt, in der einen Hand eine Flasche und zwei Gläser, in der andern eine Schüssel kleiner, schwarzer Oliven.

Ich seufzte auf, durstig war ich wohl, aber die Sonne brannte noch ein wenig heiß für den alkoholreichen Wein der Gegend. Als der alte Mann mir das Glas reichte, erwies sich das Getränk jedoch als kühl und erfrischend. Er brach ein Stück Brot mit den Händen und reichte es mir zusammen mit der Schale Oliven, gleichzeitig stellte er sich mit dem Namen Domenico Vespucci vor. Ich entgegnete die Höflichkeit und dankte für die Einladung.

Ich machte mir bereits Gedanken über diesen Namen, der mir bekannt vorkam, obwohl ich den Mann vor meinem Aufenthalt in dieser Gegend nie gesehen hatte. Als wir die Gläser ein erstes Mal geleert und auf den Tisch zurückgestellt hatten, wo er sie sogleich nachfüllte, räusperte er sich und begann zu sprechen.

„Ich weiß nicht, wie viel Zeit Sie haben, aber wenn Sie mir ein wenig Gesellschaft leisten würden, möchte ich Ihnen eine Geschichte erzählen.“

Ich hatte nichts dagegen einzuwenden, und da sich von meinem Platz aus die weiten Hügel sehr schön beobachten ließen, freute ich mich auf die Erzählung des Mannes neben mir auf der Bank, auch wenn ich nicht wusste, was da kommen sollte.

„Vielleicht ist Ihnen mein Name geläufig. Der Seefahrer Amerigo Vespucci ist vor fünfhundert Jahren bekannt geworden, weniger durch seine navigatorischen Leistungen, die bis heute umstritten sind, sondern dadurch, dass er dem neu entdeckten Kontinent Amerika seinen Namen gegeben hat. Ein Cousin dieses Amerigo nun hieß Marco Vespucci. Ich habe mich mit ihm beschäftigt. Aber leider bleiben die Quellen spärlich, viel mehr als seinen Namen habe ich nicht erfahren. Er ist auch kein direkter Verwandter meiner Familie.

Interessant ist jedoch die Geschichte seiner Frau, die mich mein ganzes Leben lang nicht losgelassen hat. Sie kennen das Bild „Geburt der Venus“ von Sandro Botticelli? Es hängt in den Uffizien in Florenz, aber auch wenn Sie noch nie dort waren, haben Sie es bestimmt schon auf Postkarten gesehen. Diese wunderschöne Frau mit den langen, blonden Haaren; Sie wissen, wir Italiener finden dies besonders faszinierend. Die schaumgeborene Göttin aus dem Meer, das war sie, die Angetraute meines Namensvetters, Simonetta Cattaneo Vespucci.

In der Nacht vom 26. auf den 27. April 1476 starb sie in Florenz, knapp dreiundzwanzigjährig. Eine heimtückische Krankheit raffte die schönste Frau der damals bekannten Erde dahin und hinterließ Trauer, Unverständnis und Verzweiflung. Kurz zuvor noch war sie die Königin an Giulianos Turnier gewesen, die bewunderte Geliebte des Medici-Schönlings.

Die Person der Simonetta war die Grundlage für einen kollektiven Rausch. Sie war ein Star, weltberühmt und jung verstorben, ein Objekt der gemeinsamen Sehnsucht einer Generation, verklärt durch die bekanntesten Maler und Poeten der Zeit. Sie war ein Bild für Männerphantasien, ein Pin Up-Girl für den Pirelli-Kalender der Renaissance!“

Klar machte mich dies neugierig. Ich trank einen weiteren Schluck, die erste Flasche war bereits leer, und bevor Domenico Vespucci weitererzählte, holte er eine zweite aus dem kühlen Keller, dazu eine schwere Salami, von der er dicke Rollen abschnitt und bedächtig kaute, bevor er in einer langsamen, stark betonenden Melodie die Geschichte wieder aufnahm.

1

Die Nacht vom 29. auf den 30. Oktober 1453 ist eine stürmische Nacht, in der schwere Träume den Schlaf verscheuchen. Cattocchia Spinola Cattaneo ist, nachdem sie schon elf Kindern zum Leben verholfen und eines tot geboren hat, mit dem dreizehnten im Bauch zu Verwandten nach Portovenere geflüchtet. Es hat alles ganz harmlos und dennoch in einer für die Zeit ungewohnten Art und Weise begonnen.

Nach einem sonnendurchglühten Herbst haben unbeherrschte Stürme den Außenposten der genuesischen Macht von der Welt abgeschnitten. Der Regen hat den einzigen Zugangsweg entlang des schroffen Vorgebirges überschwemmt, und die Schifffahrt ist früher als üblich eingestellt worden. Aber dies beunruhigt Cattocchia nicht.

Vielmehr sind es die ersten Wehen, welche die Achtunddreißigjährige nun plötzlich mehr schrecken als es die Vorahnung je getan hat. Marco, Pellegrina, Stefano, Francesco, Giovanni, Tomaso, Bettina, Luigina, Nicolò, Marietta und Barnaba sind in den letzten Jahren schon aus Cattocchias Leib gewachsen, jetzt soll es ein letztes Kind werden. Ungewohnt ängstlich erinnert sie sich an das Totgeborene vom vorigen Jahr, und gleichzeitig weiß sie, dass sie sich die notwendige Ruhe gegönnt hat und keine Furcht haben muss.

So liegt sie nun in einem beinahe drei Meter breiten, einfachen Bett, das umgeben ist von derben hölzernen Truhen ohne Schlösser. Eine weiche Matratze erhöht den Komfort. Über ihr wölbt sich ein Baldachin aus schwerem blauen Samt, der nicht nur die Neugierde der Leute im Zaum, sondern auch die Kälte von der Bettstatt entfernt hält. Cattocchias Gastgeber haben an alles gedacht, als sie ihr dieses Schlafzimmer überlassen haben. Und dass neben ihr nur noch die Hebamme im selben Bett schläft, gibt Cattocchia ein völlig neues, bis anhin ungekanntes Gefühl der Freiheit.

Die Geburt kündigt sich in den letzten Tagen des Oktobers an. Bereits vor der Zeit spürt Cattocchia, dass das Kind unruhig wird und sich auf die Welt vorbereitet. Sie befürchtet schon Schlimmes. Nur zögernd lässt sie sich von der Hebamme beruhigen. Jeden Abend organisiert diese die Wache an ihrem Bett von neuem, werden frisches Wasser gekocht und saubere Tücher bereitgelegt.

Aber es dauert dann doch noch einige Tage, bis am 30. Oktober, nach dieser unruhigen Nacht, in der die Kräfte des Himmels sich mit Ungestüm zu Wort melden, im Verlauf des späten Morgens die Wehen beginnen. Gegen elf Uhr wird Cattocchia von der Sklavin und der Hebamme auf den Gebärstuhl gesetzt.

Es dauert nur wenige Minuten, und dann presst die Genueserin unter ihrem weiten Rock ein letztes Mal. Beinahe schmerzlos entspringt ihrem Schoss ein neues Leben, klein und leicht fühlt sich das Neugeborene an, und dennoch ist es ein Versprechen für die Zukunft wie jedes einzelne ihrer zahlreichen Kinder. Dann sinkt Cattocchia erschöpft auf ihr Bett zurück und fällt endlich in einen Schlaf, in welchem sich die Traumbilder jagen.

 

Ein Streit mir ihrem Mann Gaspare Cattaneo hat Cattocchia aus Genua weggetrieben. Trotz der Größe des Hauses und seiner Verantwortung als Familienoberhaupt ist er im fortgeschrittenen Alter abermals zu einer der gefährlichen Reisen nach Southampton aufgebrochen, mit dem Schiff in einem Konvoi durch das piratenverseuchte Mittelmeer.

Dies hat Cattocchia in ihrem Entschluss bestärkt, nach der Geburt nicht mehr ins Haus der Cattaneo zurückzukehren, sondern wiederum in ihrer eigenen Familie Einzug zu halten. Ihre Kinder nehmen den Familiensitz in Beschlag, die ältesten beiden Söhne sind bereits verheiratet und haben ihre Frauen nachgezogen, welche ihrerseits schon Enkelkindern das Leben geschenkt haben. Seit jedoch Cattocchias Mutter gestorben ist und die Geschwister eigene Behausungen bezogen haben, gibt es neben dem Vater genügend Platz. Schließlich gehören die Spinola wie die Familie ihres Mannes zur Aristokratie im Genua des 15. Jahrhunderts, der Familienverband ist eng, so dass Cattocchia trotz des zusätzlich zu versorgenden Kindes gut aufgenommen würde.

Dennoch plagen sie ungewohnte Ängste, trübe Vorzeichen eines kommenden Unglücks, und sie kann die üblen Gedanken nicht aus ihrem Kopf vertreiben, wenn sie sich auch noch so sehr weigert, Unangenehmes in ihren Schlaf eindringen zu lassen. Und so denkt sie an ihr Zuhause und an die Zeit in Portovenere, wo sie sich zum ersten Mal in ihrem Leben Zeit lassen kann, und sie empfindet es als größeren Luxus als die bisher gekannten finanziellen Vorteile, dass sie nicht mehr für den gesamten Haushalt zuständig ist.

Endlich erwacht sie bedächtig aus ihrem traumreichen Schlummer. Sie betrachtet, langsam auftauchend aus dem Schattenreich, das schmucklose Gemach, die nicht verputzten Ziegelwände, und blickt endlich dankbar zum Bild der Maria mit dem Kind auf, das in halber Höhe an der linken Wand hängt. Ein ungelenker Maler hat es wohl in Serienarbeit geschaffen, aber es spendet dennoch Trost, den Cattocchia gerade in dieser schweren Zeit nötig hat.

Es ist inzwischen Abend geworden. Cattocchia sieht sich in der Kammer um und gerät schon sehr in Unruhe, als außer ihr niemand zu erblicken ist. Sie ruft nach der Sklavin Maria, die kaum auf sich warten lässt, die Tür zum Schlafzimmer aufstößt und ihr ein dünnes Bündel in die Hände drückt:

„Ein Mädchen!“

Für Cattocchia ist ein Traum in Erfüllung gegangen. Dieses Geschöpf soll in seinem Leben das Glück mit sich tragen, das ihrer Mutter versagt geblieben ist! Rasch befiehlt sie Maria, den Opal und den Rubin aus der Truhe zu holen, und dann drückt sie dem Kind je einen der Edelsteine in die Hände und schließt die kleinen Finger.

Der Opal ist als Augenstein ein Glücksbringer, er vereinigt Himmel und Erde in einer Verbindung aus Wasser und Feuer, und er wird der im Oktober Geborenen stets die Hoffnung aufrechterhalten, ihr in jeder Not und Gefahr beistehen und sie vor schwermütigen und selbstzerstörerischen Gedanken bewahren. Der Rubin jedoch ist ein Tropfen Blut vom Herzen der Mutter Erde. Er soll das junge Leben vor Krankheiten des Blutes schützen und dem Körper des Mädchens reinigende Kraft verleihen. Aber der rote Stein wird der im Skorpion Geborenen auch helfen gegen Neid, Alpträume und Untreue.

Schließlich soll dem Kind ein Name gegeben werden. Cattocchia wirkt etwas müde, und so richten sich ihre Augen auf die Sklavin, welche sich in biblischen Belangen erstaunlich gut auskennt. Diese denkt einen Augenblick nach und sagt:

„Der nächstgelegene Namenstag eines Heiligen ist der 28. Oktober, derjenige des Apostels Simon, der den Märtyrertod erlitten hat, als er von Feinden seines Glaubens zersägt worden ist.“

Cattocchia denkt daran, dass Simon zusammen mit Judas Thaddäus auch ein Schutzpatron ihrer Heimatstadt ist, zu dessen Ehren jedes Jahr Reiterspiele gefeiert werden.

„Also nennen wir sie Simonetta!“, beschließt Cattocchia im Gedenken an den Heiligen, den Verkünder des Winteranfangs. Denn das Kind ist ein Mädchen der kalten Jahreszeit! Dann sagt sie:

„Wir wollen morgen den Priester zur Taufe aufsuchen.“

Maria macht ein etwas unglückliches Gesicht. Sie wäre lieber gleich sofort gegangen, wirkt das Neugeborene doch etwas schwächlich. Aber die Mutter will dies nicht bewilligen. Sie selber ist noch zu erschöpft, um den Weg auf sich zu nehmen. Wichtiger jedoch ist ihr ein anderes Anliegen:

„Lass bitte sogleich den Sterndeuter kommen!“

2

Im flackernden Licht der Talgkerzen, die entlang den Wänden des Schlafzimmers aufgesteckt sind, empfängt Cattocchia einen Mann, der in der schattenreichen Kammer viel älter wirkt, als er ist. Aber nicht nur die Schatten vermitteln diesen Eindruck, auch sein Gesicht spricht von einem entbehrungsreichen Leben. Die Hebamme und die Sklavin treten einige Schritte zurück, bis sie im Zwielicht, das den Steinen entlang hinunter kriecht, beinahe verschwinden. Maria bekreuzigt sich.

Giulio Malatesta heißt der Mensch unter dem breitkrempigen schwarzen Hut aus Samt. Lange Haare und ein ungebändigter Bart, der schon ins Weißliche neigt, verbergen beinahe das gesamte Gesicht des jüdischen Astrologen, der eigens auf die Tage der Geburt vom Hof von Jacopo III d'Appiano aus Piombino herbestellt worden ist. Nur die Augen blitzen lebhaft aus dem faltigen Antlitz, jedoch zwinkern die Lider unaufhörlich.

„Das macht das schlechte Licht“, sagt Malatesta mit einer dunklen, beruhigenden Stimme, als er den verwunderten Blick der Frau sieht, von der ihm wenig mehr bekannt ist, als dass sie eine Bekannte seines Herrn ist. Und indem er seinen schweren Rock mit einer ungeduldigen Bewegung hinter sich wirft, setzt er sich auf die Truhe, welche seitlich des Bettes steht.

„Signora Spinola, Sie haben mich rufen lassen für die Erstellung eines Horoskops. Ihre Sklavin hat mich sofort nach der Geburt über deren Uhrzeit sowie über das Geschlecht des Neugeborenen in Kenntnis gesetzt. So habe ich mir erlaubt, bereits in meiner Aufgabe tätig zu werden.“

Dabei zieht er ein doppelt gefaltetes Blatt aus der Tasche seines Rocks, gefolgt von den missbilligenden Blicken der Hebamme, welche es lieber gesehen hätte, wenn die kirchliche Segnung vor diesem Teufelsspuk stattgefunden hätte.

Malatesta entfaltet das Blatt, welches dicht beschrieben ist mit Zeichen und Worten. Dominierend wirkt die Zeichnung: Ein kleines Quadrat bildet den inneren Rand, ein großes den äußeren. In diesen Rahmen hineingelegt ist ein weiteres Quadrat, dessen Ecken mit den Seitenmitten des äußeren und dessen Seitenmitten mit den Ecken des inneren Quadrates zusammenfallen. Zuletzt sind auch von Ecke zu Ecke Linien gezogen, die wie Diagonalen ohne mittleren Teil wirken. So entsteht im Innern die anfangs erwähnte kleine quadratische Fläche, um die herum zwölf gleichschenklige Dreiecke angeordnet liegen.

Die Zahlen zwei, drei, vier und die zwölf, das Vielfache davon, sind in diesem Gebilde enthalten, aber auch die fünf, acht und dreizehn kommen vor. Alle Flächen sind beschrieben mit den Symbolen für die Planeten und ihre Wechselwirkungen, welche unterhalb des Diagramms als Text noch gesondert verzeichnet sind.

Indem Malatesta mit für die andern unerklärbaren, ruckartigen Bewegungen den Zeigefinger auf dem Blatt hin und her fahren lässt und nachdem er sich nach dem Namen der neuen Erdenbürgerin erkundigt hat, beginnt er zu erklären:

„Simonettas Horoskop weist in den Konstellationen der Planeten eine ungewöhnliche Häufung in den Häusern acht bis elf auf, wobei sich die meisten im zehnten Haus befinden, demjenigen des Skorpions, also in ihrem eigentlichen Sternzeichen. Als gewichtigen Widerpart im dritten Haus sehen wir den Jupiter, der als einziger Gegenpol sehr viel aufzufangen hat.

Wir haben in Simonetta eine sehr eigenwillige Persönlichkeit vor uns mit einem aktiven, ja beinahe aggressiven Charakter. Ihre Energie, Begeisterungsfähigkeit und Unternehmungslust sind gepaart mit Machtansprüchen. Sie strebt nach Besitz, nach gesellschaftlicher Auszeichnung, nach einer Führungsrolle. Allerdings lässt sie diese impulsive Seite oft zu sehr im Moment leben, ohne Rücksicht auf frühere Versprechungen. Ihre Augenblicksbezogenheit verleiht ihr einen praktischen und wirklichkeitsnahen Blick, lässt sie aber auch wankelmütig werden in Bezug auf Zukunftspläne, welche sich nicht ohne Schwierigkeiten verwirklichen lassen.“

Malatesta räuspert sich, in der Kammer herrscht gespanntes Schweigen, der Wind draußen hat wieder an Stärke zugenommen und rüttelt an den Läden. Die Hebamme bekreuzigt sich und schlägt ein zweites Kreuz über die schlafende Simonetta, bevor sie mit verzweifelter Sehnsucht das Bild der Madonna anblickt.

„Die kaum gebremste Leidenschaftlichkeit steht im Gegensatz zur Neigung des Mädchens, in sich versteckt zu bleiben. Ihre Maßlosigkeit wird nur gebremst durch das nicht immer freiwillige Verständnis für Vorschriften und Prinzipien. So entstehen von Kind an Probleme und Spannungen zwischen der impulsiven, unternehmungslustigen Anlage und der eher kühlen und verschlossenen Seite.

Der Skorpion als bestimmendes Zeichen verleiht Simonetta Scharfsinn und Freude an ungewöhnlichen Fragestellungen. Sie fühlt sich von Abgründigem angezogen und beschäftigt sich gerne mit Themen, die andere beunruhigen. Dabei wird ihre Kompromisslosigkeit sichtbar, ihre grüblerische Suche nach Wahrheit und ihr Zwang, Verborgenes aufzudecken. Durch ihre Leidenschaft wird sie auch in ihren Mitmenschen starke Gefühle hervorrufen. Wenn diese positiv sind, bekräftigen sie ihren Hang zur Macht; sind sie jedoch negativ, ergeben sich eine selbstquälerische Anlage, ein inneres Zweifeln, Konflikte mit Vorschriften und Autoritäten.“

Malatesta reibt sich die Augen. Cattocchia ist bestürzt von den starken Gefühlen, die auf sie einstürmen, und sie fragt sich, ob es neben all den beängstigenden auch erfreuliche Aspekte gebe. Die Sklavin freut sich auf die Unruhe, welche dieses Mädchen in die gesittete Stadt tragen wird. Der Jude fährt fort:

„Für die menschlichen Beziehungen sind verschiedene, teilweise geradezu widersprüchliche Möglichkeiten denkbar. Einerseits haben wir einen starken Besitzanspruch, Eifersucht und herrschsüchtiges Verhalten, andererseits einen ernsthaften, verletzlichen Charakter, der sich gerne auf sich selber zurückziehen möchte. Wird nun die nach außen gerichtete Bewegung zum Zuge kommen oder der selbstzerstörerische Teil? Noch hängt vieles von der Erziehung ab, welche dem Mädchen geboten wird.

Zwei Arten von menschlichen Beziehungen also werden vorherrschen: Entweder nimmt Simonetta die beherrschende Rolle ein, oder sie steht im Banne einer faszinierenden, aber dominierenden Persönlichkeit. Sie braucht von einem zukünftigen Partner das geistig Anregende, das Faszinierende. Sollte dies fehlen, könnte Simonetta sich dazu verleiten lassen, sich in anderen, kurzzeitigen Beziehungen zu verlieren und sich letztlich selbst aufzureiben im ständigen Gefühl, ihre Pflicht zu vernachlässigen. Sie wird in einem langen Prozess lernen müssen, aus der Phase der Unruhe und Rebellion herauszutreten und ihren Weg zwischen Tradition und Eigenheit zu verwirklichen.“

Erneut entsteht eine kurze Pause, unterbrochen von einem seufzenden Laut der Neugeborenen, als ob sie den Sinn des Gesprochenen verstanden hätte.

„Simonetta weist also einen starken, aber verletzlichen Charakter auf, bei dem es wichtig ist, dass sie ihren Weg findet, ohne an ihrer eigenen Energie zu verbrennen. Ein faszinierender Mensch!“

Mit einem Ausdruck von Bewunderung hebt Giulio Malatesta seinen Hut, den er während der ganzen Deutung aufbehalten hat, zum Gruß, steht auf und verlässt die drei Frauen, hinaustretend in die wiederum stürmische Nacht.