Der Weg des Psychonauten – Band 2

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Marie Bonaparte

Der interessanteste Versuch, die Psychoanalyse auf die Kunst anzuwenden, ist die Trilogie über Leben und Werk von Edgar Allan Poe, die von der griechischen Prinzessin Marie Bonaparte verfasst wurde, einer begeisterten Anhängerin Freuds, die ihm die sichere Flucht aus Nazideutschland ermöglichte. Ebenso wie ihr Lehrer und Idol verwendete sie den Ödipus-Komplex als grundlegendes Erklärungsprinzip und Quelle der künstlerischen Inspiration (BONAPARTE 1949). Dies schlägt sich in der Grundstruktur ihres dreibändigen Werkes nieder.

Der erste Band enthält eine äußerst detaillierte Darstellung von Poes Biographie. Der zweite Band, Die Geschichten: Der Zyklus Mutter, befasst sich mit den Erzählungen, die laut Bonaparte von Poes Beziehung zu seiner Mutter, Elizabeth Arnold, inspiriert worden waren. Sie war eine kränkliche Schauspielerin und litt an Tuberkulose, an der sie starb, noch ehe der kleine Edgar drei Jahre alt war. Diese Geschichten beschreiben schwer kranke und sterbende Liebhaberinnen und Ehefrauen, die unter mysteriösen Gebrechen leiden, darunter Berenice, Morella, Ligeia, Rowena, Eleonora, Lady Madeline und andere. Einige andere Geschichten in diesem Band behandeln den Mord an einer weiblichen Figur, stellen die Mutter als Landschaft dar oder repräsentieren ein Eingeständnis der Impotenz.

Der dritte Band, Die Geschichten: Der Zyklus Vater, präsentiert eine Analyse der Erzählungen, welche Poes Beziehung zur männlichen Autorität reflektiert: Diese enthielten entweder ein Aufbegehren gegen die Vaterfigur, Vatermord, die masochistische Kapitulation vor dem Vater oder einen Kampf mit dem Gewissen (Über-Ich). Die männlichen Figuren in Poes Leben waren ebenso problematisch wie die weiblichen. Sein Vater David war ein launischer und widerspenstiger Alkoholiker, der ebenfalls an Tuberkulose litt. Er verschwand in New York City, als Poe 18 Monate alt war. Nach dem Tod der Mutter wurde der kleine Edgar in das Haus von Frances Allan gebracht und von dem Paar adoptiert, und zwar eher gegen den Willen ihres Mannes John Allan, eines schottischen Kaufmanns, der ein strenger Erzieher war und zu Poes zweiter Vaterfigur wurde.

Marie Bonapartes Grundgedanke besagt, dass Kunstwerke die Psychologie ihres Schöpfers offenbaren, insbesondere die Dynamik des Unbewussten. Sie beschrieb Poes Unbewusstes als »äußerst aktiv und voller Schrecken und Qualen« und erwähnte ausdrücklich, dass er ohne sein literarisches Genie ein Leben im Gefängnis oder in einer psychiatrischen Anstalt verbracht hätte. Das Blut, das in mehreren von Poes Erzählungen auftaucht, führte sie auf seine Beobachtung der Hämoptyse zurück, also des Bluthustens, eines häufigen Symptoms der Tuberkulose. Sie schrieb auch der Tatsache große Bedeutung zu, dass der kleine Edgar in den beengten Wohnvierteln, in denen seine armen Eltern lebten, sehr wahrscheinlich die berühmte Freudsche »Urszene« erlebte, ihre sexuellen Aktivitäten beobachtete und sie als sadistische Handlungen interpretierte.


Marie Bonaparte (1882–1962), griechische Prinzessin und begeisterte Schülerin von Sigmund Freud.

Bonapartes konzeptioneller Rahmen beschränkt sich auf die postnatale Biographie und auf das Freudsche individuelle Unbewusste. Obwohl Poes Jugend schwierig war, ist sie keine überzeugende Quelle für die Art von Schrecken, die sich in seinen Geschichten findet. Bonaparte bezieht sich mehrfach auf die Geburt und den Mutterschoß, aber die Sprache verlagert sich – wie bei den meisten Psychoanalytikern üblich – an diesem Punkt von »Erinnerungen« zu »Phantasien«. Ebenso wie Freud weigert sie sich, die Möglichkeit zu akzeptieren, dass das pränatale Leben und die Geburt im Unbewussten als reale Erinnerungen gespeichert werden könnten.

Viele von Poes Geschichten, gerade die makabersten und emotional stärksten, weisen jedoch unverkennbare perinatale Merkmale auf. Zum Beispiel zeigt Poes Erzählung Hinab in den Maelström, ein haarsträubendes Abenteuer dreier norwegischer Brüder, eine tiefe Ähnlichkeit mit der Erfahrung des Strudels, der typischerweise mit dem erneuten Durchleben des Geburtsbeginns einhergeht (Perinatale Grundmatrix II). Das Boot, das die Brüder während ihrer Angelexpedition benutzen, wird von dem monströsen Maelström erfasst und unerbittlich in dessen Mitte getrieben. Zwei der Brüder verlieren ihr Leben in einem hoffnungslosen Kampf gegen diese tobende Naturgewalt. Der dritte, der sich einer ausgeklügelten Strategie bedient, entflieht durch Zufall nach einer hautnahen Begegnung mit dem Tod und überlebt, um die Geschichte zu erzählen.

Das in Poes Erzählung Die Grube und das Pendel beschriebene Gefängnis der Inquisition mit seinen teuflischen Qualen und den sich zusammenziehenden und schließlich glühenden Mauern, aus denen der Held im letzten Moment gerettet wird, weist viele Merkmale der Gebärmutter während der Entbindung auf. In vergleichbarer Weise ähnelt die in Poes gleichnamiger Erzählung beschriebene Flucht des Zwerges Hopp-Frosch aus der Folteratmosphäre des königlichen Hofes den Wiedergeburtserfahrungen (PGM III–IV) aus dem Holotropen Atmen und psychedelischen Sitzungen.


Der amerikanische Schriftsteller Edgar Allan Poe (1809–1849) erfand die moderne Detektivgeschichte und schrieb Erzählungen des Schreckens und des Makabren.

Als der kluge Hofnarr in diesem Buch gebeten wird, sich für einen Maskenball eine besondere Form der Unterhaltung auszudenken, verkleidet er den grausamen König und dessen Minister mit Teer und Flachs als Orang-Utans und setzt sie anschließend in Brand. Im darauffolgenden Chaos klettert er an einem Seil zu einem Loch in der Decke hinauf, um sich mit seiner Gefährtin Trippetta zu vereinen. Die Erfahrung, lebendig begraben zu werden, Poes bevorzugtes Thema, das in vielen seiner Geschichten auftaucht – darunter Lebendig begraben, Das Fass Amontillado, Der verlorene Atem, Der Untergang des Hauses Usher und andere – ist ein häufiges Motiv in perinatalen Sitzungen. Viele perinatale Motive finden sich auch in Poes längstem, seltsamen und rätselhaften Roman mit dem Titel Die Erzählung des Arthur Gordon Pym aus Nantucket.

Der Deutungsansatz von Marie Bonaparte, der sich auf das Freudsche Modell beschränkte, erweist sich als höchst unzulänglich, wenn sie ihn bei der Analyse von Poes Heureka anwendet. Diese großartige Vision der kosmischen Schöpfung unterscheidet sich sehr von allem, was Poe je geschrieben hat. Die Reaktionen auf ihre Veröffentlichung reichten von kritisch bis höchst positiv, einschließlich Lob von Wissenschaftlern. Albert Einstein äußerte sich in einem Brief aus dem Jahr 1934 wie folgt: Heureka sei »eine sehr schöne Leistung eines ungewöhnlich selbständigen Geistes«. In seiner Einleitung verspricht Poe, vom materiellen und geistigen Universum zu erzählen, von dessen Wesen, Ursprung, Schöpfung, seinem gegenwärtigen Zustand und seiner Bestimmung. Wenn er über diese Dinge schreibt, schreibt er die Anfangsbuchstaben von Substantiven und Adjektiven groß, so wie es Psychiatriepatienten oft tun. Marie Bonaparte sieht dies als ein Zeichen von Psychopathologie, aber es ist eindeutig ein Hinweis darauf, dass Poe tiefe transpersonale Quellen angezapft hat. Aus diesem Grund konnten seine Erfahrungen – wie die Erfahrungen der Mystiker – in der gewöhnlichen Sprache nicht angemessen vermittelt werden.

Poes kosmologische Vision ähnelt sehr stark den Weltanschauungen der großen spirituellen Philosophien des Ostens, insbesondere ihren tantrischen Zweigen (MOOKERJEE & KHANNA 1989). Er beschreibt die Erschaffung des Universums als einen Prozess, der in einer Singularität beginnt und eine Reihe unzähliger Trennungen und Differenzierungen umfasst. Dies erzeugt dann eine Gegenreaktion – die Tendenz zur Rückkehr zur ursprünglichen Einheit. Der Fortbestand des Universums erfordert auch eine dritte Kraft, nämlich die Abstoßung, die die Vereinigung der getrennten Teile verhindert.

Die Parallelen zwischen Poes Singularität und Mahabindu – der Quelle der Erschaffung des Universums, die in den tantrischen Schriften beschrieben wird – sind bemerkenswert. Dasselbe gilt für Poes drei kosmische Kräfte, welche die Charakteristika der tantrischen Gunas besitzen: Tamas, Sattva und Rajas, die weibliche Schöpfungskräfte sind. Das Endziel, nach dem das vollendete Universum strebt, ist also die endgültige Wiedervereinigung mit Gott; die einzige Funktion der abstoßenden Kraft würde darin bestehen, diese Wiedervereinigung zu verzögern. In meinem Buch Das kosmische Spiel – Spirituelle und philosophische Schlussfolgerungen aus moderner Bewusstseinsforschung habe ich eine ähnliche Kosmologie beschrieben, die aus den psychedelischen und holotropen Atemsitzungen der Teilnehmer an meiner Forschung hervorgegangen ist (GROF 1998).

Ähnlich wie die Erkenntnisse meiner Klienten hat Poes kosmologische Vision eine starke Ähnlichkeit nicht nur mit den Schriften der spirituellen Systeme, die Aldous Huxley die Philosophia perennis nannte (HUXLEY 1945), sondern auch mit Theorien der modernen Wissenschaft, in diesem Fall mit kosmologischen Spekulationen berühmter Physiker auf der Grundlage astronomischer Beobachtungen. Poe selbst glaubte, dass sein Heureka die Astronomie revolutionieren würde, und seine Ideen wurden in wissenschaftlichen Kreisen durchaus ernsthaft diskutiert.

Eine von Poes Haupthypothesen, dass sich das Universum mit Materie füllt, nachdem ein einziges hochenergetisches Teilchen explodiert ist, ist das ungefähre Äquivalent zu der Theorie zur Entstehung des Kosmos, die im 20. Jahrhundert von Georges Lemaître, Georgiy A. Gamov und Ralph Alpher entwickelt wurde. Ihr Gegner, Fred Hoyle, bezeichnete sie scherzhaft als »Urknalltheorie« und seitdem ist sie unter diesem Namen bekannt. Sie ist bis heute eine der führenden kosmogenetischen Theorien geblieben (ALPHER & HERMAN 2001).

 

Poe stellte die Theorie auf, dass sich das Universum ausdehnen müsse, da die Energie der Explosion die Materie nach außen drücke. Er kam auch zu dem Schluss, dass die Schwerkraft schließlich alle Teilchen wieder zusammenziehen und der Prozess von vorne beginnen würde; diese Idee tauchte auch in Alexander Friedmans Theorie vom pulsierenden Universum auf (FRIEDMAN 1922).

In Heureka lieferte Poe auch eine vernünftige Lösung für das Olberssche Paradoxon vom »dunklen Himmel«, das die Astronomen beschäftigte: Ein statisches Universum mit einer unendlichen Anzahl von Sternen könne nicht dunkel sein, es sei denn, einige der Sterne seien so weit entfernt, dass das Licht uns nicht erreichen würde. Die moderne Bewusstseinsforschung hat gezeigt, dass visionäre Zustände über ein bemerkenswertes Potenzial verfügen, nicht nur außergewöhnliche religiöse Erleuchtung und künstlerische Inspiration zu liefern, sondern auch brillante wissenschaftliche Erkenntnisse, die neue Horizonte eröffnen und wissenschaftliche Problemlösungen begünstigen.

Zahlreiche Beispiele dieser Art finden sich in dem ausgezeichneten Buch von Willis W. Harman mit dem Titel Higher Creativity: Liberating the Unconscious for Breakthrough Insights (HARMAN 1984). Wir werden im nächsten Kapitel auf dieses wichtige Thema zurückkommen. Angesichts Poes brillanter Einsichten, die sich mit denen professioneller Wissenschaftler messen konnten, zeigte sich Bonaparte in ihrer Analyse von Heureka am eklatantesten reduktionistisch.

Für sie war Poes Gott sein leiblicher Vater und die Erschaffung des Kosmos bezog sich auf den biologischen Schöpfungsakt. Poes ursprüngliches Teilchen, aus dem sich der Kosmos entwickelte, war vermeintlich das Spermatozoon. In seiner Phantasie wurde das Universum angeblich von einer Vaterfigur ohne weibliche Beteiligung geschaffen. Die Sehnsucht nach der ursprünglichen Einheit war eine Rückkehr zum Vater und entsprach Poes Loslösung vom Weiblichen. Poes kosmische Phantasie über mehrere Universen spiegelte die Tatsache wider, dass es in seiner Familie noch andere Geschwister gab.

Laut Bonaparte enthüllte Heureka Poes Vermeidung von Mutter und Frau; damit habe er seine literarische Karriere mit einer kosmischen homosexuellen Phantasie beendet. Ich hoffe, dass dieser kurze Exkurs in Marie Bonapartes freudianische Kunstinterpretation gezeigt hat, dass die erweiterte Kartographie der Psyche, einschließlich des perinatalen und transpersonalen Bereichs, einen viel tieferen, reicheren und überzeugenderen konzeptuellen Rahmen für eine psychologische Analyse des Inhalts von Kunstwerken bietet.

Otto Rank

Otto Rank widersprach Freuds beharrlicher Betonung des Primats des Ödipus-Komplexes als Quelle der künstlerischen Inspiration. Seiner Auffassung nach wird die Kreativität der Künstler von dem tiefen Bedürfnis getrieben, die mit dem Trauma der Geburt verbundene Urangst zu verarbeiten und in die Geborgenheit des Mutterleibs zurückzukehren (RANK 1989).

Ranks allgemeine These bezog sich auf die überragende Bedeutung der Geburtserinnerung als mächtige Triebkraft der Psyche, die von der modernen Arbeit mit holotropen Bewusstseinszuständen eindrucksvoll gestützt wurde. Statt den Wunsch nach der Rückkehr in den Mutterleib zu betonen, verlagerte er den Fokus auf den Drang, das Trauma der Durchquerung des Geburtskanals noch einmal zu durchleben und den psychospirituellen Tod und die Wiedergeburt zu erfahren. Wie wir bereits gesehen haben, gelang es tatsächlich, spezifische Erfahrungsmuster zu identifizieren, die mit den vier aufeinanderfolgenden Stadien der Geburt zusammenhängen, den perinatalen Grundmatrizen (PGM), und die spezifische psychodynamische Bedeutung jeder dieser Matrizen zu beschreiben.

Diese Forschung hat auch gezeigt, dass die mythischen Gestalten und Gefilde der Psyche nicht, wie Rank glaubte, aus dem Trauma der Geburt abgeleitet sind, sondern dass sie vielmehr Ausprägungen von Archetypen sind, von autonomen Gestaltungsprinzipien des kollektiven Unbewussten. Statt Produkte von Geburtserinnerungen zu sein, sind sie maßgeblich an der Formung und Vermittlung der Erfahrungen in den verschiedenen Stadien der Geburt beteiligt. Folglich betrachtete Rank die Sphinx und andere dämonische Frauenfiguren wie Hekate, Gorgo, die Sirenen und die Harpyien als Verkörperungen der angstbesetzten Mutter bei der Geburt und nicht als Figuren, die zu einem übergeordneten archetypischen Bereich gehören.

Wie wir im folgenden Abschnitt sehen werden, ist dies die Perspektive, die aus der therapeutischen Arbeit eines anderen Renegaten der psychoanalytischen Bewegung, C.G. Jung, hervorgegangen ist. Jung lehnte Freuds Idee, dass die Motivation für künstlerisches Schaffen darin bestünde, verbotene ödipale Phantasien zu teilen, entschieden ab. Seiner Ansicht nach liegt das Geheimnis des künstlerischen Schaffens und der Wirkungskraft der Kunst in der Rückkehr zum Zustand der »Partizipationsmystik« – zu jener Erfahrungsebene, auf der der Mensch als Kollektiv und nicht als Individuum lebt. Es war nicht Goethe, der den Faust schuf, sondern der Archetyp des Faust, der Goethe schuf (JUNG 1975).

Ein weiterer entscheidender strittiger Punkt in der Auseinandersetzung zwischen Jung und Freud war das Konzept der Libido. Für Jung war die Libido kein natürlicher Trieb, sondern eine universelle Kraft, vergleichbar mit der Entelechie des Aristoteles oder dem Élan vital von Henri Bergson. Dieses Verständnis der Kunst löst das Problem des Genies, das Freud mit den erklärenden Prinzipien seiner Psychoanalyse nicht zu begründen vermochte.

Das Phänomen des Genies lässt sich nicht mit den Begriffen der Individualpsychologie verstehen. Jungs Auffassung zufolge dient das Genie als Kanal für die kosmische Schöpferenergie der Weltenseele (Anima Mundi). Jung verwarf auch Freuds Modell der Psyche, weil es sich auf die postnatale Biographie und das individuelle Unbewusste beschränkte. Er erweiterte es um das kollektive Unbewusste mit seinen historischen und mythologischen Bereichen (JUNG 1990). Das Konzept des kollektiven Unbewussten und seiner Ordnungsprinzipien, der Archetypen, verlieh der künstlerischen Analyse den Tiefgang, den die Freudsche Psychologie nicht bieten konnte.

Jungs erster größerer Versuch, Kunst zu interpretieren, war seine umfassende Analyse des teils lyrischen, teils prosaischen Buches einer Amerikanerin, Miss Frank Miller, das in Genf von Theodore Flournoy herausgegeben wurde und als Miller-Phantasien (MILLER 1906) bekannt ist. Jungs Analyse dieses Buches mit dem Titel Symbole der Wandlung (JUNG 1956) war ein Werk von großer historischer Bedeutung, da seine Veröffentlichung den Beginn des Bruchs zwischen Jung und Freud markierte.

Die Methode der »Amplifikation«, die Jung bei der Analyse von Miss Millers Buch anwandte, wurde zum Vorbild für die Jungsche Herangehensweise an die Analyse von Träumen, psychotischen Erfahrungen, Kunst und anderen Manifestationen der Psyche. Diese Technik besteht darin, Parallelen zwischen den Motiven und Figuren der analysierten Werke in Folklore, Geschichte, Literatur, Kunst und Mythologie anderer Kulturen zu finden und ihre archetypischen Quellen aufzudecken.

Jung hatte einen tiefgreifenden Einfluss auf moderne Schriftsteller und Filmemacher. Wie Freuds berühmte Konzepte (der Ödipus-Komplex, der Kastrationskomplex, die Vagina dentata, das Es und das Über-Ich) ermöglichten Jungs Beschreibungen der wichtigsten Archetypen (der Schatten, die Anima, der Animus, der Trickster, die Große Mutter, der Alte Weise und andere) nicht nur Einsichten über bereits existierende Kunstwerke, sondern auch Inspirationen für Generationen neuer Künstler.

Der Beitrag der psychedelischen Forschung zum Kunstverständnis

Als Albert Hofmann durch einen glücklichen Zufall die mächtige psychedelische Wirkung von LSD entdeckte und diese außergewöhnliche Substanz erforschte, führte dies zu revolutionären Entdeckungen in Bezug auf das Bewusstsein, die menschliche Psyche und den kreativen Prozess. Für Kunsthistoriker und -kritiker brachten die Experimente mit LSD außergewöhnliche neue Einsichten in die Psychologie und Psychopathologie der Kunst.

Sie entdeckten eine tiefe Ähnlichkeit zwischen den Gemälden »normaler« Probanden, die ihre LSD-Visionen darstellten, der Art brut und der Kunst psychiatrischer Patienten, wie sie in Hans Prinzhorns Klassiker Bildnerei der Geisteskranken (PRINZHORN 1995), Walter Morgenthalers Buch Ein Geisteskranker als Künstler (MORGENTHALER 1992) und Roger Cardinals Outsider Art (CARDINAL 1972) dokumentiert sind. Andere psychedelische Malereien zeigten eine starke Ähnlichkeit mit Artefakten einheimischer Kulturen, wie etwa afrikanischen Masken und Fetischen, den Skulpturen der Neuguinea-Stämme am Sepik-Fluss, Rindenmalereien der australischen Aborigines, Garnmalereien der mexikanischen Huicholen, Höhlenmalereien der Chumash in Südkalifornien und anderen.

Es bestand zudem eine unverkennbare Ähnlichkeit zwischen der Kunst der LSD-Probanden und der Kunst von Vertretern verschiedener moderner Stilrichtungen: Abstrakte Kunst, Expressionismus, Impressionismus, Kubismus, Dadaismus, Surrealismus und Phantastischer Realismus. Für Kunstmaler, die an der LSD-Forschung teilnahmen, bedeuteten psychedelische Sitzungen oft eine grundlegende Veränderung ihres künstlerischen Ausdrucks. Ihre Vorstellungskraft wurde viel reicher, ihre Farben lebendiger und ihr Stil wesentlich freier. Gelegentlich waren Menschen, die noch nie zuvor gemalt hatten, in der Lage, herausragende Zeichnungen und Gemälde zu schaffen. Es schien, dass die Kraft des unbewussten Materials, das in ihren Sitzungen zu Tage getreten war, gewissermaßen den Prozess übernahm und die Person als Medium für den künstlerischen Ausdruck nutzte.

Der Einfluss von LSD und anderen psychedelischen Substanzen auf die Kunst jedoch ging wesentlich über den Einfluss auf den Stil der Künstler hinaus, die sich freiwillig als Versuchspersonen zur Verfügung stellten. Eine ganze Generation junger Avantgarde-Künstler schätzte sie als Werkzeuge, um eine tiefe Inspiration im perinatalen Bereich und im archetypischen Bereich des kollektiven Unbewussten zu finden. Sie stellten mit einer bemerkenswerten künstlerischen Kraft ein reiches Spektrum an Erfahrungen dar, die ihren Ursprung in diesen tiefen und normalerweise verborgenen Abgründen der menschlichen Psyche hatten (GROF 2015).

Ihr Selbstversuch führte auch zu ernsthaftem Interesse an Bereichen, die eng mit ihren psychedelischen Erfahrungen zusammenhängen – dem Studium der bedeutenden spirituellen Philosophien des Ostens, einer intensiven Meditationspraxis, der Teilnahme an schamanischen Ritualen, der Verehrung der Göttin und des Heiligen Weiblichen, der Natur-Mystik und verschiedenen esoterischen Lehren. Viele von ihnen dokumentierten ihre eigene spirituelle und philosophische Suche in ihrer Kunst.

Psychedelische Therapie und Selbstversuche mit Psychedelika durch Psychiater und Psychologen leisteten ebenfalls einen Beitrag zur Kunstinterpretation und zur Kunstkritik. Dadurch wurde die Unzulänglichkeit des herkömmlichen Modells der Psyche und die Notwendigkeit seiner radikalen Erweiterung und Revision deutlich. In einem früheren Kapitel beschrieb ich meinen eigenen Vorschlag für ein solches neues Modell auf der Grundlage der Erfahrungen und Beobachtungen aus der Erforschung holotroper Zustände.

Ich möchte dieses Kapitel mit einem kurzen Rückblick auf einen der ersten Versuche schließen, meine erweiterte Kartographie der Psyche für die Analyse der Kunst zu nutzen. Es handelt sich um eine brillante Studie über den großen französischen Schriftsteller und Philosophen Jean-Paul Sartre mit dem Titel Sartre's Rite of Passage, die vor 35 Jahren von Thomas J. Riedlinger verfasst und im Journal of Transpersonal Psychology veröffentlicht wurde (RIEDLINGER 1982). Er brachte überzeugende Beweise dafür, dass man wesentliche Aspekte von Jean-Paul Sartres Werken und seiner Existenzphilosophie anhand seiner schlecht geleiteten und unverarbeiteten psychedelischen Sitzung, die sich auf die perinatale Ebene konzentrierte, begreifen kann.

 

Im Februar 1935 erhielt Sartre im Krankenhaus Sainte-Anne in Le Havre, Frankreich, eine intramuskuläre Meskalin-Injektion. Er war 29 Jahre alt, unbekannt, hatte noch nichts veröffentlicht und arbeitete als Hochschullehrer für Philosophie. Er schrieb ein Buch über Imagination und hoffte, dass die Droge Visionen hervorrufen und ihm einen Einblick in die Dynamik der Psyche geben würde. Sein Wunsch wurde erfüllt, aber er erhielt mehr, als er erwartet hatte.

Als seine Partnerin Simone de Beauvoir ihn am Nachmittag seiner Sitzung anrief, sagte er ihr, dass ihr Anruf ihn vor einem verzweifelten Kampf mit Kraken gerettet habe. Wie wir früher gesehen haben, ist der Tintenfisch ein häufiges Symbol für die PGM II und steht für die Beendigung der Freiheit, die in der aquatischen Umgebung des Mutterleibs erlebt wird. Sartre hatte auch starke optische Illusionen. Die Objekte in der Umgebung veränderten auf groteske Weise ihre Gestalt und wurden zu Todessymbolen: Regenschirme verwandelten sich in Vulkane und Schuhe in Skelette, und menschliche Gesichter sahen monströs aus. Er fürchtete, er würde den Verstand verlieren. All dies sind typische Manifestationen der PGM II.


Jean-Paul Sartre (1905–1980), französischer Schriftsteller, Romancier, Dramatiker und Existenzialphilosoph, mit seiner Frau Simone de Beauvoir (1908–1986), französische Schriftstellerin, Philosophin und politische Aktivistin.

Den ganzen Rest des Abends sah er furchterregende Erscheinungen. Am nächsten Morgen schien er völlig genesen zu sein, aber einige Tage später begannen wiederkehrende Depressionen und Angstzustände, und er fühlte sich von verschiedenen Meeresungeheuern (wie Riesenhummern und Krabben) verfolgt, Häuser hatten schielende Gesichter, Augen und Kiefer, und jedes Zifferblatt schien sich in eine Eule zu verwandeln. Diese Zustände hielten bis zum Sommer an. Sartre stellte seine eigene Diagnose: »Ich leide an einer chronischen halluzinatorischen Psychose«.

Er gab dem Psychiater Daniel Lagache, der ihm das Meskalin verabreicht hatte, die Schuld für seinen »schlechten Trip«; dieser war »ziemlich saturnisch« und erklärte ihm bei der Vorbereitung der Sitzung: »Was es einem antut, ist schrecklich!«. Sartre selbst bestand darauf, dass nicht in erster Linie die Droge für das verantwortlich gewesen sei, was ihm geschah. Er bezeichnete die Wirkung als »nebensächlich« und nahm an, dass die primäre »tiefgreifende« Ursache seiner Reaktion seine allgegenwärtige Identitätskrise sei, die durch seinen Übergang ins Erwachsenenalter entstanden war. Er war nicht bereit, die soziale Verantwortung zu akzeptieren, die die bürgerliche Gesellschaft dem Individuum auferlegt.

Doch Sartres Visionen hatten eindeutig viel tiefere und frühere Wurzeln als seine Identitätskrise und seine Befürchtung, von der bürgerlichen Gesellschaft erdrückt zu werden. Eine ähnliche Konfrontation mit Tiefseeungeheuern findet sich in Les Mots (dt. Die Wörter), Sartres Autobiographie über seine Kindheit (SARTRE 1964a). Dort beschreibt er, dass er im Alter von acht Jahren die Kraft des kreativen Schreibens entdeckte. Wann immer er anfing, Angst zu empfinden, nahm er seine Helden mit auf wilde Abenteuer. Sartres typische Helden aus seiner Kindheit waren Geologen und Tiefseetaucher, die gegen verschiedene unterirdische oder Unterwassermonster kämpften – einen Riesenkraken, eine gigantische Tarantel oder eine 20 Tonnen schwere Krustentierart – alles Kreaturen, die in psychedelischen und holotropen Atemsitzungen mit Schwerpunkt auf der perinatalen Ebene (PGM II) eine wichtige Rolle spielen. Sartre sagte dazu: »Was aus meiner Feder floss […], war ich selbst, ein kindliches Monster; es war meine Langeweile am Leben, meine Angst vor dem Tod, meine Stumpfheit und meine Perversität«.

Anscheinend wurde durch die Meskalin-Sitzung ein mit der zweiten perinatalen Matrix verbundenes COEX-System aktiviert, und dessen Wirkung hielt noch lange nach dem Abklingen der pharmakologischen Wirkung von Meskalin an. Die Schichten dieses COEX reichten weit in Sartres Kindheit zurück; ihr wichtigster gemeinsamer Nenner war das Gefühl einer Allgegenwart des Todes. Sein Vater starb im Alter von 30 Jahren, weniger als zwei Jahre nach Sartres Geburt. Seine Mutter, besorgt über die Krankheit ihres Mannes, hörte auf zu stillen; Sartre reagierte stark auf das Abstillen und entwickelte eine schwere Darmentzündung.

Von da an hatte sein Leben einen »Beerdigungsgeschmack«. Im Alter von fünf Jahren sah er den Tod als große, irre Frau, die schwarz gekleidet war; als er sie anblickte, murmelte sie: »Ich werde dieses Kind in meine Tasche stecken«. Als Kind reagierte Sartre stark auf die Krankheit seines Freundes und auf den Tod seiner Großmutter. Als er sieben Jahre alt war, lebte er in einem Zustand des Schreckens, dass »der schattenhafte Mund des Todes sich überall öffnen« und ihn »schnappen könnte«.

Als er in den Spiegel schaute, sah er sich selbst als »Qualle […], die gegen die Scheibe des Aquariums stößt«. Die anderen Kinder mieden ihn als Spielkameraden, und er fühlte sich verlassen und allein. In seinen Tagträumen entdeckte er »ein monströses Universum, das die Kehrseite meiner Ohnmacht war«. Er sagte darüber: »Ich habe diese Schrecken nicht erfunden; ich fand sie in meiner Erinnerung«.

Viele Aspekte von Sartres Problemen und sein Werk können als starker Einfluss der PGM II verstanden werden: Todesangst und Wahnsinn, der Schrecken des Verschlungenwerdens, die Beschäftigung mit Meeresungeheuern, der Sinn für die Absurdität des Lebens und andere Elemente der existenzialistischen Philosophie, Einsamkeit, Minderwertigkeit und Schuldgefühle. Sein berühmtes Theaterstück trägt den Titel Huis Clos (dt. Geschlossene Gesellschaft, SARTRE 1994). In den kritischen Jahren seines Lebens sah sich Sartre »bis zum Bruch zwischen zwei Extremen gespannt – mit jedem Herzschlag geboren zu werden und zu sterben«. Dieses seltsame Erfahrungsgemisch von Sterben und Geborenwerden ist wiederum ein charakteristisches Merkmal der perinatalen Dynamik.

Leonardo da Vinci (1452–1519) schuf sein berühmtes Selbstporträt im Jahr 1512.


Skizzen von Föten in der Gebärmutter (links); die Anatomie des Geschlechtsverkehrs (rechts) in der Vorstellung von Leonardo da Vinci.

Leonardo da Vinci, L'ultima cena (Das Abendmahl), ein Wandgemälde aus dem späten 15. Jahrhundert im Refektorium des Klosters Santa Maria delle Grazie in Mailand.


Leonardo da Vincis Zeichnungen von Kriegsmaschinen für den Herzog Lodovico Sforza: Kanonen, aus denen mehrere Kugeln abgefeuert werden (oben); rotierende Klingen, mit denen die Pferde der feindlichen Soldaten kampfunfähig gemacht werden (unten).

Leonardo da Vinci: Anna selbdritt (1508). Musée du Louvre, Paris.


Die Strichzeichnung von Leonardos Gemälde Anna selbdritt enthüllt das versteckte Bild eines Geiers (nach Oskar Pfister).


Leonardo da Vinci: Johannes der Täufer (1516), mit »leonardeskem Lächeln«. Musée du Louvre, Paris.


Leonardo da Vinci: Mona Lisa (1519). Musée du Louvre, Paris.

In seinem berühmten Roten Buch dokumentierte C. G. Jung seine herausfordernden Erfahrungen während seiner spirituellen Krise in Wort und Bild.


Philemon, ein Geistführer, der in C. G. Jungs Visionen auftauchte, so wie er von Jung in dessen Rotem Buch dargestellt wurde.

Das Yantra, ein tantrisches abstraktes archetypisches Symbol. Es gibt 960 Yantras, von denen jedes die kosmische Energie einer bestimmten Gottheit repräsentiert (oben); das Sri Yantra ist das heiligste archetypische Symbol des Tantra. Es wird die Mutter aller Yantras genannt, weil alle anderen Yantras von ihm abgeleitet sind. In seiner dreidimensionalen Form gilt es als Darstellung des Berges Meru, des kosmischen Berges im Zentrum des Universums.

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