Geist & Leben 1/2019

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Geist & Leben 1/2019
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Inhalt

Heft 1 | Januar–März 2019

Jahrgang 92 | Nr. 490

Notiz

Bleiben. Die Botschaft der algerischen Märtyrer

Christoph Benke

Nachfolge

Spiritualität als Weltverantwortung. Muslime und Christen in Deutschland

Felix Körner SJ

Indifferenz statt Apatheia. Zwei Modelle der Kontemplation

Michael Rosenberger

Hieronymus als geistlicher Lehrer. Spiritualität, Propaganda und Polemik

Elisabeth Birnbaum

Nachfolge | Kirche

Karmel mitten in der Welt. Maria-Eugen Grialou OCD – Geistliche Grundlinien

Michael Pattig OCarm

Narrenfreiheit um Gottes willen. Vom Freiheitsstreben der „jurodiwye“ in Russland

Christian Münch

Dem Wort auf der Spur. Lectio-Divina-Kongress

Bettina Eltrop

Nachfolge | Junge Theologie

Glaubenserfahrung und Sinneserfahrung

Bernard Mallmann

Reflexion

„Ihr seid das Salz der Erde“. Leben in Differenz. Anstöße für ein Ordensleben heute

Walter Schaupp

Licht und Dunkel. Metaphorische Annäherungen an Glaube und Zweifel

Veronika Hoffmann

Der gute Zweifel. Über seine Rolle bei Ignatius

Nikolaas Sintobin SJ

Lektüre

„Alles für alle“. Huub Oosterhuis‘ Glaubensbuch

Andreas R. Batlogg SJ

Das Leben – ein Kunstwerk Gottes. Anstöße aus Köhlmeiers Antonius-Erzählung

Josef Epping

Buchbesprechungen

Impressum

GEIST & LEBEN – Zeitschrift für christliche Spiritualität. Begründet 1926 als Zeitschrift für Aszese und Mystik

Erscheinungsweise: vierteljährlich

ISSN 0016–5921

Herausgeber:

Deutsche Provinz der Jesuiten

Redaktion:

Christoph Benke (Chefredakteur)

Britta Mühl (Lektorats-/Redaktionsassistenz)

Redaktionsbeirat:

Bernhard Bürgler SJ / Wien

Margareta Gruber OSF / Vallendar

Stefan Kiechle SJ / Frankfurt

Bernhard Körner / Graz

Jörg Nies SJ / Rom

Simon Peng-Keller / Zürich

Klaus Vechtel SJ / Frankfurt

Redaktionsanschrift:

Pramergasse 9, A–1090 Wien

Tel. +43–(0)664–88680583

redaktion@geistundleben.de

Artikelangebote an die Redaktion sind willkommen. Informationen zur Abfassung von Beiträgen unter www.echter.de/zeitschriften/geist-und-leben. Alles Übrige, inkl. Bestellungen, geht an den Verlag. Nachdruck nur mit besonderer Erlaubnis. Werden Texte zugesandt, die bereits andernorts, insbesondere im Internet, veröffentlicht wurden, ist dies unaufgefordert mitzuteilen. Redaktionelle Kürzungen und Änderungen vorbehalten. Der Inhalt der Beiträge stimmt nicht in jedem Fall mit der Meinung der Schriftleitung überein.

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E-Book ISBN 978-3-42906-427-3

Bezugspreis: Einzelheft € 12,50

Jahresabonnement € 42,00

Studierendenabonnement € 28,00

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Auslieferung für die Schweiz: AVA Verlagsauslieferung AG, Centralweg 16, CH–8910 Affoltern am Alibs


Christoph Benke | Wien

geb. 1956, Priester, PD Dr. theol. habil., Schriftleiter von GEIST & LEBEN

c.benke@geistundleben.at

Bleiben

Die Botschaft der algerischen Märtyrer

Die 1996 ermordeten Trappisten von Tibhirine und zwölf weitere algerische Märtyrer wurden am 8. Dezember 2018 in Oran seliggesprochen. Bekanntlich fanden während des Bürgerkriegs im März 1996 sieben französische Trappisten des in Nordalgerien gelegenen Klosters Notre-Dame de l’Atlas nach ihrer Entführung einen gewaltsamen Tod. Nur die abgetrennten Köpfe der Mönche tauchten Ende Mai auf; die Körper bleiben bis heute verschwunden. Wenngleich eine terroristische Splittergruppe, die die Freilassung eines ihrer Anführer verlangte, die Tatbekannte, ist bis heute unklar, wer für den Tod der Mönche tatsächlich verantwortlich zeichnet.

Der Spärlichkeit der sterblichen Überreste steht das reiche spirituelle Erbe der Märtyrer von Tibhirine gegenüber. Nach und nach wird es gehoben. Entscheidend zur Bekanntheit trug der vielfach preisgekrönte Film „Von Menschen und Göttern“ (2010) des französischen Regisseurs Xavier Beauvois bei. Er griff die Ereignisse historisch präzise auf und machte das Schicksal der Mönche einembreiteren Publikum bekannt. Herausragende Figur ist der Prior Christian de Chergé. Seine Homilien, Exerzitienimpulse und Briefe zeigen eine kontemplativ-monastische Spiritualität, die sich ganz an der Bibel und an der Liturgie orientiert und zugleich ganz bei den einfachen Leuten der muslimischen Nachbarschaft ist. Die Herausgabe mancher Schriften der übrigen Mönche (Briefe, Tagebücher, Gedichte) macht deutlich, auf welch hohem geistlichen Niveau der gesamte Konvent lebte und betete.

Aber es gab in Algerien nicht nur die Märtyrer von Tibhirine. Zwischen 1994 und 1996 wurden noch 12 weitere Ordensmänner und Ordensfrauen ermordet. Großes Aufsehen erregte der Tod des Dominikaners und Bischofs von Oran Pierre Claverie (1938–1996). In seinen Schriften vertrat P. Claverie ein Christentum, das sich der eigenen Größe und Würde wohl bewusst ist, das aber auf dem Hintergrund einer kolonialen Vergangenheit seine Position in einem islamischen, also nichtchristlichen Umfeld neu sucht. Der Bischof wurde vor seiner Kathedrale in die Luft gesprengt. Eben dort, in Oran, fand die liturgische Feier der Seligsprechung vergangenen Dezember statt.

Christentum und Kirche in Algerien – was haben sie uns in Deutschland, in der Schweiz, in Österreich zu sagen?

– Die algerischen Märtyrer starben für ihren Glauben an Christus. Ihr Tod ist eine Anfrage an das je eigene „Lebensprojekt“: Wofür lebst Du? Wofür stirbst du? Oder: Wofür verausgabt ihr euch? Habt ihr etwas, das es wert ist, dafür eure Lebens-Zeit einzusetzen?

– Die algerischen Märtyrer starben aus Solidarität zu den Menschen des Landes. Sie hätten die Möglichkeit gehabt, das krisengeschüttelte, gefährliche Land zu verlassen - und sie blieben. Sie brachten es nicht übers Herz, die „Zivilbevölkerung“ (ein Wort mit „neutralisierender“ Wirkung, weil es keine konkreten Antlitze kennt, für die Mönche aber ihre befreundeten Nachbarn bedeutete) allein zurück zu lassen. Das ist ganz jesuanisch. Auch Jesus blieb seiner Sendung treu, bis zur letzten Konsequenz.

– Religionsdialog wird von vielen Seiten eingefordert, zu Recht. Er ist auf verschiedenen Ebenen voranzutreiben. Christian, der Prior von Tibhirine, sammelte in einer Gebetsgruppe namens Ribât es-Salâm („Band des Friedens“) Christen und Muslime sufistischer Richtung. Er, der das religionstheologische Gespräch sehr wohl beherrschte, ordnete das geistliche Tun vor. „Tibhirine“ steht somit auch für eine Ökumene der Kontemplativen, die sich dem Geheimnis Gottes zur Verfügung stellen, um im gemeinsamen Hören Ausschau zu halten nach neuen Wegen der Einheit.

– Die algerischen Märtyrer erinnern: Die Feindesliebe ist der Kern des Evangeliums. In seinem geistlichen Testament spricht Christian de Chergé seinen Mörder, den er auf sich zukommen sieht, an und nennt ihn „Freund der letzten Stunde“. Solche Feindesliebe ist nicht zu „verstehen“. Sie verweist auf Christus, der am Kreuz vergibt. Liebe ist stärker als Hass.

– Die Mönche von Tibhirine, und gewiss auch die anderen algerischen Märtyrer, machten sich viele Gedanken darüber,was Mission in ihrer konkreten Situation bedeuten könnte. Sie interpretierten den Auftrag Jesu als schlichte, gläubige Präsenz, als Solidarität mit der armen Zivilbevölkerung, die unter dem Bürgerkrieg am meisten zu leiden hatte. Das Konzept der unspektakulären, dienenden Präsenz steht im Gegensatz zu ostentativen, manipulationsanfälligen Bekehrungskampagnen und sollte im Spektrum von Missions-Initiativen auch hierzulande nicht fehlen.

Die Kirchen im deutschsprachigen Raum stehen derzeit vor anderen Herausforderungen als in Algerien. Und doch kann das Glaubenszeugnis der algerischen Märtyrer inspirieren, das Christusereignis ins Hier und Heute neu zu übersetzen.

 


Felix Körner SJ | Rom

geb. 1963, Dr. theol., Dr. phil., Professor für Dogmatik und Theologie der Religionen an der Päpstlichen Universität Gregoriana

koerner@unigre.it

Spiritualität als Weltverantwortung

Muslime und Christen in Deutschland 1

In die Verantwortung gerufen

Gott ruft uns in die Verantwortung. Mit diesem Satz erkläre ich gern, was der Koran den Menschen sagt. Gott ruft uns in die Verantwortung. Was bedeutet das? Der Koran führt uns eine Gottesbegegnung am Ende der Geschichte vor Augen, und zwar drastisch: Er zeigt eine Gerichtsszene. Gott wird uns Fragen stellen. Damit zieht er uns zur Rechenschaft. Sogar einige der Rechenschaftsfragen hören wir im Koran; etwa die, was wir im Laufe unseres Lebens mit unseren Sinnen angefangen haben, mit Sehen und Hören – und wie wir unseren fu’ād gebraucht haben, also „Herz und Verstand“ (al-Isrā’ 17:36); und Gott wird uns dem Koran zufolge fragen, ob wir treu zu unseren Verpflichtungen gestanden haben, besonders gegenüber den Bedürftigsten (al-Isrā’ 17:34). Gott fragt nicht, weil er es nicht wüsste, sondern weil wir selbst wissen können und einsehensollen, was gut ist. Denn: Gott ruft uns in die Verantwortung. Das heißt also erst einmal, es geht um die Beantwortung von Fragen; und natürlich nicht nur um Antworten am Ende der Zeit. Über das Geschichtsende spricht der Koran, damit wir uns die Frage schon heute stellen: Wie gehst du mit deinen Lebensmöglichkeiten um?2

Gott ruft uns in die Verantwortung – das ist aber keine Drohung, die uns in unserer Entfaltung blockieren will. Das ist nicht der Sinn der koranischen Gerichtsworte; und das wäre auch genau die Falle aus dem Talente-Gleichnis Jesu. Darin erzählt er von drei Dienern; der dritte von ihnen hat sein „Talent“, das ihm anvertraute Geld, vergraben, statt es zu investieren und etwas zu riskieren. Als dieser Diener zur Verantwortung gezogen wird, begründet er sein Handeln so – oder besser, sein Nicht-Handeln: „Weil ich Angst hatte, habe ich dein Geld in der Erde versteckt“ (Matthäus 25,25). Jesus zeigt, dass eine solche Angst eine missverstandene Ehrfurcht wäre. Nein, Gott ruft uns nicht in eine Gerichtsangst, die uns verschließt. Er ruft uns vielmehr in die Verantwortung, damit wir jetzt in „Sorge für das gemeinsame Haus“ leben. So hat es Papst Franziskus ausgedrückt. In seiner Umwelt-Enzyklika ruft auch er uns in die Verantwortung–vor den jungen Menschen; denn sie werden die Folgen unserer Unverantwortlichkeit zu tragen haben. Er ruft uns in die Verantwortung vor allem gegenüber den Armen; denn die in der größten Not haben auch am meisten an unserer Gedankenlosigkeit zu leiden. Papst Franziskus lädt uns deshalb „zu einem neuen Dialog ein über die Art und Weise, wie wir die Zukunft unseres Planeten gestalten“ (Laudato si’, Nr. 14). Gestalten! Das heißt: nicht erstarren aus Angst vor der Rechenschaft; sondern lernbereit, gesprächsbereit, risikobereit und korrekturbereit für diese Welt sorgen – das ist die Verantwortung, in die Gott uns ruft.

Unsere Verantwortung Gott gegenüber macht uns also welt-verantwortlich, verantwortlich vor unseren Mitmenschen. So sehen wir uns auch als Christ(inn)en und Muslime in eine Verantwortung voreinander gerufen. Nicht, dass wir immer in der Verteidigung wären, sondern: Weil Gott uns in die Verantwortung stellt, packen wir miteinander die Herausforderungen an, denen wir als Gesellschaft in Deutschland und als Land in Europa gemeinsam gegenüberstehen, aber auch die Herausforderungen aufgrund der Unterschiede zwischen den verschiedenen Gruppen. Verantwortlich heißt hier immer: Uns ist diese Welt anvertraut. Sie haben wir als die, die wir sind, mit unseren verschiedenen Lebens- und Denkweisen, zusammen zu schützen und zu entwickeln.

Verantwortungsträger vor Lebensentscheidungen

Nun spüren wir allerdings, dass viele unserer Zeitgenoss(inn)en ihr Leben nicht nur anders von Gott her verstehen, sondern gar nicht von Gott her verstehen. Sie verstehen sich vielmehr als nicht gläubig. Sie halten eine Weltdeutung aus dem Glauben mitunter für überholt. Wie gehen wir damit um? Ein junger Islam-Theologe aus Ankara hat mir vor Jahren erzählt, wie es ihm erging, als er – in München – seinen ersten leibhaftigen Atheisten traf. Er gestand mir, dass er sich gefragt hatte: Wie kann man so blind sein, nicht zu glauben? Das klingt vielleicht hochmütig, war aber vor allem ein Zeichen dafür, was diese Begegnung in ihm ausgelöst hatte: Er empfand sich herausgerissen aus der Selbstverständlichkeit des Glaubens. Das kann uns verunsichern. Die Begegnung mit Nicht-Gläubigen kann uns jedoch auch dankbar machen für das Geschenk, dass wir glauben können; so kann uns das Bewusstsein, dass es nun einmal auch Nicht-Gläubige gibt, bescheidener machen. Und wenn Gott uns in die Verantwortung ruft, heißt das: Wir müssen lernen, unseren Glauben und seine Handlungsfolgen zu erklären; anderen zu erklären – Menschen, die wirklich anders sind als wir, anders denken, anders leben, anders glauben, oder eben gar nicht glauben. Das ist die Welt, in der wir heute gläubig und glaubwürdig zu sein versuchen: die Welt der religiösen, weltanschaulichen Vielfalt.

Nun gibt es aber noch eine weitere Art von Verantwortung – neben der aufrüttelnden Frage Gottes und der lernbereiten Gestaltung der Welt miteinander. Gott ruft uns in die Verantwortung – das zeigt sich auch darin, dass viele von Ihnen Aufgaben haben, die folgenschwere Entscheidungen verlangen. Sie haben Einfluss auf das Leben vieler. Sie sind an Schaltstellen tätig. Sie „haben Verantwortung“ in diesem Sinn. Deshalb sage ich nicht nur „Gott ruft uns zur Verantwortung“, sondern „Gott ruft uns in die Verantwortung“: Er hat uns an Orte gestellt, an denen es auf unsere Klugheit ankommt, an denen wir Entscheidendes ermöglichen können: Wo wir Gutes bewirken können, aber auch das, was sich dann als verkehrt herausstellt; wo wir erheblichen Schaden anrichten können. Das gehört zur Verantwortung.

Wo wir unsere Verantwortung spüren, fragen wir uns deshalb auch, ob wir richtig entscheiden. Als Gläubige in Verantwortung lautet die Frage: Wählen wir wirklich das, was Gott will? Sind wir, auch wo wir gar keine große Entscheidung anstehen sehen, seinem Willen treu? Und: Wie können wir das herausfinden? Hier helfen uns natürlich unsere jeweiligen heiligen Texte. Von der Ur-Kunde unseres Glaubens wollen wir uns mehr und mehr prägen lassen. Sie schenkt uns Orientierung. Jedoch gibt sie selten die unmittelbare Antwort für heute. Jede(r) von uns steht vor Weichenstellungen und fragt:Was ist der bessere Weg für mich und meine Gemeinschaft und für unsere Gesellschaft? Wieviel Anpassung ist notwendig, und wieviel Abgrenzung? Wer ist die richtige Person für diese oder jene Aufgabe? Welche Menschen übersehen wir gerade, welche Entwicklungen, welche Gefahren und welche Chancen? Dabei scheint es mitunter, dass andere sich ihrer Sache sicherer sind als wir selbst. Voller Überzeugung behaupten sie: „So muss es gemacht werden, das ist Gottes Wille!“ Und dann stellt sich nicht selten heraus, dass sie falsch liegen. Nicht wer am lautesten daherkommt, nicht wer den Gotteswillen oder das Schriftwort klar verstanden zu haben behauptet, hat deshalb schon recht.

Ein Stil des Geistes

Was hilft zum verantwortlich Entscheiden? „Überlieferte Weisheit für den interreligiösen Dialog“, dazu will ich heute sprechen; und das heißt: Wir sind uns in manchen Glaubensfragen nicht einig und wollen doch miteinander reden; um einander besser zu verstehen und um uns in Weltfragen auch zu verständigen. Wir müssen gut entscheiden, ohne uns in allem einigen zu können. Was uns auf dem Weg zur Entscheidung hilft, ist oft die „überlieferte Weisheit“. Jede Gemeinschaft hat ihre eigene überlieferte Weisheit, lebt aus ihr, versteht sich aus ihr, entscheidet mit ihr. Für diese überlieferten Weisheiten haben die verschiedenen Religionen verschiedene Bezeichnungen. Christ(inn)en sprechen hierbei oft von der „geistlichen Tradition“. Warum „geistlich“?

Die große Selbstsicherheit entlarvt sich, wie gesagt, leicht als nur scheinbare Treue zu Gott. Die wahre Treue ist für gewöhnlich weniger laut. Sie spricht auch nicht unsere erste schnelle Stimmung an – wie ein Volksverhetzer es versucht. Die wahre Treue zu Gott hat ihren eigenen „Stil“: Sie braucht Zeit, Stille und Bescheidenheit. Wahre Treue beruft sich auch nicht auf die angebliche Sicherheit im Buchstaben, in der Wort-Wörtlichkeit einer Schrift. Sie kann viel schöpferischer sein; und sie ist rücksichtsvoll, denn sie muss die Welt nicht in zwei krass entgegengesetzte Bereiche einteilen: wir gegen die anderen, Offenbarung gegen Vernunft, göttlich gegen weltlich; denn wahre Treue kann versöhnen. Dieser „Stil“ ist typisch für die Atmosphäre des heiligen Geistes. Schon die ersten Christen bezeichneten die wahre Treue zu Gott deshalb als „geistlich“.3

Daher besinnen sich die verschiedenen Traditionen des Christentums vor allem, wenn eine Zeit uns verwirren will, auf das geistliche Verständnis, auf das geistliche Gespräch, auf das geistliche Leben. Das heißt gerade nicht, sich eigensinnig zurückziehen. Geistlich heißt vielmehr hörend leben und kreativ, offen für das, was Gott in dieser Welt wirken will, und bereit, sich darauf einzulassen, wie Gott in dieser Welt wirken will: nämlich durch den Geist.

Heute bezeichnen viele dieses geistliche Leben als „Spiritualität“. Entsprechend sagen auch arabischsprachige Christ(inn)en rūhānīya. Muslime haben für eine ganz ähnliche Sache ein etwas anderes Wort. Sie sagen statt „geistlich“ eher ma‘nawī bzw. manevi. Das ist auch für uns Christ(inn)en eine weiterführende Bezeichnung. Denn wenn man ma‘nawī sagt, bezieht man das „Geistliche“ auf das, was uns „angeht“, auf den „tieferen Sinn“, den Sinn von Texten, den Sinn des Lebens.

Was im Religionsbetrieb fehlt

Von dieser Weisheit der geistlichen Überlieferungen wollen wir heute Abend sprechen. Dabei ist das Geistliche nichts Außerordentliches. Es muss nicht einer bestimmten Menschenklasse vorbehalten sein – den „Geistlichen“ – und sich in begeisternden Schriften ausdrücken, in faszinierender Mystik oder unglaublichen Wundern. Traditionell wurde ein geistliches Leben in den Familien eingeübt. Wir können die Spiritualität in der Normalität suchen, die Mystik des Alltags betrachten, die geistlichen Wege gewöhnlicher Gläubiger; wenn sie uns nur helfen, unser Leben aus dem immer neuen Hören auf Gott zu gestalten. Die überlieferte Weisheit des geduldigen Hörens auf den Herrn kommt in den hochbürokratischen Institutionen unseres Glaubens zu kurz. Das ist mein Eindruck. Die Herzensbildung aus dem Glauben droht vergessen zu gehen. Wir bauen unsere Religionen wie Behörden auf. Wir haben Kanzeln fürs Predigen und Netzwerke fürs soziale Engagement, wir haben Einrichtungen für theologische Forschung und Lehre, wir bilden seelsorgliches Personal aus. Wir haben vielerorts religiösen Schulunterricht; wir errichten eindrucksvolle Gotteshäuser und veranstalten feierliche Gottesdienste: Das sind Zeichen, dass wir Verantwortung übernehmen. Aber sind diese Aktivitäten getragen vom immer neuen Hören auf Gott? Wo sind unsere Räume der Stille? Haben wir die Orte der religiösen Erfahrung, unsere geistlichen Zentren, Klöster, Exerzitienhäuser nicht vernachlässigt, die Schulen des hörenden Betens mitunter belächelt? Haben wir die Traditionen der geistlichen Begleitung, die alten oder neuentdeckten Wege der Suche nach dem Gotteswillen in den Hintergrund gerückt, die überlieferte Weisheit unseres Glaubenslebens? Wenn sie uns verloren geht, wird all unser religiöses Organisieren Bluff, ödes Gedöns.

Noch sind die Weisheitswege unserer Traditionen glücklicherweise nicht verschüttet. Es gibt sie; es gibt unter ihnen zwar Scharlatanerie und spirituelle Show. Aber es gibt auch weiterführende Pfade. Innerhalb unserer Religionen haben verschiedene Gemeinschaften sogar noch einmal unterschiedliche Glaubensstile und Frömmigkeitsformen, folgen unterschiedlichen intuitiven oder methodischen Lebenswegen. Es gibt eben verschiedene Spiritualitäten. Sie können manches voneinander lernen. Sie können so sprechen, dass auch andere deren Weisheit verstehen. Das versuche ich hier zu zeigen. Vom Weg der Unterscheidung ist derzeit viel die Rede. Papst Franziskus unterstreicht immer wieder, wie wichtig sie ihm ist, etwa die „Kunst der pastoralen Unterscheidung“ (Das Geschenk der Berufung zum Priestertum, 43; 120). Aber was soll das denn bitte sein: Unterscheiden?

 

Gemeint ist natürlich nicht das soziale Unterschiede-Machen; nicht das Diskriminieren,aber auch nicht ein Sich-voneinander-Absetzen imidentitätssuchenden Gegenprofil. Mit „Unterscheiden“ ist auch nicht nur das philosophische Unterscheiden angesprochen: das Differenzieren. Dabei ginge es um Wortbedeutungen, um Begriffsabgrenzungen, und dann um die Einsicht, dass jede Situation wieder anders ist. Ein solches Unterscheiden ist hilfreich; aber hier geht es um mehr. Es geht um das geistliche Unterscheiden. Das ist eine Kunst. Will sagen: Es gibt zwar Regeln; aber mit einfachem Regelbefolgen kommt man nicht wirklich weiter. Es braucht auch ein Gespür, wie die Regeln anzuwenden sind. Das geht nur in Weisheit: intuitiv und kreativ.

Mit Jesus unterscheiden

Geistliches Unterscheiden beginnt bei der Einsicht, dass es verschiedene Wege gibt und wir nun den richtigen finden müssen, ohne dass eindeutige Sicherheit garantiert ist, weder durch göttlichen Fingerzeig noch durch perfektes Informiert sein: „Zwar stützt sich die geistliche Unterscheidung auf menschliche, philosophische, psychologische, soziologische und moralische Weisheit. Sie geht jedoch darüber hinaus. Nicht einmal die noch so weisen Kirchenregeln genügen für sie. Denn Unterscheidung ist ein Gottesgeschenk. Durchaus: sie braucht Vernunft und Klugheit; übersteigt diese aber. Sie möchte nämlich das Geheimnis des einzigartigen und unwiederholbaren Plans erfassen, den Gott für jeden einzelnen Menschen hat und der sich verwirklicht inmitten unterschiedlichster Lebensumstände und auch inmitten verschiedenster Einschränkungen.“4

Warum heißt dieses Hören auf den Gotteswillen „Unterscheiden“? Das Wort entstammt der ältesten christlich-spirituellen Weisheit. Zuerst einmal geht es um ein Unterscheiden zwischen dem, was von Gottes gutem Geist kommt und was vom Pseudogeist kommt. Solches Unterscheiden ist immer notwendig, wenn jemand sagt, er oder sie spreche im Namen Gottes. Es könnte ja genauso gut eine Falschprophetie sein. Daher unterstreicht Paulus, dass es eine wichtige Geistesgabe gibt, die „Unterscheidung der Geister“.5 Der Sache nach kennt das Problem auch der Koran. Denn nicht alles, was sich wie die Offenbarungsstimme anhört, ist deswegen schon von Gott. Es könnte auch „böse Einflüsterung“ sein: waswās, wie die letzte Koransure weiß (an-Nās 114:4.5.).

Paulus nennt das Erkennen von angeblicher und echter prophetischer Verkündigung, wie gesagt, „Unterscheiden“; Johannes fordert, ebenfalls im Neuen Testament, die Christ(inn)en ganz ähnlich dazu auf, die Geister zu „prüfen“.6 Prüfen sollen Christ(inn)en entsprechend überhaupt, was der Wille Gottes ist7; d.h.: Sie müssen herausfinden, was sie im Sinne Gottes tun sollen, wie sie leben und handeln sollen, was das wahrhaft Gute in diesem Augenblick ist. In vielen modernen Sprachen heißt auch dieses hörende Herausfinden des Gotteswillens „Unterscheiden“.8

Und wie geht es nun, das Unterscheiden? Ich glaube, wir können es am besten an Jesus selbst beobachten. In der Nacht vor Karfreitag ist Jesus klar, dass er verhaftet wird, wenn er jetzt nicht flieht. Das Markusevangelium schildert diesen Augenblick so: „Da ergriff ihn Furcht und Angst“ (Mk 14,33). Eine Stimmung hat Jesus gepackt. Sie scheint ihn zu fesseln. Er betet nämlich jetzt: „Nimm diesen Kelch von mir!“ (Markus 14,3) Mit anderen Worten: bitte keinen Verrat durch einen Freund, keine Gefangennahme, keine Verurteilung, keinen Foltertod. Furcht und Angst haben ihn ergriffen, aber sie haben ihn doch nicht völlig im Griff. Denn Jesus kann auch jetzt noch Gott wie gewohnt ansprechen – als ganz nah: „Abba, Vater“. Und er kann auch jetzt noch von den schöpferischen Überraschungen Gottes sprechen: „Abba, Vater, alles ist dir möglich“ (Mk 14,36). Furcht und Angst scheinen ihm zwar das Herz verschlossen zu haben. Sein Beten wirkt so, also wollte er Gott und dessen Möglichkeiten nur noch zum Selbstschutz nutzen, aber er lässt sich von seiner Beklommenheit nicht festlegen. Er nimmt die Angst nicht als Zustand hin, sondern greift sie als Bewegung auf.

In diesem Augenblick geschieht etwas Neues. Jesus bleibt nicht bei seinem Gebet „Nimm diesen Kelch von mir!“. Beten ist nämlich nicht: Ich gebe schnell meine Bestellung auf, und dann habe ich ein Recht auf Lieferung. Beten ist keine Bestellung, sondern eine Begegnung; und deshalb eine Bewegung. So kann Beten uns verwandeln. Das war auch bei Jesu Gebet am Ölberg so. Im Beten verwandelt sich sein Gebet. Insgesamt lauten Jesu Gebetsworte – mit der geschehenden Verwandlung – so: „Abba, Vater, alles ist dir möglich. Nimm diesen Kelch von mir! Aber nicht, was ich will, sondern was du willst“ (ebd.).

In seiner schlimmsten Stunde hat Jesus – trotz allem – gespürt: seine Angst will zum Zustand werden, seine Furcht will ihn fesseln. Sie ist ihm aber zur Bewegung geworden, die ihn zum Beten brachte, und so spürte er wieder, wie ihn der Wille und Sinn Gottes aus seinem Eigensinn herausholte. Jesus konnte sich wieder auf Gott verlassen, wie man es im Deutschen treffend sagt; alle Selbstsorge verlassen, auf ihn hin. Jesus war nicht mehr festgelegt von der Angst. Er konnte wieder hinausgreifen in die Freiheit. Das aber bedeutete für ihn gerade nicht die Flucht. Es war keineswegs die Entscheidung für den bequemeren Weg; und es war auch kein heldenhafter Willensakt. Jesus konnte nur noch beten; aber so war die Angst schon zur Bewegung geworden, und er konnte sich wieder anziehen lassen von Gottes Geschichte: Gott siegt durch die Hingabe, die Schwäche, die scheinbare Ausweglosigkeit hindurch. So konnte Jesus spüren, dass Gottes Geschichte, Gottes Plan, Gottes Wille freier und sicherer und besser ist als alles, was ein angstbesetztes Herz sieht, und als alles, was Menschen einander antun können.

Das ist der Grund unseres Gottvertrauens. Ich kann „mich auf ihn verlassen“. So ist mein Herz wieder frei, zu spüren, was Gott mit mir vorhat; und was ich tun soll, und dass ich es tun kann, weil ich von ihm die Kraft dazu bekomme. So getröstet, getrost9 kann ich seinen Willen unterscheiden – also ihn spüren und mich gelassen auf ihn einlassen. Auch Jesus konnte ja beim Beten in Gethsemani empfinden, dass der Weg Gottes der gute Weg ist, selbst wenn es jetzt erst ein Leidensweg ist.

Eine Gesellschaft inspirieren

Das Durcheinander und Miteinander in Deutschland bringt uns einmal besser zusammen, und ein ander Mal auseinander. Der christlich-islamische Dialog ist ein Ort besonderer Verantwortung: Es geht um die Treue zu Gott und um die Gestaltung der Zukunft; und das nicht selten unter Anspannung. Ich erinnere mich, wie ein interreligiöses Podium vom Dialog in die Debatte stürzte und wie ich sauer wurde, weil ich mich von einer muslimischen Diskussionsteilnehmerin ungerecht behandelt fühlte. Viele von Ihnen werden solche Augenblicke kennen. Die Spiritualität meiner Tradition, unsere überlieferte Weisheit sagthier: Empfinden, wie mich jetzt die falsche Kraft packen will; sie ist falsch, weil sie mich festlegen will. Aus der Gefangenschaft kommen wir nur heraus, wenn wir wahrnehmen, dass wir die Stimmung nicht als Zustand hinnehmen müssen, sondern als Bewegung aufgreifen können, um uns neu der Einladung Gottes zu stellen. Er ruft uns zurück in seine gute Geschichte, von der wir ein Teil sind: So können wir uns wieder auf Gott verlassen und gelassen, rücksichtsvoll, umsichtig das Jetzt mitgestalten.

Als ich mich auf dem erwähnten Podium von der Kollegin angegriffen fühlte und merkte, wie ich innerlich einen sarkastischen Schlagabtausch plante, konnte ich mir plötzlich sagen: Ich bin freier und glücklicher und mehr ich selbst, wenn ich mich nicht provozieren lasse, sondern auch diesen Augenblick als Gottes Geschichte sehe und in seinem Stil weitergehe.

Etwas Ähnliches hatte ich zuvor bei einem ägyptischen Freund erlebt. In einer heftigen Diskussion als einziger Muslim hatte er den Faden verloren. Nach kurzem aufgeregtem Blick sagte er kaum vernehmbar: bi-smi llāhi r-rahmāni r-rahīm, also „im Namen Gottes, des barmherzigen Erbarmers“. Er erinnerte sich daran, dass er im Namen Gottes zu diesem Dialog gekommen war. Das gab ihm die Gelassenheit zurück; und schon hatte er auch seinen Gesprächsfaden wieder. Vielleicht war das etwas Ähnliches wie unsere geistliche Unterscheidung zwischen Steckenbleiben in einer Stimmung und Bewegung zur neuen Bereitschaft für Gottes Plan.

Dieses geistliche Unterscheiden ist kein Trick für meine Gefühls-Wellness. Es ist eine Möglichkeit, wie ich verantwortlicher leben kann. Solche Schätze überlieferter Weisheit liegen in all unseren Traditionen. Wir müssen sie denen vermitteln, die uns anvertraut sind und die uns vertrauen. Wir müssen diese Schätze auch selbst heute neu entdecken und auf uns wirken lassen; und wir können sie auch einander erklären und miteinander einüben, über die Grenzen hinaus, die zwischen unseren Traditionen zu verlaufen scheinen.