Kitabı oxu: «Aus dem Rahmen gefallen», səhifə 3

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Autistische Begleitsymptome wie Reizüberflutung, Prosopagnosie und andere

Typisch für Autisten, aber keinen eindeutigen Rückschluss auf Autismus zulassend, sind über das ABC-Muster hinaus unter anderem die folgenden, weit verbreiteten Begleitsymptome:

D. Reizempfindlichkeit – sensorische Besonderheiten

E. Prosopagnosie – Gesichtsblindheit

F. Alexithymie – Blindheit für eigene Gefühle

G. Nerdig und geekig sein

H. Wörtliches Verstehen

Diese Symptome können sowohl unabhängig vom eigentlichen Autismus, aber auch als Teil des Autismus auftreten. Symptome, die auch durch den Autismus im Verlauf des Lebens als erworbene Eigenschaften auftreten, werden im nächsten Kapitel angesprochen. Es folgt eine Betrachtung der wichtigsten autistischen Begleitsymptome im Einzelnen.

D. Reizempfindlichkeit – sensorische Besonderheiten

Reizempfindlichkeit bedeutet, Probleme bei der Verarbeitung eingehender Reize zu haben. Diese kann sowohl eine Reizfilterschwäche als auch eine stressverursachende andere Form der Reizverarbeitung sein. Betroffene können Lärm, grelles Licht oder eine Vielzahl auf sie einwirkender Reize nicht ausblenden, weil die Filterfunktion fehlt oder nicht so funktioniert wie bei den meisten anderen Menschen.

Zudem haben die meisten Autisten weitere sensorische Besonderheiten. Sie sehen, hören, riechen und fühlen mitunter intensiver als andere Menschen. Sie verarbeiten die auftretenden Reize nicht nebeneinander, sondern nacheinander. Wenn zu viele Eindrücke eintreffen, kommt es zu einem Verarbeitungsstau. Wenn klare Kriterien für einen Filter fehlen, kommt es zur Reizüberflutung.

Der Betroffene ist dann in der Regel sehr schnell geistig erschöpft. Seine »Central Processing Unit«, kurz »CPU«, ist überlastet, weil das Verarbeiten der ungefilterten Reize viel Kraft im Hirn kostet, die ihm woanders hinterher fehlt.

Es gibt intelligente Autisten, die als Kompensation eine Form von Tunnelblick entwickeln. Dies wäre dann ein sehr stark wirkender Filter, der es ihnen ermöglicht, wenigstens das Relevante für eine aktuelle Handlung zu erkennen. Dies geschieht dann aber auf Kosten des bewussten Erkennens und Begreifens anderer Dinge, die vorab nicht im Fokus stehen und die dann übersehen werden. Informationen, die sozusagen unangemeldet auf Autisten treffen, also nicht Teil des aktuellen Filters sind, werden nicht mehr berücksichtigt.

Autisten sind demzufolge nicht per se »ohne Filter«, sondern ihr Filter ist sozusagen nicht ausgewogen, mit der Folge erschöpfender Reizüberflutungen oder zu stark einseitigen Tunnelblicks. Deshalb sind Autisten auch grundsätzlich nicht multitaskingfähig. Ihr Verhalten kommt rigide und stereotyp rüber, weil anstehende Aufgaben sequenziell abgearbeitet werden müssen und nicht parallel abgearbeitet werden können. Manchmal muss ein Gedanke erst zu Ende gedacht werden, bevor man als Autist ansprechbar ist. Man ignoriert dann Ansprachen bewusst oder unbewusst, um den laufenden Prozess im Hirn nicht zu torpedieren.

Im schlimmsten Fall treten durch die Unterbrechung Gedankenschleifen auf, die der Verzweiflung geschuldet sind, sich wieder an das zu erinnern, was vor der Unterbrechung von außen gerade aktuell lief. Im günstigsten Fall kommt es zu einer Verzögerung der Bearbeitung, so wie bei einem ICE, dessen Fahrzeit mit Halten sich gegenüber Fahrten ohne Halt verdoppeln kann.

Für einen Autisten treten bei der Verarbeitung einer hohen Anzahl eingehender Reize demzufolge immer extreme Belastungen auf, was ihn dann unter permanenten Stress setzt. Ein Autist versucht stets aus reinem Überlebenstrieb, möglichst gar nicht erst in solche Situationen zu kommen, diese zu strukturieren, um die Kontrolle zu gewinnen, oder sich denen so bald als möglich zu entziehen.

So kann ein beruflich vor allem geistig tätiger Autist zum Beispiel nicht in einem Großraumbüro arbeiten, weil er die ihn dort umgebenden Reize nicht dauerhaft ausblenden kann, um sich auf hochwertige Arbeit zu konzentrieren. Im Flughafen passiert mitunter das Gegenteil. Dort kommt es zum Tunnelblick. Um den Flugsteig zu finden, wird nur die relevante Beschilderung wahrgenommen, die diesem Ziel dient. Die dringend benötigte Toilette wird nicht sofort gefunden, weil das vergleichsweise meist klein gehaltene WC-Schild im nicht ad hoc verarbeitbaren Sammelsurium anderer Schilder, die als relevant eingestufte Wege weisen, untergeht. Beim Autofahren bin ich zum Beispiel in der Lage, alles, was für das sichere Fahren und die Orientierung relevant ist, zu erkennen, um unfallfrei und zielgerichtet durch den Verkehr zu kommen. Ich kann aber nicht mehr verarbeiten, was auf der für die Verkehrsregelung nicht relevanten Litfaßsäule steht oder wer mich vielleicht gerade auf dem Fußweg grüßt, der dann vergeblich auf mein beantwortendes Nicken durch die Windschutzscheibe wartet.

So typisch Reizüberflutungen für Autisten auch sind, sie können nicht herangezogen werden, um Autisten zu identifizieren. Reizempfindlichkeit ist auch bekannt unter dem Namen Hypersensibilität, ohne dass Außenstehende eine Selbstbezogenheit (Autismus) beobachten können. Außerdem treten Reizüberflutungen üblicherweise auch bei ADHS, ADS oder akuten und chronischen Depressionen auf.

Last but not least, und das sei hier ausdrücklich angemerkt, leiden alle Menschen mehr oder weniger an Reizüberflutung durch die zunehmende Informationsflut. Immer mehr in immer kürzeren Zeitabschnitten will aufgenommen, sortiert und verarbeitet werden. Dieses Problem betrifft alle Menschen gleichermaßen. Die einen kommen damit gut klar, die anderen weniger.

Eine Reizüberflutung, die im Zusammenhang mit einer immer informativeren und schnelllebigeren Welt steht, als eigenständige Diagnose auszusprechen, wäre sinnvoll. Und zwar als eine Art allergische Reaktion auf die immer größer werdende »Informationsverschmutzung«.

An dieser Stelle sei noch auf die Intense World Theory hingewiesen, nach der eine Flut von Reizen autistisches Verhalten auslöst. Allerdings gibt es auch Autisten, die die ABC-Kriterien erfüllen und keine Reizfilterschwäche und auch keine sonstigen großen Probleme mit der Reizverarbeitung haben. Begleitsymptome potenzieren die Auswirkungen auf die Alltagstauglichkeit. Dies kann zu einem hohen Leidensdruck führen.

Symptome von Reizüberflutungen, die auf eine Reizfilterschwäche oder andere Probleme in der Reizverarbeitung zurückgehen, können jedoch nur dann als Teil einer autistischen Symptomatik angesehen werden, wenn diese zusätzlich zu den bereits gelisteten Kriterien A, B und C auftreten. Autistische Menschen zeigen die als A, B und C gelisteten Verhaltensmuster dabei auch dann, wenn sie akut nicht unter einer Reizüberflutung, die durch eine Reizfilterschwäche oder eine andere Form der abweichenden Reizverarbeitung ausgelöst wird, leiden. Die autismustypischen Auffälligkeiten im Kommunikations- und Sozialverhalten zeigen sich also auch dann, wenn gerade keine akute Reizüberflutung vorliegt. Sie treten unabhängig davon auf, ob grelles Licht vorhanden ist oder ein abgedunkelter Raum, ob viele oder nur wenige Menschen zugegen sind, ob viele oder wenige Informationen zu verarbeiten sind. Je mehr Reize da sind, desto stärker sind die Symptome allerdings ausgeprägt.

Es könnte ein Hinweis auf Autismus sein, wenn die Reizüberflutung Blockaden auslöst. Dies gilt aber nur dann, wenn als Komorbidität keine akute Depression im Spiel ist, weil Depressionen ebenfalls zu Rückzügen und Blockaden führen können. Es könnte dagegen ein Hinweis auf ADHS sein, wenn durch die Reizüberflutung ein aufgedrehtes, chaotisches Handeln ausgelöst wird. Doch derartige Zusammenhänge sind nicht abschließend geklärt, sondern basieren auf empirischen Beobachtungen. Unabhängig von der Frage, ob eine Reizfilterschwäche oder ein Leiden unter einer Reizüberflutung durch eine andere Form der Reizverarbeitung autistisches Verhalten darstellt oder nicht, kann es sein, dass allein das Symptom der Reizfilterschwäche zu schwerwiegenden Einschränkungen führen kann, auch dann, wenn kein Autismus im eigentlichen Sinne der Symptome A, B und C vorliegt.

E. Prosopagnosie – Gesichtsblindheit

Prosopagnosie bezeichnet die Unfähigkeit, Menschen am Gesicht wiederzuerkennen. Diese Eigenschaft verstärkt die Wirkung als Autist auf andere, kommt aber kurioserweise in der Wissenschaft nicht als ein mögliches Diagnosekriterium vor. Dabei ist sie unter Autisten weit verbreitet. Betroffene sind zum Beispiel nicht in der Lage, Menschen zuverlässig wiederzuerkennen, die sie bereits kennengelernt, aber noch nicht oft genug wiedergesehen haben.

Prosopagnosie ist nicht zu verwechseln mit der Unfähigkeit, Mimik in den Gesichtern zu deuten, welches als kommunikativ relevantes Diagnosekriterium für Autismus gilt.

Prosopagnosie hat zum Beispiel zur Folge, dass ich Menschen, die ich eigentlich kenne und gerne grüßen würde, nicht grüße, weil ich die Menschen schlicht nicht erkenne. Dann heißt es: »Der kann auch nicht grüßen!« oder »Der könnte auch mal grüßen!« Auch wenn diese Feststellungen nacktfaktisch wahr sind, es wird auf diese Weise angeprangert, dass man mal wieder eine soziale Erwartungshaltung nicht erfüllt hat und man so auf der Beliebtheitsskala gesunken ist.

Wenn mir zum Beispiel ein Kollege, der ansonsten im Büro in Jeans oder Anzughose unterwegs ist, im Fitnessstudio in seinen Sportklamotten begegnet, ist er für mich zunächst eine unbekannte Person. Besonders dann, wenn ich ihn noch nicht öfter gesehen und erfolgreich erkannt habe. Er wird dann nicht gegrüßt, obwohl er dies erwarten könnte. Und ich gelte aus seiner Sicht als selbstbezogen und damit per definitionem als autistisch und obendrein auch noch als unfreundlich.

Weiterhin ist es vorgekommen, dass ich meine eigene Frau nicht erkannt habe, als sie mich als freudige Überraschung nach einer Dienstreise vom Flughafen abholen wollte. Ich lief an ihr vorbei, zielstrebig den Schildern folgend, um das öffentliche Verkehrsmittel zu finden. Und als sie mich dann abfing, dauerte es eine Weile, mich auf die neue, im Grunde doch sehr freudige Situation einzustellen, denn ich reagierte ruppig mit der Frage: »Was machst DU denn hier?« Denn das war nicht geplant!

F. Alexithymie – Blindheit für eigene Gefühle

Autisten haben sowohl Schwierigkeiten, die Gefühle anderer Menschen aus der Beziehungsebene einer Kommunikation abzuleiten, als auch die Gefühle anderer Menschen so wie diese nachzufühlen. Völlig unabhängig gibt es darüber hinaus noch die Unfähigkeit, eigene Gefühle adäquat wahrzunehmen und gegenüber anderen Menschen zu beschreiben. Alexithymie ist unter Autisten nicht selten. Wie oft dies vorkommt, ist jedoch unbekannt.

Fragt man Menschen mit Alexithymie zum Beispiel »Was fühlen Sie in dieser Situation gerade?«, dann kann es sein, dass sie nach Antworten ringen. Ich litt beispielsweise nach wenigen Semestern an der Uni unter einer chronischen Tachykardie, die konsultierten Ärzte untersuchten Herz und Kreislauf. Sie konnten keinerlei Krankheiten finden. »Es muss psychischen Ursprungs sein!«, lautete die Diagnose. Niemand dachte seinerzeit an die Überforderung durch die sozialen und organisatorischen Abläufe im Unibetrieb, unter denen ich latent litt, was rückblickend eine Folge der autistischen Symptomatik ist. Nicht selten sind körperliche Beschwerden die Folge nicht spezifizierbarer seelischer Probleme. In dieser Situation waren mir selbst aber meine eigenen damit zusammenhängenden Gefühle und ihre Auswirkung völlig unbewusst und nicht zugänglich.

G. Nerdig und geekig sein

Nicht jeder Nerd oder Geek ist ein Autist. Und nicht jeder Autist ist ein Nerd oder Geek. Freakiges Benehmen, Abgehobenheit, sich in Hobbys vertiefen, das alles weist auf eine einseitige Interessensausprägung und gegebenenfalls auch auf eine Hochbegabung hin. Nerdsein und Autismus können zusammenkommen, sind aber zwei verschiedene Dinge. Aber wenn diese Dinge gemeinsames Merkmal einer Person sind, wirkt sie sehr bizarr. »Wer so schlau ist wie du, Peter, dem glaube ich nicht, dass er … nicht können soll!« Wenn solche Sätze immer wieder im Umfeld eines Betroffenen zu hören sind, weist das auf ein unebenes Stärke-Schwächen-Profil hin, was typisch ist für hochbegabte Autisten.

H. Wörtliches Verstehen

Autisten nehmen die Dinge wörtlich, so heißt es. Ja, das tun sie vor allem dann, wenn sie eine Aneinanderreihung von Wörtern zum ersten Male hören und ihnen niemand erklärt, dass aus einer Aneinanderreihung von Wörtern eine neue Gesamtbedeutung resultieren kann. Je jünger der Betroffene ist, desto mehr Missverständnisse dieser Art können auftreten. Mit mehr oder weniger fatalen Folgen – für den Betroffenen und sein Umfeld gleichermaßen. »Da musst du dich mehr durchbeißen!« ist eine »Satzvokabel« und heißt übersetzt: »Sei stark, setz dich da nächstes Mal besser durch!« Das muss ein Autist, der sich bereits immer wieder durch Beißen verteidigt hat, erst mal verstehen!

Dieses Verhalten ist aber auch gegeben, wenn jemand einen niedrigen IQ hat oder aus anderen Gründen wenig bis gar nicht an der Kommunikation mit seinen Mitmenschen teilnimmt, dann fehlt ihm schlicht das Wissen. Wörtliches Verstehen kommt somit auch bei einem Menschen mit niedrigem IQ vor und ist dann kein Hinweis auf Autismus.

Missverständnisse durch wörtliches Verstehen passieren, wenn mindestens einer der Beteiligten wenig kommunikative Erfahrungen mit der Gegenseite hat. Wer wenig oder unzureichend kommuniziert, wird bildhafte Bedeutungen nicht erkennen können. Ein niedriger IQ kann sekundär autistisch wirkendes Verhalten genauso verursachen wie Mängel und Abweichungen in der Kommunikation eines Hochintelligenten oder anders kulturell Geprägten.

Wörtliches Verstehen ist somit ein sehr starker Hinweis auf Autismus bei einem Menschen mit hohem IQ. Weil es sehr merkwürdig erscheint, dass ein offenkundig intelligenter und schlauer Mensch nicht begreifen können will, dass er nicht seine Mitschüler beißen soll, wenn der Lehrer dem Einser-Schüler sagt: »Du muss dich da mehr durchbeißen!«

Wenn sich also eine Hochbegabung und das wörtliche Verstehen treffen, die sich ja eigentlich gegenseitig ausschließen sollten und im Übrigen Tests auf Hochbegabung bei autistischen Menschen weniger aussagekräftig machen im Hinblick auf sprachlich orientierte Test­elemente, dann könnte und sollte man auch mal an Autismus denken.

Autismus-Folgen – Depressionen, soziale
und andere Phobien

Während die Begleitsymptome D bis H angeborene Eigenschaften sind, können weitere für Autisten typische Probleme im Laufe des Lebens erworben werden. Dazu gehören insbesondere Depressionen, soziale und andere Phobien sowie zum Teil auch die posttraumatische Belastungsstörung.

Ein Mensch, der wiederholt abgelehnt wird, weil er aus seiner Sicht nur »anders« ist, aus der Sicht Außenstehender dagegen »krank« oder »behindert«, wird nicht selten früher oder später depressiv. Eine solche Depression ist dann sekundär und von der primären Depression, die unabhängig vom Autismus ebenfalls vorliegen kann, zu unterscheiden. Es ist irgendwie so wie Diabetes Typ 1 und Typ 2, das eine wird im Laufe des Lebens durch Fehlernährung oder Fehlbehandlung erworben, das andere ist genetisch veranlagt.

Eine besondere Problematik intelligenter Autisten ist, dass sie aufgrund ihrer erheblichen Defizite in der Kommunikation auf der Beziehungsebene von wichtigen Entscheidungsprozessen ausgenommen sind, obwohl sie nicht selten einen Sachverstand mitbringen, der die Gesellschaft direkt um große Schritte weiterbringen könnte. Vielleicht gerade weil der emotionale Bezug zu Entscheidungen fehlt.

So wird die Entscheidungen fällende Politik maßgeblich von Menschen dominiert, die mit anderen Menschen umgehen und reden können. Auch und besonders in einer Demokratie wird gewählt, wer sympathisch rüberkommt, wer beliebt ist. Wer nur eine emotionsbefreite sachliche Weitsicht hat, wird selten bei der Besetzung von Schlüsselpositionen berücksichtigt. Auch das führt bei vielen hochintelligenten Autisten zu Frust und mitunter zu schweren Depressionen, weil sie ihr fachliches Potenzial nicht ausleben können und dürfen.

Viele Autisten entwickeln auch eine soziale Phobie, weil sie wiederholt abgelehnt werden. Sie weichen dem Stress, den ihnen andere Menschen machen, einfach aus, indem sie als »Selbstschutz« sich dem sozialen Miteinander gar nicht erst mehr aussetzen. Sie vermeiden das Sein unter anderen Menschen oder gar ganzer Menschenmassen. Mitunter wird eine regelrechte Angst vor Menschen geprägt. Die soziale Phobie ist ein eigenständiges Merkmal und kommt völlig ohne Autismus aus. Allerdings entwickeln viele Autisten im Laufe ihres Lebens früher oder später durch die immer wieder gespürte Ablehnung und Nichtanerkennung emotionaler Schmerzen, ausgedrückt durch Killerphrasen wie »Da könnte ja jeder kommen!« oder Kommentare wie »Stell dich nicht so an!« oder »Reiß dich mal zusammen!«, eine soziale Phobie. Daher ist dieses Merkmal unter Autisten weit verbreitet. Dieses bilden Autisten nicht selten aus, weil sie wiederholt erfahren müssen, nicht nur nicht akzeptiert zu werden, sondern gerne geärgert und bekämpft zu werden. Die Folge: Sie umgehen Menschen oder weichen ihnen immer öfter aus. Ein Teufelskreis, denn das verhindert die Entwicklung von Kenntnissen in der Kommunikation.

Viele soziale Situationen bereiten Autisten unheimlichen Stress, der sich in körperlichen Symptomen manifestieren kann. Wenn es um solche Situationen keine Umgehung gibt, wie zum Beispiel die Schule wegen der Schulbesuchspflicht, dann bilden Autisten Stereotypien aus, die dem Stressabbau dienen. Eine davon ist Bruxismus. Sie beißen wortwörtlich die Zähne zusammen, um bestimmte Situationen, die für andere problemlos sind, zu bewältigen. Auch wiederkehrende Verspannungen von Hals und Wirbelsäule sind keine Seltenheit. Ich kenne beides, und ich habe von beidem in Selbsthilfegruppen erfahren. Es macht hier keinen Sinn, dem Autisten dieses Verhalten »auszutreiben«, es muss vielmehr darauf geachtet werden, dass Situationen, die vermeidbar sind, auch vermieden werden sollten. Denn dann bleiben immer noch genügend Situationen, die leider nicht abzustellen sind, da muss man dann als Autist durch: Man muss auch mal aushalten können, wenn man was erreichen will!

Da das Verhalten autistischer Menschen sich mitunter nicht mit kulturell etablierten Regeln innerhalb der Familie, der Schule oder was auch immer ohne weiteres Zutun vereinbaren lässt, kommt es vor allem in der frühkindlichen Phase der Erziehung mitunter zu Erfahrungen, die ein autistischer Mensch macht, unter denen er dann lebenslänglich zusätzlich zu seinem Autismus leiden muss. Dazu gehört das Ausbilden von Phobien aller Art, je nachdem was im Leben Angst gemacht hat und nicht weiter behandelt worden ist.

Angst und Panik sind bekanntermaßen schlechte Ratgeber, wie man sich in welchen Situationen verhalten sollte. Fritz Riemann stellt in seinem Evergreen-Bestseller Grundformen der Angst vier verschiedene Grundtypen von Menschen vor. Je nachdem, ob man eher eine schizoide, depressive, zwanghafte oder hysterische Persönlichkeit ist, unterscheiden sich die individuellen Merkmale und Ausprägungen von Angst. Es kann sich dabei zeigen, dass autismusähnliches Verhalten als Folge einer Angststörung vorliegt. Umgekehrt kann angeborenes autistisches Verhalten in schweren Fällen auch zu posttraumatischen Belastungsstörungen führen. Dies droht dann, wenn wiederholt insbesondere autoritäre Erziehungsmethoden angewendet worden sind, die versuchten, das Kind zu »verbiegen«. Bei einem autistischen Kind kann das fatal enden, es bewirkt oft das genaue Gegenteil von dem, was bezweckt worden ist.

Das autistische Spektrum ergibt sich zum einen aus der unterschiedlichen Ausprägung des allgemeinen alle Autisten verbindenden Musters in Verhalten und Wahrnehmungen, bestehend aus den Merkmalen A, B und C sowie aus den Begleitsymptomen D, E , F , G, H und andere mehr. Autist ist, wer mindestens A, B und C hat, wobei A für die Probleme in der Kommunikation auf der Beziehungsebene steht, B für die abweichende Gefühlswahrnehmung und C für die repetitiven Verhaltensmuster.

Es gibt mittlerweile aber auch Ansätze, zu sagen, wer A, C, D und E hat, liegt im autistischen Spektrum. Ob das Sinn macht, ist vor dem Hintergrund, dass Autismus in erster Linie eine Kontaktstörung auf der Beziehungsebene ist, zu hinterfragen. Zielführend im Sinne des Verstehens von Autismus ist es sicherlich nicht. Weil man damit die Kernsymptomatik des Inseldaseins, die »Trias«, als definierendes Element aufhebt.

Von den gelisteten Merkmalen sind bei mir A, B und C als Kernkriterien und D bis H als sekundäre Merkmale mehr oder weniger stark ausgeprägt. Depressionen und eine soziale oder andere Phobie habe ich dagegen nicht entwickelt.

Es fällt mir leicht, auf Menschen zuzugehen, sie nach irgendwas zu fragen, was ich wissen will. Allerdings ist meine Kontaktaufnahme frei von Small Talk, frei von Floskeln und kommt daher aus Sicht anderer hölzern und klotzig daher, sobald ein Gespräch nicht mehr um ein Thema oder eine Sache geht. Das lässt sich leider nur in gewissen Grenzen ändern.

Noch schwieriger wird es, wenn ich irgendwo etwas durchsetzen möchte, den richtigen Moment abzupassen und die richtigen Worte zu finden, falls ich mit Totschlagargumenten vorzeitig abgefertigt oder abgewimmelt werden soll.

Über die Zeit habe ich mir entsprechende Gegenstrategien erarbeitet, ein »Was-sagst-du-wenn-Plan«. Denn für die Menschen ist es immer einfacher, Gründe zu finden, warum etwas nicht gehen soll, anstatt nach Lösungen zu suchen, damit etwas geht. Und damit man hier vorwärtskommt, darf man keine soziale Phobie entwickeln. Das habe ich früh erkannt. Wer schweigt, wird übersehen. Wer seinen Mund aufmacht, wird zumindest gehört.

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9783843612449
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